Ein Gedankenspiel sprachlicher Beziehungen

von Róža Domašcyna

Smišene zboží – Gemischtwarenhandlung
Směšne zbožo – lächerliches Glück
„Mácht nix šlank, áber satt!“
Róža Domašcyna

Immer wieder kommt mir eine Entdeckung aus den Sechzigern in den Sinn. Ich bin ein Kind, und wir machen einen Klassenausflug ins Tschechische, es ist Frühling und die Klasse ist ins Gebirge gefahren – also, ein Kind steht im Regen vor einem Kiosk, der wie verloren dasteht. Das Kind liest die Aufschrift über dem Eingang: Smišene zboží.

Das Kind trägt einen Regenschirm, zu dem es zu Haus Schirm sagt, in der Schule předešćnik und seit der vierten Klasse nach dem mehr slawischen Sprachreglement předestnik.

Zu předestnik hat es keine Beziehung. Es ist ein Fremdwort, zu dem sich nichts einstellen will – pře dest von deska, Brett?

Was hat ein Brett mit dem Regen zu tun?

Das Kind heißt Rosel. Jedenfalls wird es so gerufen. Es weiß, daß es Rosa heißt, es weiß, daß es in der Schule Róža heißt, es weiß, daß das richtig ist. Es weiß, daß das, was zu Hause gesagt wird, falsch ist. Es spricht so, wie es zu Hause gesagt wird. Zu Hause wird nicht smišene zboží gesagt, sondern směšne zbožo. Und es weiß, was směšne ist, und was zbožo. Es transformiert sich seine Wahrheit zurecht: směšne zbožo – das lächerliche Glück.

In solch einem Kiosk also gibt es das Glück. Für Kronen. Das Kind hat Kronen. Es tritt ein und kauft einen Kaugummi, einen žwjenkačk, der in buntes Papier gewickelt ist.

Der Kaugummi schmeckt nach dem Westen, denn zu Hause gibt es keine Kaugummis im Laden. Im Tschechischen ist man fast schon im Westen. Das merkt man nicht nur am Geschmack. Auch der Duft im Kiosk weist darauf hin. Die Seife, die nach Ocean duftet, der Kaffee, der nicht nach Muggefuk riecht. Das Kind schlußfolgert: Im Westen muß alles bunter, süßer und schöner sein. Es hat eine Erfahrung gemacht, eine Erfahrung im übersetzten Sinn.

Kein Wunder, daß das Glück auf dem Stirnbalken des Kioskes angeschrieben ist.

Doch wieso ist das Glück, sorbisch gedacht, lächerlich?

Vielleicht deswegen, weil die Sprache falsch ist, in der es sich das lächerliche Glück ausmalt, die Haussprache mit Rosel und předešćnik. Also sagt das Kind Róža und předestnik und weiß, daß es im gleichen Atemzug Rosa und Regenschirm sagen wird.

Das aber hindert es nicht, die Aufschrift in Tschechisch sorbisch für sich zu interpretieren.

Das Glück in den Fundstücken der Sprache zu entdecken, macht sich rar. Solche Sprache lebt auf herrschaftslosem Gebiet. Über solche Sprache stolpert man.

Dabei wird sie geschöpft an der Peripherie. An jenem Kiosk zum Beispiel, wo man durch eine kleine Verrückung die Sprache neu erfinden und mit bislang ungeahnten Inhalten füllen kann.

Das Glück ist lächerlich und genau das gibt es hier!

Gibt es in diesem Kiosk etwa so ein Glück, wie Hans im Glück es gefunden hat, ein austauschbares Anfaßbares?

Ja.

Dem ging ich nach. Und stets, wenn ich in diese Gegend kam, war die Suche nach jener Aufschrift vorprogrammiert.

Die Suche machte zunehmend Spaß. Worte, die ähnlich klangen, wurde abgefragt und manchmal bis auf den Wortstamm abgeschält. Mit Versen, in denen sich der Sinn der Dinge durch den Einsatz von Austauschbuchstaben oder durch Wortteilung änderte.

Mit meiner Freundin, deren Eltern nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Tschechischen vertrieben und in das kleine Lausitzer Dorf meiner Kindheit gekommen waren, dichtete ich Litaneien, die aus Versatzstücken in Schulsorbisch, Hochdeutsch und auch der wendischen und deutschen Sprache der Straße, sowie Schlesisch bestanden.

Das hörte sich nicht immer stubenrein an und ihre Großmutter, die Sidonia hieß und kein Wort wendisch zu verstehen vorgab, meinte mehr als einmal: „Werdt ok nich so garschtlich sein, zueinand, ihr Görn!“

Sie hat uns in der Freude am Erfinden mißverstanden.

Folgerungen aus diesem Tun ließen mich nicht mehr los.

Daran hatte auch meine Großmutter, die Märchenerzählerin gewesen ist – das war noch kurz bevor die Fernseher über uns kamen – einen ziemlichen Anteil. Je nach Tagesverfassung änderte sie die Märchen ab. An was ich mich noch genau erinnern kann, ist die Sprache ihrer Hände und der rasch wechselnde Ausdruck ihres Gesichtes. Nachdem ich lesen gelernt hatte und z. B. „Das Waldhaus“ nachgelesen hatte, begann ich sie zu korrigieren. Dann wechselte sie die Sprache und behauptete, in dieser Sprache sei es ein wendisches Märchen. Weil es im Wendischen zwei Schriftsprachen gibt, von denen ich nur eine beherrsche, sowie mehrere Dialekte, war ich damit überstimmt und sie konnte so weitermachen.

Es kamen nicht nur wir Familienkinder, um ihr zuzuhören, es kamen Waldarbeiter und Nachbarn, denen sie Muggefuk kochte, es kamen ganze Schulklassen, denen sie Bonbons anbot, die sie aus den Taschen ihres schwarzen Trachtenrockes holte. Die Tracht hatte sie geerbt. Sie trug sie täglich. Als Witwe mit neun Kindern konnte sie sich keine Kleider leisten. Sie trug die Sachen ab. Mit zur Schau gesteller Folklore hatte das nichts zu tun.

In Wendisch erfand sie oft neue Titel für die Märchen. Das Waldhaus hieß Krosnodej. Später sagte man mir im Sorbischen, daß sie das falsch erzählt hätte. Das Märchen hieße Kosmatej, was von „behaart“ herkommt und dem buckligen Männchen aus dem Waldhaus am ehesten entspricht, auch gäbe es auch in sorbischer Sprache Aufzeichnungen darüber.

Bei ihr hieß es also Krosnodej und kam mir stets wie eine Zauberformel vor, weil dieses Wort auch im Sorbischen nichts Genaues bezeichnet und nur an ein mechanisches Arbeitsmittel erinnert.

Apropos mechanisches Arbeitsmittel. Ist es nicht vielmehr so, wie es das Sprichwort weiß: Das wurstene Ende der Legende riß, am Baum hängt noch der Zipfel einer Mär.

Falsche Fährte

sie trat in die Fußtapfen die sie führten
kam durch den Wald und hinterließ keine Spur
gut genährt wie sie war mit Fuchsmilch gesalbt
zwei Mohnkapseln trug sie unterm Hemd
bekam sie ihren Rappel warf sie die Beine hoch

es ging ihr total ab daß das Morgen schon heut war
sie war wählerisch war zurechtgemacht
daß jeder Popanz erblaßte so kam sie an eine Hütte
und trat ein

hier war alles komplett mit Kühlschrank und Waschmaschine
die rissen den Rachen auf und warteten aufs Reinstopfen
doch das Mädel dachte nicht daran sie drehte sich
um die eigene Achse gab ihrem Affen Zucker
und fantasierte sich ein Drachensteigen

da klopfte es

schon wollte sie öffnen und leeres Stroh dreschen
da besann sie sich daß Klopfer
einem die Taschen umdrehen können so fragte sie
die Maschine und den Schrank um Rat

die wußten nichts zu sagen außer: hast nichts gegeben
hast selbst geschleckt so koch es selber aus

und da sie auf Abwechslung aus war fegte sie
die Bedenken beiseite zeigte ihre Apfelbacken
und das Katzenfellchen hob die Füße
räkelte sich und stelzte in Richtung Falle

der Klopfer ein Lumpenkerl bekam das Flattern
machte Augen wie sechseckige Räder
vergaß die Rolle des Scheinheils pfiff
auf den Safe auf der Stelle

forderte er daß sie ihm die Schuhe öffne
die Socken abstreif schon beim Eintreten
wollte er das Hoppereiter

bis es dämmerte im Pechkübel gerieten sie nicht
außer Atem Kühlschränkchenmaschinchen turtelnd

und die Leute die auf schmutzige Wäsche aus waren
warteten umsonst auf den Surrton von Schrank
und Maschine auf eine Frau sich in Seide präsentiert
und einen Mann der die Hütte umbaut zur Burg

So machte ich mir den eignen Reim drauf!

Gegebenheiten in Frage zu stellen, ist leicht. So erging es mir z. B. in Bratislava, wo ich 1985 einen Sommerkurs belegte und wegen der nicht unerheblichen Ähnlichkeit der Sprache mit dem Sorbischen mit der Vorstellung flirtete, daß dort alle sorbisch sprächen. Ein lautes Sorbisch in des Straßen einer ansehnlichen Stadt und keiner stößt sich dran – unerhört!

Dabei wußte ich doch, was ich hörte.

Bei meinen täglichen Übungsrundgängen in der Geschäftsstraße wurde mir auf meine in Slowakisch gestellten Fragen zumeist deutsch geantwortet.

Und als ich letztlich einen Rucksack kaufen wollte, um den Transport von Lyrikbänden zu bewerkstelligen, wollte mir das slowakische Wort für Rucksack nicht einfallen.

Ich überlegte krampfhaft, brachte das Wort nachribjetnik ins Spiel, von dem ich wußte, daß es auch im Sorbischen eine Nachahmung aus einer wohl anderen slawischen Sprache ist. Schließlich war die Verkäuferin am Ende ihrer Geduld und ich verzweifelt – ich griff nach dem mir gängigstem Wort, verlangte einen Rucksack.

Damit lag ich richtig, auch was das slowakische Wort betraf.

Die Amplitude der Worte verrät die Kindheitsgegend und der Wortschatz die Herrschaftsverhältnisse.

Mein Verstand signalisiert: die Herrschaftsverhältnisse in der Lausitz sind dir bekannt. Aber mein Empfinden sagt: wenn sie von „unserem“ König reden, geht es dich nichts an, denn unseren König gibt es nur in der Sage. Wenn sie von „unseren Siegen“ reden, geht es dich nichts an, denn unsere Sprache hat nicht einmal ein Wort für Sieg und der Feind, njepřećel, der Nichtfreund, schleift seinen zweiten Teil, nämlich dieses přećel – Freund – schwer hinter sich her. Wie kann man Feind denken, wenn man Freund sagt?

Wenn also eine Sprache nicht hieb- und stichfest ist, gerät sie ins Abseits. Wo nicht mit Ketten gerasselt wird, kann keine Bedrohung stattfinden.

Egal, ob die Sprache über einen beweglichen Dual verfügt, wie im Sorbischen, der noch unterscheidet, ob da zwei Frauen oder ein Mann und eine Frau gehen, bzw. zwei Männer. Eine kleine Wendung in der Endung erspart großräumige Umschreibungen. Da diese Sprache auch ohne Artikel auskommt, entspricht sie theoretisch den Anforderungen der ansteigenden Sprachgeschwindigkeit, die sich durch den Einsatz von Wortversatzstücken aus der gängigsten Weltsprache, vermischt mit der jeweiligen Territorialsprache, ergibt.

Aus solcher Art Vermischung, dem Verzicht auf eingeschobene Nebensätze oder Hauptsätze, dem Verzicht der Nennung der Vornamen und Umschreibungen und der Favorisierung von Faktenaufzählungen bezieht diese Sprache ihre Geschwindigkeit.

Aufzählungen als Informationen, Informationen als Abrechnungen.

Je knapper, je wahrer?

Geht man dem nach, trifft es manchmal sogar zu. Z. B. sind in den „Prager Bierstuben“ in Dresden die Servietten in gar wunderlicher Sprache bedruckt:

„Mácht nix šlank, áber satt!“ steht dort zu lesen.

Auf der Rückseite noch ein kleiner tschechisch-deutscher Wortschatz, Worte, wie „jěstě jedno“ (noch eins) oder Becherovka. Das Wort gefällt mir besonders, weil es keine Übersetzung braucht. Überhaupt – diese Sprachverschränkung, dieses halb tschechisch geschriebene Deutsch mobilisierte in mir wieder jenen Kinderblick.

Wie anders folgende Entdeckung: Neulich las ich in einem Katalog: Gartenmöbel für Kids. Lange dachte ich darüber nach, wieso hier nicht Kinder genannt wurden, denn die Möbel waren in Kinderhöhe. Ist das Wort Kinder in der deutschen Sprache schon zu brav? Wird es nun bald Möbel in Kidshöhe heißen? Und wie sollte man das dann im Sorbischen machen – meble za kidsow? Oder doch meble za kids? Aber was macht man, wenn man einen Tisch und zwei Stühle anpreist, also den Dual anwenden müßte? Meble za kidsaj? Meble kidsomaj? Das klingt sehr neu und könnte somit Chancen haben – wenn es denn mal einen Katalog in sorbischer Sprache gäbe.

Weil ich das aber nicht annehme, verwerfe ich die Bedenken und gehe dem Wort Chance nach, das es auch bis ins Sorbische geschafft hat. Wie viele Internationalismen, Germanismen oder Sächsizismen – und umgekehrt.

Hat eine Sprache wenig Chancen, angewandt zu werden, erliegen die Wörterbücher einem fatalen Trend des „Reinemachens“. Egal, in welcher Sprache.

Dem entkomme ich, wenn ich den Blick eines Kindes ansetze, diese kleine Verschiebung des Gelesenen zum Gehörten hin vollziehe, also in dem Sinne, wie ich in smišene zboží das lächerliche Glück entziffere und nicht den Gemischtwarenladen, was es in tschechischer Sprache wirklich heißt.

Trotzdem: meble za kidsow – wenn ich mir es auch innerlich mit Kinder oder dźěći übersetze, stellt keinen neuen Sinnzusammenhang dar, eröffnet mir keinen bislag ungeöffneten Raum. Spricht mich also nur visuell an. Etwa so, wie Kinder Folgerungen ausleben. Sie spielen „als ob…“.

Papagei, Opagei, Mamagei.

Sie hören ins Wort hinein. Daran ändert auch kein Hochdeutsch etwas, oder Obersorbisch. Keine Russifizierung oder Gemanisierung.

Die Aufschrift SPAR über einem Laden, neulich. Da weiß mein Gehirn in Deutsch: Sparen. Und in Sorbisch weiß es: Schlaf. Denn spar bedeutet genau das.

Was wiederum die Frage nach dem käuflichen Schlaf aufwerfen könnte. Das aber führt in diesem Text zu weit.

Die Quelle der Fantasie sprudelt. Manchmal braucht man nicht einmal die Sprache zu wechseln, um das zu entdecken. In einem Werbeprospekt wird eine Automarke mit einer anderen „genetisch nahen“ verglichen, denn auch dieses Fahrzeug hat, wie dort stand, ein Dieselherz.

Solche Art Wertschätzung wird z. B. in den deutschsprachigen Dialekten als auch im Sorbischen – im Dialekt wie in der Schriftsprache – oft mit Diminutiven ausgedrückt.

Die Hanka ist in der sorbischen Sprache also nicht das etwas linkische Hannchen, sondern eine Frau, die man gern anschaut und der Frycko ist ein kleiner süßer Fratz und nicht das depperte Fritzchen im Deutschen und schon gar nicht der Fritz/die Fritzn, was im Russischen kursiert und dem Iwan/den Iwans im Deutschen gleichkommt.

Mit Überlappungen hat es die Sprache stets zu tun, nicht nur im politischen Kontext.

Auch Fachsprachen oder die Sprache der Werbung lassen falsche Folgerungen zu.

Lasen Sie mich kurz einigen Begriffen aus der Fachsprache des Bergmännischen nachgehen. Denn das habe ich einst studiert.

Glanzhaut – das kann doch nur etwas Sinnliches sein – kämen Sie drauf, daß die Oberfläche des Briketts gemeint ist?

Tagebauschutzgebiet – etwas soll also geschützt werden – vor wem und für wen? Gemeint ist ein Territorium, das abgebaggert werden soll, um Braunkohle im Tagebau zu gewinnen. Orte, die von der Landkarte verschwinden.

Worten können zu Unworten mutieren. Manche sind nach und nach, wie unter der Hand, wieder verwendbar.

So geschehen mit dem Wort wendisch.

Die Generation meiner Eltern mochte dieses Wort nicht. Erinnerte es sie doch an Verbote, Strafe und Minderwertigkeit. Eine Minderwertigkeit die mittels der deutschsprachigen Selbstbezeichnung auf ihren Selbstbegriff übergegangen ist.

In der Schule verboten, bei Anwendung bestraft, beim laut werden ausgelacht.

Dieses Trauma scheint erst zwei Generationen später etwas nachzulassen. Jetzt, wo im zweisprachigen Domowina-Verlag in Bautzen wieder Titel, wie „Der Niedersorben Wendisch“ zu lesen sind.

Mir jedenfalls wurde in der Schule beigebracht, sorbisch wäre richtig und wendisch sei falsch. Dabei hat meine Großmutter, wenn sie jemand in deutscher Sprache danach fragte, stets behauptet, sie rede wendisch und habe das immer schon getan. „In der Schule könnt ihr sorbisch lernen! Zu Hause sprechen wir wendisch!“

So sagte ich zur Großmutter auf Deutsch, daß ich wendisch spreche, in der Schule sprach ich sorbisch, was sorbisch serbski heißt, und zu Hause sowieso dialektal serski, den wendiski gibt es nicht.

Das ist die einfache Erklärung.

Die Sprache des Menschen erneuert sich durch die Zeiten, gleich einer Frucht. Sie „wächst wieder aus dem Keim“, wie es Gottfried Benn sagte, sie „erfährt einen bruchstückhaften Wiederaufbau“ und „ist durchsetzt mit einzelnen Erregungsherden, die sie innerlich erneuern“.

Aber eine Sprache, die, wie ich schon sagte, kein Wort für Sieg hat und nur ein Wort für Gewinn – dobyće – kann keinen Sieger hervorbringen, nur einen Gewinner.

Sollte man das Wort předobyće dafür favorisieren? Předobyće bedeutet überwinden oder bewältigen. Eine Krankheit kann man überwinden und ein Problem bewältigen. Wenn man dem Wort předobyće wortwörtlich nachgeht, kommt man zum Ausdruck Übergewinn.

Das deutet auf Mehrwert und Gewinnspanne.

Der Gewinn im Materiellen zieht ein kurzes Glück nach sich. Lottoglück. Hans-im-Glück-Glück. Vielleicht auch ein kurzes Glück der sprachlichen Bedeutungstarnung.

Bis ein Kind kommt und staunend stehen bleibt.

Dabei kennt es schon eine ganze Menge.

Zum Beispiel weiß es, was „wir“ bedeutet. Es bedeutet, daß die Jungs in der Klasse die Freundin verspotten, weil sie nicht seit jeher „wir“ ist. Die Kinder der Sportlehrers werden verspottet, weil sie zwar wendisch reden, aber nicht die Religion haben, die „wir“ haben, dagegen wird das „wir“ in der Stadt verspottet, wenn die Sprache laut wird, die aufs Anderssein hinweist. Das Anderssein ist doppelt falsch, denn die Sprache wird als slawisch erkannt und das mag man nicht, schon genug, daß in der Schule russisch gelernt werden muß. Dazu weiß man, daß jene, die „wie wir“ sprechen, „vom Dorf“ sind. Das „wir“ wird in der Stadt verspottet, weil die Kleidung der Mütter auf eine andere Religion hinweist, als auf die, die in der Stadt und in dem Staat laut wird. Das „wir“ bedeutet weder Land, Stadt noch Schule. „Wir“ ist nur die Familie im Ort.

So kennt das Kind zum Beispiel den großnan oder den burtstag. Es weiß, was laswatsch ausmacht, nämlich lesen, oder die fauce (was sächsisch ist und vom sorbischen fawca kommt, was Ohrfeige bedeutet). Und es weiß auch, daß man seinen merksch anstrengen muß (was wiederum sächsisch ist und vom sorbischen měrkuš kommt, was im Hochdeutschen Gedächtnis heißt). Und es weiß, daß einer, der im Sächsischen mährt sorbisch mjerwje. Das bedeutet im Hochdeutschen, daß er sich zu lange Zeit lässt.

So zögert es nicht länger und sagt sich „ja“ und sagt sich „haj“, bevor es den Gemischtwarenladen betritt.

Indem es „ja“ sagt hat es im Deutschen zugestimmt und im Sorbischen sich selbst bejaht. Indem es „haj“ sagt, hat es im Sorbischen zugestimmt. Was übrigend im Japanischen das gleiche bedeutet. Dem ich aber hier nicht weiter nachgehen werde.

Nachgehen will ich noch ein wenig der Sprache der Dichtung und einem Buchstaben, der mich fasziniert. Dem Z – nicht, weil es das letzte Zeichen im deutschsprachigen Alphabet ist (im sorbischsprachigen übrigens nicht).

Im Sorbischen wird das Z wie ein set ausgesprochen. Und mit diesem Z beginnt zum Beispiel das Wort zelene. Zelene bedeutet grün.

Mit dem Buchstaben Zet und dem Wort grün hat ein Gedicht von Jurij Khěžka (1917-1944) zu tun. Es ist eins seiner bekanntesten Gedichte und mir das liebste.

Khěžka schrieb in Obersorbisch und zuletzt in Tschechisch. Er studierte in Prag, auch Germanistik, und gab eine Untergrundzeitschrift heraus. In Prag wollte er die tschechische Staatsbürgerschaft annehmen und wurde durch die Gestapo verhaftet.

Er wurde in Dresden inhaftiert und in die Wehrmacht gesteckt. Schließlich desertierte er in Serbien. Somit erlitt er ein ähnliches Schicksal wie bespielsweise der ungarische Dichter Miklós Radnóti (1909-1944).

In Deutschland kennt kaum jemand seine Gedichte.

Ich lese das Gedicht im Original.

Zelene zet

Bjez erotiskich mysličkow w duši,
měnjacych starosćow
ja tebje mjelčo lubowach,
pismiko zet, štož za tobu:
zelenosć drasty młodych brězow,
zelenosć wódnych hłubinow,
cyrkwinskich wěžow,
zelenosć krajow
ženje njewidźanych rjanosćow.

W njebjesach rjenje,
tam zelenosć rajska
wěčnje so žórli,
ćiše sej zynči: zelena rjanosć –
zelene zet.

– Jurij Khěžka, 2. 3. 1937

Das Zet ist nicht das Gej.

Aber das Gehen im Grünen erweckt im Deutschen die gleichen Assoziationen wie im Sorbischen. Zelene hat mit zyncec zu tun, mit Summen, mit Gurren, mit Landschaft, und mit dem Hoffen, wie es im Deutschen heißt. So soll dem Grün an sich getraut werden – und ihm nachgegangen.

Das grüne Gej

Bar erotischer Ansinnen,
dieser unsteten Ärgernisse,
liebe ich ganz für mich, dich,
Buchstabe Gej, liebe das Deine:
das Grün der Gewänder junger Birken,
das Grün der Untiefen,
Kirchtürme,
Länder,
der nie geschauten Schönheiten.

Wie das aus allen Himmeln quillt,
ein Paradiesnes,
wie es summt,
leise gurrt: grüne Gnade –
grünes Gej.

(aus dem Obersorbischen nachgedichtet von Róža Domašcyna)

Dieses und eine Auswahl weiterer Gedichte von Jurij Khěžka erschienen Ende 1998 im Verlag Christian Thanhäuser in Österreich in einer zweisprachigen Ausgabe.