Über-Setzen von einem Ufer zum anderen
von Antje Rávik Strubel
Schreiben wollte ich schon bald, nachdem ich lesen konnte, und das Lesen ist immer auch ein Übersetzen. Ich übersetze mir die Gefühlswelt einer Figur, und sie wird zu meiner eigenen. Ich versetze mich in ihre Lage. Ich verwandle mich ihr an. Oder: Ich verwandle sie mir an. Ich verwandle mich.
Spreche ich vom Lesen, vom Schreiben oder vom Übersetzen? Schon wird es unklar. Als ich zu schreiben begann, wusste ich nichts von diesen Unklarheiten, von den Übergängen, vom Verwischen der Grenzen. Ich musste erst erfahren, dass jedes Schreiben immer auch ein Übersetzen ist, jedes Übersetzen ein Schreiben. Schreibend übersetze ich all die Texte, die ich je gelesen habe und mache daraus einen eigenen. Übersetzend suche ich das beste, das passende, das klingende Wort, bestimme den Satzbau, erfinde Ton und Klang eines Textes und gebe ihm (m)eine Stimme.
Inzwischen weiß ich, dass es kein genaueres Lesen eines Textes gibt als das Übersetzen. Übersetzer*innen spüren den Kern eines Textes auf, sein Wesen, sie durchpflügen ihn bis in den geheimsten Winkel. Sie sind keiner tagesaktuellen Debatte, keinem Zeitgeist verpflichtet wie die Literaturkritik, kein Forschungsschwerpunkt, kein theoretischer Überbau lenkt sie, wie die Wissenschaft, vom reinen Textverstehen ab.
Zum Übersetzen kam ich als Leserin. Lesend wollte ich herausfinden, wie das geht mit dem Schreiben, und begann zu übersetzen. Joan Didion verführte mich dazu. Eines Tages stieß ich in einem Second-Hand-Buchladen auf einen Roman mit dem Titel „Demokratie“. Die Autorin kannte ich nicht. Ich schlug die erste Seite auf und war so gebannt, dass ich nicht nur wissen wollte, wer sie war, sondern auch, wie sie das machte, die Schärfe, diese Präzision. The light at dawn during those Pacific tests was something to see. So fängt der Roman an. Wort für Wort spürte ich übersetzend Didions Sätzen nach, im Versuch, mein Deutsch an ihr zu schärfen. Ihren Sätzen auf den Grund zu gehen, war, als würde ich mit den Händen einen Körper abtasten, um jeden Knochen zu spüren, jede Sehne, ich wollte wissen, wie Knochen und Sehnen verbunden sind und wo die Organe lagern und wie das Blut zirkuliert. Ich wollte die Machart dieses Textkörpers verstehen. Dass Joan Didion einmal so ähnlich vorgegangen war, wusste ich damals ebenfalls nicht. Didion hatte den Sätzen eines anderen Schriftstellers auf eben diese Weise nachgespürt, auch wenn sie nie eine Fremdsprache beherrschte. Zu Beginn ihrer Laufbahn schrieb sie Hemingways Sätze Wort für Wort ab, übersetzte Hemingways Englisch in ihr eigenes, um zu verstehen, wie er das machte.
Diese wenigen Einlassungen mögen bereits andeuten, woher ich komme und wie ich das sehe. Das Schreiben und das Übersetzen sind für mich nicht so verschieden. Beide Tätigkeiten werden gespeist durch genaueste Lektüre. Vernachlässigt man die Tatsache, dass beim Schreiben die Entscheidung über den Weg und seine Richtung erst noch getroffen werden muss, während beim Übersetzen ein Weg schon da ist, an dem entlang der neue Weg gepflastert wird, ist hier wie da die Fähigkeit zur Anverwandlung die Voraussetzung. Beim Schreiben wie beim Übersetzen baut sich ein Bild in einer ganz bestimmten Reihenfolge vor meinem inneren Auge auf – der eigenen Vorstellungskraft entsprungen oder der eines anderen – , und dieses Bild gilt es dann, sprachlich so zu fassen, dass es in genau dieser Reihenfolge wieder und wieder entstehen kann, auch vor dem inneren Auge anderer.
Das Risiko ist bei beiden Tätigkeiten ähnlich groß und Scheitern oder Gelingen an die Praxis des Vergleichs gebunden. Für die Schriftstellerin beruht die Glaubwürdigkeit eines literarischen Textes auf dem Vergleich mit dem, was allgemein für die Wirklichkeit gehalten wird, der Text muss der Frage standhalten: Könnte es so gewesen sein? Die Übersetzung ist gleich zwei Vergleichen ausgesetzt. Zum einen wird sie mit dem Weg verglichen, der schon da ist. Zum anderen mit der Alltags- und Literatursprache, in dessen Universum dieser neue Weg verläuft: Kann das wirklich so gesagt werden? Sollte es nicht anders lauten?
Im Akt des Schreibens werden nicht nur alltagssprachliche Gedanken in eine Literatursprache überführt, sondern auch Gedanken und Formulierungen aus dem persönlichen literarischen Universum in Eigenes verwandelt; ein Universum, dessen Grundlage wiederum das Übertragen und Übersetzen ist, da das Deutschsprachige nur ein kleines Fleckchen des gewaltigen literarischen Raums ausmacht. Meine auf Deutsch geschriebenen Romane werden durch Sprachen, die mir zugänglich sind, das Englische und das Schwedische, gestretcht und gestresst, aber auch durch das erfundene Deutsch anderer Übersetzer*innen. Ich bin sehr einverstanden mit Roland Barthes, der die Arbeit einer Autorin in der Kombination von Schreibweisen sieht, weil für ihn Texte multidimensionale Räume verschiedenster kultureller Schreibweisen darstellen und sich der Vorgang des Schreibens nicht aus einem inneren Genius, sondern aus einem immensen Wörterbuch speist, bei dem aus allen Richtungen in alle übersetzt und zitiert werden kann. Kurz: Alles Schreiben ist Variation. Und mit dem Übersetzen verhält es sich so ähnlich.
Besitze ich als Übersetzerin nicht das Gehör einer Schriftstellerin, höre ich nicht, wie die Erzählstimme fließt oder wie ein Dialog klingt, bleiben die Figuren Papier. Und weiß ich als Schriftstellerin nicht, dass es für jedes Wort immer ein besseres gibt, dass mein erster Impuls nicht schon Resultat, sondern vorerst nur Richtung ist, fehlen meinem Text Tiefe und Raum.
Fließen ist ein gutes Stichwort. Vom Sprachfluss ist gewöhnlich die Rede. Davon, dass wir alle von Sprache durchdrungen sind, dass sie uns überhaupt erst hervorbringt, denn wie könnten wir sonst von uns wissen, wie fühlen, wenn nicht mithilfe der Worte. Warum also nicht das alte Bild vom Fluss bemühen, dem ich mich schreibend anvertraue, wobei es mir Worte und Sätze zuspült – und die zugespülten sind immer interessanter als die gesuchten. „Der Fluss spiegelte, was immer er von Himmel, Brücke und brennendem Baum auswählte. Dort hätte man rund um die Uhr so in Gedanken versunken sitzen können“, schreibt Virginia Woolf in ihrem großen Essay Ein Zimmer für sich allein. „Die Gedanken – um einen stolzeren Namen zu verwenden, als sie es verdienten – hatten ihre Angelschnur in den Strom hinuntergelassen.“
Dieser Sprachfluss, aus dem Woolf ihre Ideen fischt und ich meine, erweitert sich mit jedem Buch, das ich übersetze. Untiefen erschließen sich, Sandbänke tauchen auf, Strömungen, Stromschnellen werden sichtbar, Fische zuppeln am Köder der Angel, und all das schlägt sich im entstehenden Text nieder. Manchmal als Andeutung, ein Kräuseln an der Oberfläche, manchmal in der Struktur oder bis in die Wortwahl hinwein. Manchmal spült mir der Fluss ein Wort in fremder Sprache zu, das passt wie kein deutsches. Dann muss ich mich umständlich auf die Suche nach einem Ersatz machen, der dem, was gesagt werden soll, ungefähr nahekommt. Ist das noch Schreiben oder ist das schon Übersetzen?
Ein Hin und Her jedenfalls, ein Hüber und Nüber, wobei schwer zu sagen ist, was noch das Hier und was schon das Dort ist.
Über den Fluss und in die Sprache: Nicht von ungefähr haben wir unsere gemeinsame Stunde so überschrieben. Nicht nur ist die Idee des Über-Setzens von einem Ufer zum anderen das klassische Bild, wenn es um den Transport sprachlicher Fracht von einer Kultur in die andere geht. Der Titel ist außerdem spielerische Variation auf einen Romantitel von Hemingway, der im englischen lautet Across the River and Into the Trees und selbst wieder Variation ist und zwar auf den Titel eines Gedichts von Lydia Maria Child, aus dem, ebenfalls variierend, ein Weihnachtslied wurde: Over the River and Through the Woods. Ins Deutsche gebracht, ruft Über den Fluss und in die Wälder ein Echo im Titel meines Episodenromans In den Wäldern des menschlichen Herzens hervor, der ein subersives Spiel mit der amerikanischen Short Story im Allgemeinen und mit Hemingways Short Stories im Besonderen treibt.
Von einem Ufer zum anderen; das gilt eben auch für das Schreiben. Und wird das eigene Schreiben, das voller Übersetzung steckt, von Übersetzer*innen an ein fremdes Ufer getragen, lässt sich die Frage nach dem Original zuweilen nur noch schwer beantworten. Auch ist es oft so, als würde mein Text erst drüben in seine wahre Gestalt finden. In der unvertrauten Landschaft ist er für mich deutlicher erkennbar. Er ist eben nicht mehr das Gleiche. Figuren, die quisquiglie sagen, wenn sie Kinkerlitzchen meinen, haben sich schon verwandelt. In Sprachen wie dem Italienischen, derer ich nicht mächtig bin, kann ich die neue Gestalt nur ahnen. Doch im Gespräch, im Beantworten ganz spezieller Fragen, in der Diskussion über ein Wort, eine Bedeutung entsteht ein Umriss, ergibt sich eine flüchtige Erscheinung, eine Luftspiegelung, die nur wie im Traum noch ans Original erinnert, entworfen im Dialog zwischen der Übersetzerin und mir.
© Antje Rávik Strubel