Übersetzung als Spiegelbild

von Volha Hapeyeva

>> jede sprache ist übersetzung
jede sprache ist angst alleine zu bleiben <<

Diese Zeilen stammen aus einem Gedicht, das ich schon in München, aber noch auf Belarusisch geschrieben habe. Ich lag auf der Maiwiese im Hirschgarten und beobachtete das Leben der Menschen und der Insekten, der Pflanzen und der Wolken aus der Distanz, die durch die Sprachen geschaffen wurde: durch das Belarusische, das dort niemand verstand, durch das Deutsche, das für mich die vierte Sprache war, und durch die Sprache selbst als Phänomen, die manchmal so autoritär wirkt und uns in ihren Raum einschließt.

Es war zu der Zeit, als ich writer-in-exil-Stipendiatin in München war und anfing, mich an Deutsch als Sprache des Schreibens zu gewöhnen. Meinen ersten Versuch, auf Deutsch ein Gedicht zu schreiben, machte ich in Graz 2019, es war ganz pragmatisch angelegt. Ich wurde um einen Text gebeten für eine audiovisuelle Performance über den Fluss Mur, der durch Graz fließt. Da alle Materialen, die ich recherchierte, auf Deutsch waren, hatte ich mich entschlossen, das Gedicht auf Deutsch zu verfassen, statt auf Belarusisch, weil man es sowieso später ins Deutsche übertragen sollte. Seither benutze ich sowohl das Deutsche für mein Schreiben, als auch Belarusisch. Doch ich habe letztlich einen Unterschied bemerkt, was Übersetzungen angeht. Als ich 2020 ein Gedicht, das ich für Barbara Frischmuth als Hommage auf Deutsch geschrieben hatte, ins Belarusische übersetzte, klang es auch auf Belarusisch fein. Diesen Juni wollte ich neue Gedichte, die ich auf Deutsch geschrieben habe, ins Belarusische übersetzten, habe aber gespürt, dass es nicht mehr so leicht war, ich musste das Gedicht anders denken, es auf Belarusisch durchleben. Heißt das, dass ich nun eine tiefere Verbindung mit der deutschen Sprache habe oder dass ich meine Übersetzerinnenfähigkeiten verloren habe?

Wenn wir die Sprache wechseln, sagen wir von einem Übergang: sie ist ins Hindi übergangen. Als wäre es das Hinübergehen auf die andere Straßenseite, wo man Gebäude, Menschen und Bäume bemerkt, die man nicht sieht, wenn man auf der vertrauten Seite der Straße der eigenen Sprache geht. Manchmal denkt man, wie bequem es auf dieser Straßenseite ist. Es gibt einen breiteren Bürgersteig, einen Weg für Fahrräder. Die Hausnummern sind in großen Ziffern geschrieben und gut sichtbar. Hier besteht keine Notwendigkeit zu überlegen, ob jemand als Du oder als Sie angesprochen werden soll. Hier muss man Orangen nicht genauer zählen, man sagt einfach, dass es wenige oder viele von ihnen gibt. Hier muss man in einer hypothetischen Aussage nicht zeigen, ob eine Handlung möglich ist oder nicht. Mit der Zeit beginnt man jedoch, auf die andere Seite zu schauen, die einem doch vertraut und bekannt erscheint, und dann können Melancholie und Nostalgie auftreten, weil man plötzlich das dringende Bedürfnis verspürt, anzugeben, dass jemand „Sie“ und nicht mehr „Du“ ist, dass die Anzahl der Orangen wichtig ist und dass die hypothetische Welt auch eine zeitliche Dimension braucht.

Wir leben in den Städten unserer eigenen Sprache und darüber hinaus in Wohnungen, in denen wir nach Belieben jedes Möbelstück arrangieren und alle Elemente des Interieurs kombinieren (d.h. wir verwenden bestimmte Wörter und konstruieren Sätze nach unserem Geschmack). Einige glückliche Menschen haben mehrere Wohnungen, wo sie sich wahrscheinlich anders fühlen. In einer deutschen oder französischen Wohnung ist man von ungewöhnlichen Dingen umgeben, die man in seiner/ihrer belarusischen oder litauischen Wohnung überhaupt nicht hat.

Mit dem Übergang in eine andere Sprache geschieht auch eine Identitätsänderung. Diese neue Persönlichkeit hat eine andere Intonation, einen anderen Gesichtsausdruck und ein differentes Sprechtempo, andere Diskussionsthemen und Reaktionen – mit einem Wort: einen anderen Habitus, der durch die Tatsache ermöglicht wird, dass die Zeugen ihrer gegenwärtigen Sprachbildung anders sind.

Ich hörte und sah mehrere Sprachen, als ich Kind war, im Haus meiner Großeltern und Tanten: Belarusisch, Russisch, Deutsch, Französisch. Sprachen wurden zu meiner Leidenschaft. Ich hoffte, dass je mehr Sprachen ich konnte, desto besser würde ich die Menschen verstehen und desto weniger einsamer würde ich sein. Jetzt aber denke ich, dass ich immer mehr Sprachen lernte, weil ich auf der Suche nach mir selbst war, als würde mir eine neu erworbene Sprache die Chance geben, die zu werden, die ich in meiner eigenen Sprache nicht geworden bin. Oder zumindest eine Rolle zu spielen, die ich schon lange spielen wollte, ein anderes Leben zu leben.

Als Lyrikerin bin ich im Belarusischen aufgewachsen, eine der wohlklingendsten Sprachen der Welt, gleich nach Italienisch. Dieser Wohlklang – oder es mit einem linguistischen Begriff zu sagen: die Euphonie – ist eine Folge des besonderen Wechsels von Vokal- und Konsonantenlauten. Das bedeutet, auch ein reiches rhythmisches Muster zur Verfügung zu haben, das ich in meinen Gedichten benütze. Das schwierigste für mich war, mich daran zu gewöhnen, wie meine Gedichte auf Deutsch klangen. Ich muss zugeben, dass ich früher sehr streng war, zu mir, zu anderen – vor allem zu meinen Übersetzerinnen. Jetzt bin ich in der Lage, mich zu freuen, anstatt unzufrieden zu sein, wenn ich eine andere Gestalt, eine andere Klangfolge meiner Texte sehe. Seit ein paar Jahren lese ich meine Gedichte öfter auf Deutsch als auf Belarusisch vor, das hat auch sehr geholfen, mir die deutschen Übersetzungen anzueignen. Es ist also eine Frage der Gewohnheit.

Für eine Lyrikerin ist es nicht nur die Bedeutung, sondern auch der Klang, sind die Länge eines Wortes, die privaten Assoziationen wichtig, deshalb können Dichterinnen Stunden damit verbringen, das richtige Wort auszuwählen, und das richtige bedeutet nicht das logisch richtige. In einem meiner Gedichte habe ich das Wort „piatki“ (Fersen) anstelle von Füßen verwendet, weil die belarusische Variante des Wortes Fuß (stupnia) sehr medizinisch oder zu spezifisch klingt, man sagt nicht „u miane halodnyja stupni“, (ich habe kalte Füße), man würde sagen “u miane halodnyja nohi“. Das Problem mit dem Wort nohi (was auf Deutsch Bein und Fuß zusammen wäre) ist aber, dass man auf Belarusisch auch an Beine denken kann, und für mich war es wichtig, auf den unteren Teil des Beins zu deuten, deshalb habe ich das Wort „Ferse“ benutzt. Kein Wunder, dass meine Übersetzerin neugierig fragte, wieso ich das Wort Ferse benutzte. Die Fragen von Übersetzerinnen, die eigene Arbeit mit Sprachen ermöglichen solche Beobachtungen und zeigen, wie viele Entscheidungen auf einer unbewussten sprachlichen Ebene getroffen werden.

Am Anfang habe ich über Distanz gesprochen, jetzt möchte ich ihre positiven Effekte erwähnen. Manchmal braucht ein Gedicht den Abstand, und gewöhnlich ist es die Zeit, die diesen Abstand schafft. Für mich funktioniert auch die Übersetzung in diesem Sinne. Wenn ein Gedicht beim Schreiben nicht weiter geht, übersetzte ich es ins Englische, Belarusische oder Deutsche. So bekomme ich die Distanz, die mir hilft mögliche weitere Wege zu sehen oder zu verstehen, was falsch ist. Hier könnte man die Analogie mit dem Spiegel nutzen, der für die Wahrnehmung und die Bildung des „Ichs“ vor langer Zeit in der Psychoanalyse so gut beschrieben wurde. Wenn wir statt eines Individuums den Originaltext nehmen, der in den Spiegel schaut und dort sein Spiegelbild – die Übersetzung – sieht, könnte man sagen, dass der Spiegel bei der Selbsterkennung hilft, indem er mehr und weniger erfolgreiche Momente hervorhebt. Oft werden versteckte Fehler des Originals durch die Übersetzung aufgedeckt.

Manchmal vermisse ich Belarusisch sehr, dann füge ich, um mich nicht so einsam im Deutschen zu fühlen, allmählich hier und dort, ab und zu belarusische Wörter ein, wie es z.B. mit dem Titel meines Romans war – „Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber“ (Droschl, 2024). Oder die Zeile aus dem Gedicht „wenn ein vogel fortfliegt von einem ast“. Ich saß im Zug und sah einen Vogel auf den Zweigen, dann kam die erste Zeile des Gedichts auf Belarusisch “kali ptuška zliataje z haliny dreva”. Ich überlegte, wie sie wohl auf Deutsch klänge, übersetzte sie sofort und schrieb den Rest des Gedichts schon auf Deutsch. Es schien spannend, es so zu lassen, wie es kam – die erste Zeile zuerst auf Belarusisch und dann auf Deutsch.

Bei solchen hybriden Prozessen wird der Begriff Original fließender, es ist nicht mehr klar, wo das Original und wo die Übersetzung sind. Soll man über „translation without original“ oder „distorted original“ oder „second original“ sprechen? Das sind Fragen für zukünftige Recherchen. Heute bleibt die Übersetzung für mich, hermeneutisch gesehen, ein Versprechen, das Hoffnung gibt, zu verstehen und verstanden zu werden.