Die Sicht der Übersetzerin
von Cristina Vezzaro
Als Italienerin in Bozen geboren, der Hauptstadt des zweisprachigen Südtirols, übersetze ich seit je, wahrscheinlich schon, ehe ich im Alter von drei Jahren anfing, Deutsch zu lernen. Übersetzen hieß für mich, die Menschen um mich herum zu verstehen – und mich verständlich zu machen. Je mehr Sprachen ich lernte, desto mehr war zu verstehen.
Der kreative Aspekt kam erst später. 2009 übersetzte ich Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung. Seine Satzkonstruktion, der musikalische Rhythmus, die zitierte Musik, das alles war Teil meiner Stimme, ich wurde selber „Teil der Lösung“. Auf einmal flossen Sätze auf Deutsch fast von selber in mein Italienisch. Da hat es angefangen, wirklich Spaß zu machen. Da habe ich das Potenzial der literarischen Übersetzung voll erkannt – als Schreiben.
Das Verstehen ist allerdings wesentlich: Nur mit einem tiefen Verständnis kann ich den Text in meiner Sprache neu schreiben. Verstehen heißt, sehen, spüren, bemerken. Es heißt beispielsweise Alliterationen zu entdecken, den Rhythmus zu erkennen, Worte und Wiederholungen aufzuspüren, die für einen Text von zentraler Bedeutung sind, also in der Übersetzung unbedingt konsequent übertragen werden müssen. Das ist die Poetik.
Dann ist zu entscheiden: was ist Sprache und was ist Stil? Was kann ich frei bearbeiten und was soll unbedingt behalten werden? Das ist ausschlaggebend, ansonsten würden alle Autor*innen, die ich übersetze, im Italienischen ähnlich klingen. Ich gebe ihnen meine Sprache, behalte aber ihren Stil und ihre Eigenarten bei.
Meine Aufgabe sehe ich darin, sie Poetik zu erkennen, mich ihr anheimzugeben, sie zu übernehmen und so sprachlich zu fassen, dass im Italienischen Sprache und Stil in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie in der Ausgangssprache. Die Poetik drückt sich in formalen, rhythmischen und strukturellen Entscheidungen aus, in der Vorliebe einer Autorin etwa, Sätze auf eine bestimmte Weise zu konstruieren oder eine ganz eigene Metaphorik zu benutzen, ein Ausrufezeichen dort zu setzen, wo eigentlich ein Fragezeichen stehen müsste, usw.. Und dann gibt es noch das Unsichtbare. Das eigene Leben, die persönlichen Erfahrungen, die Literatur, die den geistigen Horizont einer Autorin mitgeprägt haben und ihr Beweggrund, diesen Text überhaupt über Jahre hinweg zu schreiben. Das alles wirkt untergründig auf den Text ein, bleibt jedoch meistens unausgesprochen. Beim Übersetzen muss ich eine Ahnung davon bekommen. Um die Poetik zu durchdringen, suche ich das persönliche Gespräch. Denn genau dort, wo mir etwas unklar bleibt im Text, wo ich etwas nicht ganz verstehe, stecken oft Hinweise auf Anspielungen zu anderen Autor*innen, verbergen sich Erlesenes und Erlebtes.
Dort, wo die Autor*innen im Text nicht explizit sind oder sein wollen, frage ich gern nach. Grabe ich gern nach. Denn erst, wenn ich wirklich verstehe, woher eine Formulierung oder ein Gedanke kommen, sehe ich Geschichte und Kontext dahinter und kann auch in der Übersetzung genau sein. Das heißt: Ich kann genauso wenig explizit sein. Ich kann bewusst so präzise verhüllen, wie die Autorin das in ihrer Sprache tut.
Diese Momente des Grabens in der Zusammenarbeit mit den Autor*innen sind wertvoll – und sie sind unheimlich. Denn sie sind immer auch ein Entblößen. Für mich und insbesondere für sie, die auf einmal etwas zu erkennen gibt.
Beispiele
Es ist interessant zu sehen, wie die Sprache zwischen Autor*innen zirkuliert, aber sie zirkuliert auch zwischen den Übersetzungen. Wir Übersetzer*innen schreiben die Texte in unserer Sprache, und wir sind natürlich auch selber Leser*innen. Das heisst, dass oft unsere eigenen Lektüren unsere Sprache beeinflussen.
Ein eklatantes Beispiel war in meinem Fall eine Übersetzung aus dem Französischen, und zwar Fouad Larouis L’étrange affaire du pantalon de Dassoukine.
Der französische Titel einer Erzählung der Sammlung hiess „Dislocation“: Ein marokkanischer Ingenieur kommt eines Abends nach der Arbeit nach Hause, kann aber nicht zurück zu seiner niederländischen Frau und bleibt draussen im Wald, denkend. Auf einmal fühlt er das ganze Gewicht seines Fremdseins in der niederländischen Gesellschaft – und seine eigene Einsamkeit.
Während der Begriff konkret auf einen Ort (locus) und auf eine Entfernung (dis) hinweisst, habe ich in Elena Ferrantes Neologismus „smarginatura“, also einer Art Auflösung der Konturen, genau jenes Gefühl gespürt, das die Kondition der Hauptfigur beschreibt: er weiss nicht mehr, wo er anfängt und wo er endet.
Interessanterweise ist Elena Ferrante, also die Frau die hinter diesem Pseudonym steckt, selber eine Übersetzerin. Ihr Neologismus könnte selber wieder aus ihren Lektüren/Übersetzungen in fremder Sprache kommen. Das meine ich mit dem Zirkulieren der Sprache.
dislocation -> smarginatura
Zur Übersetzung von Blaue Frau:
In der ersten Fassung der Übersetzung bleibe ich immer ziemlich nah am Text. Dem folgt oft ein Treffen mit der Autorin, um die sprachlichen Zweifel zu klären. In diesem Fall hatte ich eine extra Hilfe, da es ein Hörbuch von Blaue Frau gibt. So konnte ich meiner Übersetzung durch das vorgelesene Original direkt in der Stimme der Autorin folgen, was auch hilfreich war, um manche Dialoge besser zu verstehen. Erst dann kam ein persönliches Treffen.
ARS: “Ich glaube, die Art, wie eine Autorin Sätze baut, zeigt die Art, wie sie denkt […] Jeder hat eine eigene Art, Sätze zu bilden. Das ist körperlich, wie der Rhythmus des Atmens.“
CV: Erstens ging es also darum, den Rhythmus und die Musik des Textes zu hören und besonders auf den Satzaufbau zu achten. Das war bei diesem Text besonders naheliegend, da der erste Satz so anfängt:
BLAUE FRAU
Jede Nacht sind die Autos zu hören. Das Rauschen der Autos auf den dreispurigen Straßen und das Rascheln der Blätter am Vogelbeerbaum.
Das sind die Geräusche. (2021, 9).
DONNA BLU
Ogni notte si sentono le automobili. Il brusio delle automobili sulle strade a tre corsie e il fruscio delle foglie sul sorbo selvatico.
Questi sono i rumori. (2023, 9).
Da Übersetzung aber immer eine Transformation ist, waren natürlich auch in diesem Nah-sein Verschiebungen, zum Beispiel schon im dritten Absatz, als ich entschied, den Relativsatz (das einen Spaltbreit geöffnet ist) implizit zu halten (che è aperta di uno spiraglio).
BLAUE FRAU
Auf den Felsen am Ufer, jenseits der Birken, am Ende der Bucht erscheint die blaue Frau. Sie ist so deutlich, dass ihre Gestalt alles überstrahlt.
Das Licht fällt scharf auf die Felsen. […]
Das Wasser schwemmt die Moose auf, nährt Blaubeeren, Sumpfporst und Farne, versickert im Uferschlamm, dringt durch die Risse im Stein und steht knapp unterhalb des Asphalts der Straßen. Der Regen bringt es mit. Und das Meer, das gegen die Hafenbefestigung rollt, treibt es zurück an Land. (2021, 16)
DONNA BLU
Sugli scogli a riva, oltre le betulle, all’estremità dell’insenatura, compare la donna blu. È talmente nitida che la sua figura circonfonde tutto.
La luce cade tagliente sugli scogli.
[…]
L’acqua rigonfia il muschio, nutre mirtilli, rododendri palustri e felci, si infiltra piano nel fango a riva, penetra attraverso le fenditure nella roccia e si posa appena sotto l’asfalto delle strade. La porta la pioggia. E il mare, che si voltola contro la fortezza del porto, la riconduce verso la terraferma. (2023, 15).
CV: Ein weiterer Hinweis zur Poetik des Textes wurde allmählich klar, und war im Text selbst zu finden:
Beim Sprechen ging es nicht immer darum, alles richtig zu machen. Es ging darum, sich wohl zu fühlen, sich die Sprache gefügig zu machen, deren Logik nicht ihre war. In einer korrekten Sprache, hatte Rickie gesagt, kam jemand wie sie gar nicht vor. (2021, 160)
Meine Aufgabe als Übersetzerin bestand darin, die queering Elemente im Schreiben aktiv zu finden, um sie in der Übersetzung zu übernehmen, damit das unsichtbare, unterliegende Netz der Sprachstruktur behalten wird.
Unter diesen Elementen, ist in Blaue Frau der Übergang zwischen den Geschlechtern das Wichtigste. Während die Hauptfigur sich sucht und versucht, eine binäre Definition von Geschlecht zu überwinden, benutzt sie sowohl weibliche wie männliche Selbstbeschreibungen.
Wenn sie ihn trägt, kommt sie sich vor wie ein Naturforscher auf Expedition. (2021, 13)
Einer Naturforscherin war es nicht würdig, das Gehirn chemisch zu manipulieren. (68)
Da hatte sie den Mut gefasst, von ihren Expeditionen zu erzählen, von den geheimen Pfaden abseits der Wege, die sie als Forscherin beging, geleitet vom Blinken der Stirnlampe im geisterhaften Wald. (139)
Der Pullover war alt. Es war ihr liebster, ein Abenteuerpulli, der Pullover einer Naturforscherin (157)
Um sicher zu gehen, dass es kein Tippfehler war, habe ich die Autorin gefragt, ob das einzige Vorkommen vom männlichem Naturforscher unter diesen Beispielen gewollt sei.
ARS: Das war es, wenn auch nicht bewusst. Die Veränderung in der Bezeichnung vollzieht die innere Wandlung der Hauptfigur Adina nach. An dieser Stelle hat der Text selbst die Regie übernommen, was mir erst im Gespräch mit der Übersetzerin klar wurde.
CV: Später im Text wird auch klar, dass die Bedeutung dieser Wahl in der Semantik des Wortes liegt, als Adina die lesbische Photographin trifft, die sie fragt, was sie erforscht, worauf Adina, noch unbewusst fast, zugibt, sie erforscht ihre eigene queere Identität:
»Ich bin eine Forscherin«, sagte Adina bestimmt. »Eine Forscherin auf Expedition.«
»Und in mir erforschst du unbekanntes Terrain?«
»Genau. Die meisten kennen ja nur ihr eigenes Terrain.«
»Stimmt.« Rickies Miene hellte sich auf. »Und nicht einmal das.« (166)
Schon bevor sie ihre Queerness aktiver in Berlin erforscht, redet Adina aber mit beiden Pronomen von sich selber.
Sie ist der letzte Mohikaner, und zum letzten Mohika¬ner passt kein Nagellack. (27)
Sie wird eine Frau in Not sein. Dabei ist sie nie in ihrem Leben jemals eine Frau gewesen. Jedenfalls hat sie nie auf diese Weise an sich gedacht, kleiner Mohikaner. Sie ist auch kein Mann. (30)
Nur wenn man dieser inneren Reise der Hauptfigur durch ihre sexuelle Identität folgt, kann man den folgenden Absatz tiefer verstehen – und übersetzen. Nachdem ARS meine Deutung bestätigt hatte, konnte ich die richtigen Adjektive finden (das schwere, feste Geschlecht; die gewölbten Lippen), um das Erregtsein von beiden Geschlechtern in einem Satz zu übersetzen:
BLAUE FRAU
Im über die Wände irrenden Licht bekommt sie ihn zu fassen, den Mohikaner, der ein Gesicht hat und Hände, der Muskeln hat und Knie und einen eigenen Pulsschlag, der einen Körper hat, der ihrer ist und sich deshalb gut anfühlt, als sie mit den Fingerkuppen ihre Beine streichelt und zwischen den Beinen das schwere, feste Geschlecht, die gewölbten Lip¬pen, ein weicher Widerstand. Der Mohikaner ist da. Er ist zurück. Er ist nicht in den Wänden verschwunden.
Sie wird ruhig. Ihre Glieder bekommen eine Schwere, die neu ist, Arme und Beine sind tiefer in die Verankerung gerückt, seit es nicht mehr nur ihre Arme und Beine sind. (2021, 308)
DONNA BLU
Nella luce che vaga sui muri riesce ad afferrarlo, il Mohicano, che ha un viso e mani, che ha muscoli e ginocchia e un proprio battito del polso, che ha un corpo che è il corpo di lei e per questo è piacevole quando si sfiora le gambe con la punta delle dita, e tra le gambe il sesso ponderoso, compatto, le labbra arcuate, una morbida resistenza. Ecco il Mohicano. È tornato. Non è sparito nelle pareti.
Si calma. Le sue membra acquisiscono una ponderosità che è nuova, braccia e gambe si spingono più a fondo, da quando non sono più solo le sue braccia e le sue gambe, si radicano. (2023, 280)
Hoffentlich konnten wir die Verflechtung zwischen Sprache und Verstehen in der Zusammenarbeit zwischen Autorin und Übersetzerin an diesen wenigen Beispielen zeigen. Obwohl jeder Roman andere Herausforderungen stellt, bleibt dieser Ansatz für mich zentral.
© Cristina Vezzaro
Antje Rávik Strubel, Blaue Frau, Frankfurt, S. Fischer, 2021.
Antje Rávik Strubel, Donna blu, trad. di Cristina Vezzaro, Roma, Voland, 2023.
Fouad Laroui, L’étrange affaire du pantalon de Dassoukine, Paris, Juillard, 2012.
Fouad Laroui, Lo strano caso dei pantaloni di Dassoukine, Bracciano, Del Vecchio Editore, 2021.