Der unsichtbare Übersetzer
von Halyna Petrosanyak
Die Gefahr eines Missverständnisses ist immer hoch, selbst da, wo wir eine gemeinsame Muttersprache sprechen, selbst im Kontakt mit demjenigen, mit welchem wir Tisch und Bett teilen. Jeder von uns ist ja ein Träger eines individuellen einmaligen Lexikons, und die Bedeutung jedes Wortes in diesem Lexikon ist individuell gefärbt. Jedes Wort ruft einmalige, von unserer persönlichen Lebenserfahrung bestimmte Assoziationen hervor.
In seinem autobiographischen Roman „Wasserträger Gottes“ schreibt Manès Sperber, der jüdische deutschsprachige Schriftsteller, welcher aus einem jüdischen Stetl im Westen der Ukraine stammt und mit mehreren Sprachen aufgewachsen ist:
…Wasser, woda, Majim bedeuten das gleiche, ebenso wie aqua, eau und water. Aber ich ahnte recht bald, dass in jedem dieser Worte etwas mitschwang, das vielleicht nicht wirklich in ihm steckte, aber von ihm angerufen, mitgenannt wurde. Das slawische woda ist heute noch für mich eine Flüssigkeit, die man aus dem Brunnen schöpft, das hebräische Majim sprudelt aus einer Quelle, das deutsche «Wasser» kommt aus dem Wasserhahn.
Jeder von uns kennt dieses von Manès Sperber so poetisch geschilderte Phänomen. Es kann nicht nur die literarische Übersetzung, sondern auch die persönliche Verständigung kompliziert machen. Da nähern wir uns schon dem Problem der Unübersetzbarkeit.
Natürlich existiert das Phänomen der Unübersetzbarkeit, wenn man Übersetzung ganz genau nehmen will. Der hervorragende zeitgenössische ukrainische Übersetzer aus den klassischen Sprachen, Andri Sodomora, meint, man könne Goethes Miniatur „Wanderers Nachtlied“ nicht angemessen ins Ukrainische übersetzen, weil die Lautmalerei von Goethe – vor allem das tiefe und dunkle „U“ kommt in beinahe jeder Zeile des Gedichtes und suggeriert vollkommene Ruhe und Dunkelheit einer Nacht – etwas bildet, was mit den Mitteln einer anderen Sprache nicht ohne Verlust der Klang- und Sinneinigkeit wiedergegeben werden kann.
Karl Kraus, der bekannte österreichische Schriftsteller und Satiriker, hat geschrieben: Wahres Über-Setzen wäre ein Nachdichten, das sich durch doppelte Bindung mit weit größerer Verantwortlichkeit zu beglaubigen hätte als das Dichten im eigenen Erlebnisraum.
Die Worte von Karl Kraus habe ich einst sehr ernst genommen und vor der großen Verantwortlichkeit entschieden, mich lieber auf die Übersetzungen von Prosawerken zu konzentrieren und im eigenen Erlebnisraum zu dichten. Bis vor einem Jahr habe ich nur wenige fremde Gedichte aus dem Deutschen ins Ukrainische übersetzt. Aber die Versuchung ist gross…
Und das ist auch gut so. Die Unübersetzbarkeit soll uns keine Angst machen. Man soll immer wieder probieren, aber dabei für sich die Worte eines Klassikers als Wegweiser nehmen: Der beste Übersetzer ist derjenige, den man nicht sieht! Der Übersetzer muss unsichtbar zwischen einem fremdsprachigen Autor und dem Leser stehen. Die Übersetzung eines Gedichtes bleibt immer eine anspruchsvolle Aufgabe. Juri Andruchowytsch meint: Um eine gute Übersetzung zu bekommen, muss man mit den Wörtern einer anderen Sprache fehlerlos umgehen. Man muss den Rhythmus, den Klang, die Bedeutung, die Sensibilität, das Unter- und Überbewusste zutreffen und, am wichtigsten, die Auslassungen und Pausen, das, was zwischen den Zeilen und Wörtern steckt. Hier kann nur ein Wunder helfen.
Als Übersetzer kann man jeden von uns betrachten, der nicht in dem Land lebt, wo er geboren wurde. Jeder, der sich bemüht, die eigene innere Welt an die äußere anzupassen, über-setzt sich selbst in eine neue Heimat. Es soll keinesfalls so sein, dass es wie im Italienischen (traduttore = Übersetzter; traditore = Verräter) zu einer verhängnisvollen Verwechslung kommen kann. Ein Übersetzer darf nicht zum Verräter werden, sondern er soll ein Vermittler sein im besten Sinne dieses Wortes.
© Halyna Petrosanyak