Zur Praxis der Gedichtübertragung

von Mirko Bonné

Die Übertragung eines Gedichts sichert den wörtlichen Zweifel. Sie ermöglicht innige Lektüre, und sie legitimiert zugleich die Sehnsucht nach literarischer Imitation. Deshalb wohl übersetze ich, seit ich schreibe: Nur die Arbeit an einer Übersetzung lässt mich gehen und dabei schreiben. So entstanden zündende Anfangsfassungen von vielen meiner Yeats-Übertragungen im Freien während Spaziergängen, und lange hat sich so das Glück erhalten, auf dann im wahren Wortsinn bestimmten Wegen gehen zu können, die für mich mit einzelnen, dort gefundenen oder verworfenen Versen verbunden blieben: „Nie sind sie stumm, die Flatterblätter der alten Buchen dort“ heißt es am Schluss von jeder der sechs Strophen in Yeats’ Ballade „Der Wahn des König Goll“, „The Madness of King Goll„. „They will not hush, the leaves a-flutter round me, the beech leaves old„: Ich kann mich an den Waldweg erinnern, auf dem ich mir einen Nachmittag lang vor acht Jahren den Versfuß, den Klanglauf, die Stopps und Volten dieses Refrains durch den Kopf gehen ließ, bis ich der Übertragung vertraute und mich ihr überließ.

Ein Gedicht zu übersetzen, heißt in Austausch zu treten – mit den sprachmusikalischen Möglichkeiten einer fremden wie denen der eigenen Sprache. Man hört sie, spielt sie – und ist zugleich Instrument der Musik der Bedeutungen. Fünf Möglichkeiten, alle offen: erstens übertragen, sodass das Original verständlicher wird, zweitens übersetzen, sodass ein im besten Fall ebenbürtiges Gedicht in eigener Sprache entsteht, drittens nachdichten, sodass die Fortschreibung in den Vordergrund tritt, viertens kommentieren, sodass man umkreist und kreuzt, vielleicht sogar tief hinein, doch vor der Musik die Segel streicht, oder, fünftens und letztens und nicht selten am besten: es bleiben lassen.

Übersetzen heißt insofern, den Austausch zu suchen nicht nur mit dem Charakter des zu übertragenden Gedichts, sondern ebenso dem seines Dichters: Jede Gedichtübersetzung wirft neben sprachlichen Rätseln und Geheimnissen sowie Lösungen und Lossagungen die Frage nach der Balance auf und wie ich sie einsetzen kann, um den beiden Gedichten, dem vorgegebenen und dem entstehenden, dienlich zu sein. Es gilt, ein stets neues Maß zu bestimmen und ein flexibles Gleichgewicht zu finden zwischen „ihr“, der fremden Zunge, die da spricht, und „mir“, der in wie weit eigentlich eigenen.

Gehe ich beim Übersetzen vom Eigenen aus oder vom Anderen? Und was ist das Vertraute? Das Eigene, oder inzwischen das Fremde? Verwunderlich, dass ich für jeden außer für mich selbst ein Bestandteil der Welt bin! Verblüffend, mich mit anderen im Spiegel zu sehen: Erst im Spiegel bin ich überhaupt da.

Dabei weiß ich doch von mir. Keiner wüsste mehr von mir zu sagen. Stattdessen erzähle ich davon, wie ich die Welt sehe, die Zeit, die Liebe, die Entfremdung, die Anderen. „“Immer ist man zum Teil auch der, der vor einem steht. Und vor einem steht immer wieder ein Neuer“, heißt es in meinem Roman „Der eiskalte Himmel“. Seit ich zur Welt kam, sind 48 Jahre vergangen. Kein Tag, an dem mich das nicht erschüttert. 48 Jahre vor meiner Geburt war 1917. Eine einzige Erinnerung, die ich habe, reicht 48 Jahre zurück. Und ich weiß nicht, ob sie „stimmt“, wie man so sagt, und niemand und nichts wird es mir je sagen können. Der Psychoanalytiker Donald Spence unterscheidet die „historische“ von der „narrativen Wahrheit“, und der Neurowissenschaftler Gerald M. Edelman bezeichnet Wahrnehmung als „Schöpfung“ und Erinnern als „Neuschöpfung“, „Neubestimmung“. Könnte ich demnach sagen, meine erste Übersetzung entstand vor 48 Jahren? Übersetze ich, seit ich mich erinnere? Seit ich denken kann, scheint zu meinem Wesen eine bestimmte Zwillingshaftigkeit zu gehören: Ich bin uneins, im Zweifel.

So habe ich zwei unterschiedliche Augenfarben. So wuchs ich in Oberbayern auf, doch zog schon mit zehn in den Norden. Ich liebe Berge und Meer, Inn und Elbe, den bayrischen und norddeutschen Dialekt gleichermaßen. So komme ich aus einer doppelt zerrütteten Familie: Meine Eltern heirateten zwei Mal, und zwei Mal ließen sie sich scheiden. So bin auch ich heute zweifach geschieden, Familienmensch und Einzelgänger, Vater und Dichter, fremder Freund.

Eine meiner wenigen Konstanten scheint die Dichtung zu sein. Ich schreibe, seit ich schreiben kann. Die Tore zur Literatur stießen für mich Ernest Hemingway und André Gide auf, die ich mit 15 im Krankenhaus las, und seit ich Georg Trakl lese, beschäftigt mich das Gedicht, seine Räume, Klänge und Echos.

Dass Dichter zu sein keine Pose ist, sondern Verantwortung für Überlieferung und Austausch bedeutet, lernte ich von Albert Camus und John Keats, den ich von 1990 an fünf Jahre lang übersetzte. Es folgten Cummings, Luca, Yeats, Creeley, Kopland, Anderson, Dickinson. In Gästebücher schreibe ich stets einen Vers von Keats: „The poetry on earth is never dead.“ Ich habe nie studiert, auch nicht Anglistik. Wie alles, was ich schreibe, verweigern sich meine Übersetzungen dem Konzept. Konzeptfrei stellen sie sich in den Dienst von Spiegel und Zweifel: Auf allen möglichen Ebenen wollen sie ein äquivalentes Gedicht zeigen, offen, von Irrtümern durchkreuzt, rätselhaft. „Learn from a child’s panic: / Song means that you breathe„, dichtet die Australierin Emma Lew, „Lerne von der Panik eines Kindes: / Lied bedeutet, du atmest.“ Ich übersetze, schreibe Romane und schreibe Gedichte im Wechsel, Prosa am Rechner, Gedichte von Hand. Ich schreibe nur, wenn ich lese. Und gehe mit jeder Übertragung wieder zur Schule. Wie Peter Waterhouse das Gehen an den Grenzen von Schreiben und Übersetzen charakterisiert: „Kieselsteinplan für die unsichtbare Universität“.

Lassen Sie mich an drei Zweizeilern – Gedicht, Satz, Gedicht – zu zeigen versuchen, wo ich die Grenzen von Übersetzung und Übersetzbarkeit verorte und welcher Reichtum für mich im Schweigen jenseits dieser Grenzen liegt.

Über 35 Jahre hinweg, zwischen 1850 und 1885, schrieb Emily Dickinson hunderte Liebesgedichte, ohne dass von einem klar wäre, an wen es sich richtet. Wen meint das „Kaspische du“ so vieler Anrufungen des Meers? Gab es den „Master“ wirklich, an den ihre rätselhaftesten Briefe sich wenden? Meint „Master“ eine Herrin? Vielleicht Gott? Oder die Dichtung? Auch wenn die Dickinson-Forschung heute Bibliothekssäle füllt, bleibt der Leser aufgerufen, sich der den Gedichten und Briefen eingeschriebenen Offenheit zu stellen.

Die Liebe, wie Dickinson sie aufgrund extremster Zurückgezogenheit darstellt, bleibt unerfüllt, unerfüllbar. Das Ich ist radikal allein. Als einsam empfindet es sich deshalb nicht. 180 Dickinson-Gedichte, ein Zehntel ihres lyrischen Werks, beginnen mit dem Wort „I“ – einem Ich, das sich als leere, nur in der Vorstellung zu erfüllende Projektionsfläche sieht. Doch wie kommt es, dass so ein Niemands-Ich ohne Verlangen ist, jemand sein zu wollen? „Ich bin Niemand! Kenn ich dich? / Bist du auch – Niemand – So wie ich?“ Schon die Naturmetaphern in Dickinsons Frühwerks erteilen ironisch jeder Romantik eine Absage, aber auch Vernunftglaube und Frömmelei werden ad absurdum geführt: Rationalität ist ein altes Lexikon, das Beste an der Kirche ihr Gesangbuch. Frei vom Ennui Baudelaires, läuft der Riss des Zweifels sichtbar durch Strophen und Verse: Jeder dickinsonsche Gedankenstrich versinnbildlicht auch das gefallene „I“, ein quer liegendes Ich.

Auch Gedicht 212, eins ihrer kürzesten, verdeutlicht, dass nur ein ebenso leeres und damit für alles Mögliche offenes Gegenüber einem so umfassenden Öffnungsanspruch gerecht werden kann:

Least rivers – docile to some sea.
My Caspian – thee.

Selbst Flüsschen – streben Meeren zu.
Mein Kaspisches – du.

In all ihrer Tiefe zu übersetzen sind diese zwei Zeilen nicht. Im Deutschen liegt zwischen „Meer“ und „du“ ein nicht zu überwindender Deich, die Reimwörter klingen dagegen im Englischen fast gleich. Beim Versuch, die winzige Klangverschiebung von „sea“ zu „thee“ zu übersetzen, spürt man der Zunge nach, den Lippen, fragt sich, wie sie den Unterschied formen und gerät in Kussnähe. Unübersetzbar bleibt die Zungenverschiebung in der zweiten Zeile, wo das „Caspian thee“ ein ganzes Meer in sich birgt: „Caspian Sea“, das „Kaspische Meer“. Jedes Du, sagt Emily Dickinson damit, ist eine See, zu der noch das geringste Ich hin zu finden versucht.

So entdeckt man immer neue Facetten liebender Empfindung in den Gedichten – eine Vielfalt, die, so virtuell ihre Ursprünge sein mögen, für höchste Lebendigkeit steht und für die das Glück, auch das der Liebe, nicht in der Erfüllung liegt, sondern in steter Annäherung, beständigem Umkreisen. Gerade in ihrer Auslotung virtueller Räume und damit auch erotischer Fantasien erscheint Emily Dickinsons Dichtung heute aktueller denn je.

Für die in ihrem Unwirklichkeitsempfinden gefangenen Winesburger aus Sherwood Andersons 1919 veröffentlichtem Story-Reigen „Winesburg, Ohio“ ist der Bahnhof Anlaufpunkt und Fluchtort, lebendige Insel inmitten der Leblosigkeit und Tor zur Welt. Wer zur Stadt hinausspaziert und zwischen endlosen Maisfeldern umherläuft mit keinem Ziel vor Augen als dem Immergleichen, kann sich sicher sein, wie einen Lockruf in der Ferne den Signalpfiff eines Zuges zu hören. Es ist kein Zufall, dass ein so unscheinbarer wie furioser Satz über einen einfahrenden Abendzug schlagartig verdeutlicht, was Hemingway Anderson verdankt:

Darkness came on and the evening train came in at the station.

Die Dunkelheit kam, und am Bahnhof kam der Abendzug an.

Durch das doppelte „came“ geht der Anbruch der Nacht nicht nur einher, sondern ist identisch mit der Ankunft des Zuges: Die letzten Reisenden sind mit der Nacht gekommen, ja sind selber nur mehr Schatten.

Für seinen Biografen Walter B. Rideout sind Andersons Sätze von „komplizierter Simplizität“, ihnen eignet „die Klarheit von Wasser, das man in Händen hält“. Zu seinem eigenen Verständnis von Satz und Syntax führt Sherwood Anderson in einer Verteidigung der von ihm verehrten Gertrude Stein aus, er habe unzählige Sätze auf der Straße gehört, die gefunkelt hätten wie Juwelen. Im selben Essay schreibt er über den jungen Hemingway, dass dieser Sätze bauen könne – was nur den wenigsten amerikanischen Autoren gelinge.

Den Übersetzer stellt das Paradoxe an Andersons vertrackter Einfachheit vor vielfältige Herausforderungen. Bis in die Wortwahl und den Satzbau hinein, die besonders im Dialog häufigen Ellipsen, gestammelten Wiederholungen und dahingesagten Redundanzen, scheint die Sprache von „Winesburg, Ohio“ Unterhaltungen auf der Straße abgelauscht. Nur welcher? Einer Main Street im Mittleren Westen um 1890, oder doch eher einem Boulevard in Chicago um 1920? Auch verdankt sich Andersons so raffinierte wie kaschierte Wiederholungstechnik mindestens ebenso der Lektüre der King-James-Bibel wie derjenigen von Gertrude Steins Frühwerk.

„Eine neue Vertrautheit mit den Begriffen des eigenen Vokabulars“ war für Anderson das beglückende Ergebnis, als er 1915 Steins „Drei Leben“ las. Sherwood Anderson zu übersetzen hieß insofern, den Wurzeln und Möglichkeiten auch der eigenen Wörter und Sätze nachzuspüren. Die Winesburger halfen mir weiter: Sie machen vor, wie man sich mit Sprechen schwertut und sich abmüht, auszudrücken, was einem zu sagen einfach nicht gelingt.

Winesburg, Ohio“ ist ein Buch, das mit jedem Komma um die Darstellung einer größeren Lebensintensität ringt – Schattenseiten inbegriffen. So eingeschränkt sie scheinen, da sie beständig zurückgenommen werden, gilt für die Ausdrucksmittel dieser Prosa dasselbe wie für jene „schmalen ausdrucksvollen Finger“, mit denen einer der traurigsten Winesburger darauf pocht, der Unwirklichkeit in seinem Kontakt zur Außenwelt etwas Lebendiges entgegenzuhalten. Über Wing Biddlebaum heißt es, seine Finger waren „ewig in Aktion, ewig bemüht, sich in seinen Taschen oder hinter seinem Rücken zu verbergen“, doch kamen sie einmal hervor, dann wurden sie „zu Pleueln seiner Ausdrucksmotorik“.

Die Pleuel von Sherwood Andersons Prosa sind Sätze. Ihre waghalsigen, nicht selten halsbrecherischen Und-Konstruktionen erklären etwa Zeitenfolge zu reiner Grammatikkonvention. Falls nötig oder klanglich schön, springt die Handlung innerhalb eines Absatzes mühelos erst Monate voraus, dann Jahre zurück und landet schließlich, eingeleitet von einem letzten, oft unübersetzbaren „und“, weich am Ausgangspunkt – und nichts scheint geschehen.

Der erste Vers, den ich von Ghérasim Luca las, könnte mich noch immer um den Schlaf bringen, hätte ich nicht irgendwann eingesehen, hier an meine Grenze gekommen zu sein. Der Vers gibt sich als Parole aus, wie die ungestüme Aufforderung zur allumfassenden Revolte kommt er daher, und man meint, an jeder französischen Hauswand könnte er als Graffito stehen:

GREVE GENERALE
SANS FIN NI COMMENCEMENT

Doch Lucas Vers ist all dies nicht. Vielmehr ist er ein Menetekel des Unübersetzbaren.

Ghérasim Luca war Rumäne und floh 1952 über Israel nach Paris, „Étran-juif„, „FremJude“. Das Erstottern der fremden Sprache blieb Bauplan seiner Gedichte, bis er sich 1994, nach der Zwangsräumung seiner Wohnung, das Leben nahm.

Ich hatte das Glück, 1997 an einem denkbar geeigneten Ort auf Luca aufmerksam zu werden. Im Panier von Marseille, dem von den Sprengungen der Nazis verschont gebliebenen einstigen Korbmacherviertel, liegt das C.I.P.M., das Internationale Poesiezentrum. In dessen Bibliothek, die Gedichtbände aus der ganzen Welt versammelt, las ich erstmals Luca: „die verzweiflung hat drei paar beine / die verzweiflung hat vier paar beine / vier paar luftiger vulkanischer aufsaugender symmetrischer beine / sie hat fünf paar beine fünf symmetrische paar“.

In „Mein Wahnsinn des Lebens“ wird die Anzahl der Beine (und der Socken) der Verzweiflung durchexerziert bis dreißig, bevor es heißt: „die verzweiflung hat gar kein paar beine / absolut kein paar beine / absolut keine absolut keine beine / aber absolut keine beine / absolut drei beine“.

Verzweiflung wie Bezifferung, Gefühl und Verstand derart in die Schwebe gebracht, bleibt als überraschender Schluss, dass mit der Wirklichkeit nicht zu rechnen ist: Ein oder zwei Beine hat die Verzweiflung nämlich nie, abgesehen davon, dass dich mit Ende der einen schon die nächste, dreibeinige Verzweiflung anspringt.

Körpersprache und Sprachkörper bilden bei Luca eine so große Schnittmenge wie in kaum einer anderen Dichtung. Laut und Leib begegnen sich und berühren einander, etwa in „Der Traum in Aktion“: „die flora / ist teil deiner haut deiner haut / entstammt sie entstammt dein duft / dein duft ist in meinem mund dein mund / ist eine lende eine lende die schwindet / sie schwindet mir zwischen den zähnen“.

Übertragen aufs Weiß der Buchseite, legen sich die Silben stammelnd auf ein trunkenes Bett, das ein übergesetztes trunkenes Boot ist. Aus Rimbauds „bateau ivre“ wird Lucas „lit ivre„, ein verstottertes „livre„, ein „Bu-uch“ für die Stimme des Dichters und die entblätterte Geliebte, die zugleich Körper und Sprache ist, vertraute Fremde: So beschreibt das Gedicht „Spontane Initiation“ nicht nur den Sex mit „Olga“, sondern auch den der Namen „Olga“ und „Luca“. So radiert jene „Madeleine“ aus dem gleichnamigen Gedicht sich selbst überall dort aus, wo ihre Hände sie bedecken. Der Rest ist das Ganze: „weder hände noch gesicht / arm in arm / verbirgt / Madeleine Madeleine“.

Das Wort, bei Luca nicht in Silben zerhackt, sondern Silbe um Silbe zurückgelöst in sein Sprechen, erscheint nah wie ertastete Haut. Wie ihr ist dem Wort und seiner Aussprache die Wunde eingeschrieben. Das sich heranfühlende Wort trägt die Verstümmelung mit sich: „Gemessen an der nackten Furcht / wie Gott am Bigotten // erschafft der Nacken das Messer // das den Nacken vom Kopf furcht / und zwischen dem Kopf und dem Rumpf hängt // wie das Verbrechen / zwischen dem Verb und dem Rächen“.

GREVE GENERALE
SANS FIN NI COMMENCEMENT

Wörtlich übertragen lautet der Vers: „Generalstreik / ohne Ende und Anfang“. Nimmt man die sechs Wörter, die sich vermeintlich zur Parole formieren, jedoch beim Wort, d. h. liest GREVE und GENERALE tatsächlich ohne das Ende und ohne den Anfang, so gelangt man zum REVE GENERAL, zum „Allgemeinen Traum“.

Was kann damit gemeint sein? Wovon träumen alle gemeinsam? Von einem Turm zu Babel, auf dem jeder jeden versteht? Kürzlich dachte ich: Diese doppelte Aufforderung – ohne Ende, ohne Anfang –, die aus dem Generalstreik den Traum aller macht, verschwindet oder bleibt sie? Wenn sie stehen bleibt, endet auch der Traum nicht. Genauso wenig aber würde er beginnen.

„gREVE GENERALe / SANS FIN NI COMMENCEMENT“ – für mich bleibt der Vers der einzige, der sich weder übersetzen noch übertragen oder nachdichten lässt. Man kann sich der Übertragung nur nähern, ihr Scheitern umkreisend kommentieren. Und sich damit trösten, dass noch jedes Gedicht von seiner Übersetzung unberührt geblieben ist. Oder stimmt das nicht?

Im Zweifel bleiben. Im Zweifel ist oft das Beste, es bleiben zu lassen! Jemand wird kommen, dem gelingt es vielleicht.