Vom Leben und Sterben der Dinge in der japanischen Literatur

von Kimiko Nakayama-Ziegler und Ursula Gräfe

„Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“
[Fußnote 1]J. W. Goethe: Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort, in: Theoretische Schriften, S. 386. Erstdruck; in: Zur Morphologie, 2. Bd. 1. Teil, Stuttgart 1823.

Goethes Bemerkung besitzt in unserem Fall doppelte Gültigkeit. Zum einen soll es hier konkret um die – so zumindest das Postulat – organische Qualität gehen, die anorganische Dinge im japanischen Denken und damit in der japanischen Literatur besitzen. Zum anderen hat dieser Gegenstand der Gegenstände tatsächlich einen neuen Sinn für diese Eigenheit in der japanischen Erzählweise in uns geweckt.

Wir – eine deutsche und eine japanische Frankfurterin – hatten bereits gemeinsam an der nach obigem Dichter benannten Universität studiert, als wir im Jahr 1994 plötzlich vor der uns damals recht abenteuerlich erscheinenden Herausforderung standen, innerhalb kürzester Zeit die Hälfte des Romans Stille Tage von Kenzaburō Ōe zu übersetzen. Diese aufregende Aufgabe verdankten wir zwei Ereignissen. Einem glücklichen – Ōe hatte gerade den Nobelpreis für Literatur erhalten – und einem unglücklichen: Sein Übersetzer Wolfgang Schlecht war mitten in der Arbeit erkrankt. Kurz gesagt, mit Stille Tage waren selbige für uns vorüber, und vier Wochen unentwegter, intensivster Übersetzungsarbeit lagen vor uns. Auf diese Feuertaufe folgten viele gemeinsame Projekte, und damit sind wir auch schon bei unserem Thema.

Als deutsch-japanisches Team diskutierten (und diskutieren) wir häufig – und mit Begeisterung – die Unterschiede zwischen unseren beiden doch recht weit auseinander liegenden Kulturkreisen. Kulturvergleich macht Spaß, auch wenn oder gerade weil man dabei ab und zu in Niederungen wie die unterschiedlichen Praktiken beim Wäscheaufhängen und Reis- oder Kartoffelkochen hinabsteigt. Eine unserer belangreicheren Entdeckungen, oder besser gesagt, Hypothesen ist jedoch etwas, das wir als die „atmosphärisch andere“ Darstellung von Materie bezeichnen, ein Phänomen, das bei der Übertragung ins Deutsche mitunter gewisse Schwierigkeiten aufwirft. (Wie formuliert man beispielsweise die Empfindung einer Romanfigur, dass ihre Stereoanlage schüchtern in der Ecke kauert, ohne den Leser zu nicht intendiertem Lachen zu reizen). In diesem Zusammenhang erörterten wir immer wieder die Problematik einer kulturspezifischen Beziehung zur Materie und den allgemein gern beschworenen Gegensatz von westlichem Materialismus und östlicher Spiritualität, wo die Materie in der Regel als hypothetisch oder illusionär gilt oder „wo sogar unbeseelte Objekte mit lebendiger, heilender, magischer Kraft ausgestattet werden“. [Fußnote 2]C. G. Jung: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, in: Gesammelte Werke, Bd. 11, Solothurn und Düsseldorf 1995, S. 478. Allerdings ließ sich dieses Modell nie so recht auf unseren speziellen Fall anwenden, da die japanische Beziehung zum Materiellen sich in vieler Hinsicht dieser Einordnung zu widersetzen schien.

Mono – Dinge oder Wesen?

Unsere Überlegungen stützen sich nicht allein auf die Beobachtung, dass Alltagsgegenstände in der japanischen Literatur über ein stärkeres Eigenleben oder vielleicht sogar mehr Individualität verfügen, als sie literarischen Requisiten, Motiven, Symbolen oder Metaphern in der „westlichen“ Erzählliteratur zu eigen sind. Am deutlichsten wird der Unterschied wahrscheinlich an der Beziehung der Charaktere zu den Gegenständen, die zwar stets funktional und selten oder nie ideell ist, aber dennoch persönlicher, gleichberechtigter, ja, man möchte sagen, intimer erscheint. Sie ist von einer besonderen Wertschätzung geprägt, in der sich jedoch weniger eine spirituelle als vielmehr eine emotionale Qualität offenbart.

Auch sprachlich scheint die Trennung zwischen Mensch und Ding nicht so eindeutig festgelegt, wie es vielleicht in anderen Sprachen der Fall ist. So wird die gängige japanische Vokabel für Dinge und Personen gleich ausgesprochen. Beides heißt mono. Mono, die „Person“, und mono, das „Ding“ unterscheiden sich nur durch ihre Schreibweise. [Fußnote 3]Das Japanische verfügt weder über einen bestimmten noch einen unbestimmten Artikel. Zudem kann mono (Aussprache etwa wie monno) sowohl Singular als auch Plural sein. Überdies werden beide vor allem in Hiragana – einer phonetischen Silbenschrift – (mono) geschrieben, so dass der Unterschied noch mehr verschwimmt, während das deutsche Wort Gegenstand wie das lateinische objectum (PPP von objicere „Entgegenwerfen“) bereits ein „Gegenüberstehen“ und damit eine gewisse Widerständigkeit beinhaltet.

So bereitet die semantisch uneindeutige Qualität der Vokabel mono nicht selten auch Schwierigkeiten beim Übersetzen. Ein Beispiel: Im Roman Manazuru der Autorin Hiromi Kawakami [Fußnote 4]Hiromi Kawakami: Manazuru, ersch. München 2011. Die Übersetzung wurde von der gemeinnützigen Organisation J-Lit Center im Rahmen des Japanese Literature Publishing Project (JLPP) gefördert. Alle hier zitierten japanischen Werke sind unsere Übersetzungen. durchstreift die Icherzählerin auf der Suche nach ihrem verschwundenen Mann immer wieder den Küstenort Manazuru und seine Umgebung. In dieser Zeit hat sie häufig die (halluzinatorische?) Empfindung, verfolgt zu werden – und zwar von mono. Wurde sie nun von „jemandem“, einem „Etwas“ oder von „Wesen“ verfolgt? Waren es einer, eins oder überhaupt mehrere?

Die folgenden vier Zitate zeigen, wie wir die stets gleich lautende japanische Formulierung mit mono je nach Kontext oder dem Gefühl der Muttersprachlerin in unserem Tandem auf verschiedene Weise übersetzt haben:

Jemand folgte mir. Ob es ein Mann oder eine Frau war, ließ sich nicht ausmachen. Noch zu weit weg. Und wenn schon. Ich ging weiter. (S. 3)

Meine Verfolger hatten keine ausgeprägte Präsenz. Sie waren blass, bald kamen sie näher, bald fielen sie zurück. (S. 31)

Plötzlich erschien das Etwas, das mir folgte. Seine Präsenz war stark. Es war kein Mensch, sondern eher so etwas wie ein Tier mit Fell. Es hatte Ähnlichkeit mit mir, damals in der Schwangerschaft, als die Übelkeit nachließ und die stabile Phase begann. (S. 82)

Ohne die Geräusche kam ich mir vor wie in einem Vakuum, in dem mehrere unsichtbare Wesen mich umgaben. Sie fühlten sich dichter an als die schwachen Präsenzen, die mir im Kaufhaus gefolgt waren. (S. 152)

Vom Pathos der Dinge

Nach diesem Beispiel aus der Übersetzungspraxis wollen wir uns einigen geistesgeschichtlichen Betrachtungen widmen. Im 18. Jahrhundert setzte sich der Gelehrte Motoori Norinaga (1770-1801) für eine Wiederbelebung nationaler japanischer Werte (im Gegensatz zu indischen und chinesischen Einflüssen) ein. Er prägte den Begriff des mono no aware, der meist dem englischen Begriff folgend als „Pathos der Dinge“ übersetzt wird. Er bezeichnet ein bereits in der Heian-Zeit (794-1185) bestehendes ästhetisches Konzept, demzufolge die anrührende, schlichte, ja beschädigte Schönheit einer Sache gerade durch ihre Unvollkommenheit starke Empathie bei ihrem Betrachter hervorruft. Durch sie empfinde er die Vergänglichkeit allen Seins umso stärker. Diese besondere Gefühlslage scheint in enger Beziehung zum buddhistischen Traditionshintergrund zu stehen, der nach Norinaga eigentlich wieder hinter dem einheimischen Shintoismus zurücktreten sollte, jedoch bereits untrennbar mit dem japanischen Geistesleben verschmolzen war. Jedenfalls wird, vereinfacht gesprochen, in der Vorstellung des Buddhismus die Welt als Kontinuum wahrgenommen, in dem sich alles in gegenseitiger Abhängigkeit bewegt. Die Objekte darin sind lediglich verschiedene Verdichtungen dieses einen Raumes. So existiert in diesem Universum weder ein göttlicher Wille, der dem Menschen Verfügungsgewalt über die Materie erteilt, noch eine scharfe Trennung zwischen Subjekt und Objekt, da alle Erscheinungen ja nur verschiedene Zustände eines Selben sind. Das europäische Denken dagegen basiert in großen Teilen auf einer solchen Trennung. Nicht nur ist der Mensch bestrebt, die Materie zu beherrschen, auch die Gegenstände zwingen den Menschen, sie als „objektive“ Realität anzuerkennen. Der französische Philosoph Merleau-Ponty beschreibt diese Vorstellung von der phänomenologischen Beziehung zwischen Mensch und Ding wie folgt:

Und doch präsentiert sich das Ding auch dem noch, der es wahrnimmt, als Ding an sich […]. Für gewöhnlich werden wir darauf nicht aufmerksam, […]. Doch das Ding ignoriert uns und ruht in sich. Wir sehen es, sobald wir unsere Beschäftigungen unterbrechen und dem Ding eine metaphysische und uninteressierte Aufmerksamkeit zuwenden. Alsbald zeigt es sich feindlich und fremd, ist nicht mehr unser Gesprächspartner, sondern ein entschlossen schweigendes Anderes, ein Selbst, das sich uns entzieht, so wie die Intimität eines fremden Bewusstseins. […] Das Ding ist für uns viel mehr ein Abstoßungs- als ein Anziehungspol. In ihm erkennen wir nicht uns selbst, und eben dies macht das Ding zum Ding. [Fußnote 5]Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, § 38, S. 372-375.

Ganz anders stellt sich die Sicht auf die Dinge in der japanischen Literatur dar, wo sie – unserer Beobachtung nach – im Allgemeinen einen vollkommen verschiedenen Auftritt haben. So gut wie nie, wenn überhaupt je, werden sie als ein „entschlossen schweigendes Anderes“ oder gar als „Abstoßungspol“ geschildert. Aber wie genau kommt diese japanische Verbundenheit mit der materiellen Welt literarisch zum Ausdruck? Wird sie auch inhaltlich thematisiert? Wie lässt sich unsere These am konkreten Beispiel untermauern?

Der Tod des Teemeisters

Zur Veranschaulichung bietet sich der Roman Der Tod des Teemeisters von Yasushi Inoue [Fußnote 6]Yasushi Inoue: Der Tod des Teemeisters, Frankfurt am Main 2007. Der japanische Titel lautet „Nachgelassene Schriften des Mönchs Honkaku“. an, da in ihm die Vorstellung vom Pathos der Dinge (mono no aware) und ihrer damit in engem Zusammenhang stehenden Eigenschaft als lebendige Wesen auch inhaltlich verarbeitet ist. Yasushi Inoue (1907-1991) gehört zu den im Ausland meistgelesenen japanischen Autoren der älteren Generation. Schon 1958 gab der Suhrkamp Verlag seine Novelle Das Jagdgewehr [Fußnote 7]Anlässlich Inoues 100. Geburtstag im Jahre 2007 neu aufgelegt. heraus. Viele von Inoues Büchern sind historische Romane, in denen ein randständiger Chronist die Ereignisse schildert. Häufig geht es darin um ein bis zur Selbstaufgabe verfolgtes Lebenswerk.

So auch in Der Tod des Teemeisters, einem Roman, in dem Inoue sich spekulativ mit einem historischen Selbstmord auseinandersetzt: Der berühmte Teemeister Sen no Rikyū (1522-1591) hatte über längere Zeit in der Gunst des Reichseinigers Toyotomi Hideyoshi (1538-1598) gestanden, als dieser ihm unerwartet den als ehrenvoll erachteten Freitod befahl. Die Gründe dafür sind bis heute ungeklärt. Im Roman berichtet Meister Rikyūs Diener und Schüler Honkaku – in Tagebuchform – von seiner Suche nach den Gründen für Toyotomis tödlichen Befehl. Aufgezeichnet hat er Gespräche mit seinem Meister, Begegnungen mit historischen Persönlichkeiten aus der Welt der Teezeremonie sowie seine Träume und Gedanken.

In der folgenden Szene ist der Icherzähler Honkaku damit beschäftigt, eine Abhandlung zu kopieren, die unter anderem berühmte und erlesene Gerätschaften für die Teezeremonie auflistet. Hier kommt die Vorstellung von einer Schicksalsgemeinschaft zwischen Menschen und Dingen, die nach unserer These das japanische Denken prägt, auf besonders eindringliche Weise zum Ausdruck.

Am Abend setzte ich mich wieder an den Schreibtisch, auf dem Sōjis Schrift lag, rieb Tusche und ergriff den Pinsel. […] Zuerst kommen die Namen von Tsubo, den Töpfen, in denen Teeblätter aufbewahrt werden: Mikatsuki, Matsushima [… es folgen zwanzig Eigennamen]. Jeder einzelne von ihnen hat eine Geschichte, die mit seinem Namen und seiner Herkunft verbunden ist. [… es folgt die „Vita“ eines Topfes namens Hashidate]. All diese berühmten Töpfe haben ebenso wie wir Menschen ein persönliches Schicksal. Einige wechselten den Besitzer, andere blieben in einer Hand. Manch einer ist verschwunden, teilte das Los seines Besitzers und starb. […] Natürlich sind solche Schicksale nicht auf Töpfe beschränkt. Auf Jukōs Liste stehen auch zahlreiche Teeschalen, angefangen mit Matsumoto und Insetsu, von denen eine nach der Niederlage ihres Besitzers Miyoshi Jikkyu ebenfalls bei einem Brand zerstört wurde. […] Beim Abschreiben berührte es mich sehr stark, wie sehr Menschen und Kunstwerke in schweren Zeiten leiden. (S. 49-52)

Die Dinge haben ebenso wie Menschen eine eigene Geschichte, leiden wie sie und – wichtiger noch für unser Argument – sterben auch wie sie, denn was sterben kann, war naturgemäß zuvor am Leben.

An anderer Stelle spricht Honkaku über einen Teespatel aus Bambus, der dem – ebenfalls historischen – Teemeister Oribe gehört hatte und sich nun im Besitz seines Freundes Uraku befindet:

Ich betrachtete den schmalen Bambuslöffel, der eine ganz besondere Ausstrahlung besaß. Sie übertraf die von Meister Rikyūs Teespatel. Ob der Besitzer des Löffels einen ebenso starken Charakter besessen hatte? […] „Ich liebe diese Stücke, denn sie sind keinen Veränderungen unterworfen“, fügte er [Herr Uraku] hinzu. „Ein Mann des Tees hat naturgemäß ein Herz, und man kann sich nicht auf ihn verlassen. Da sind Gegenstände besser, da man stets darauf vertrauen kann, daß sie sich treu bleiben.“ […] „Die Gegenstände hängen von den Menschen ab, die sie besitzen, nicht wahr? […] Viele Gerätschaften weinen, weil ihr Besitzer ein ungehobelter Klotz ist. Man kann ihr Klagen hören. Lauter als das Zirpen der Grillen, und trauriger. Ich höre sie rufen: Hol mich heraus, hol mich heraus. Neuerdings höre ich Herrn Oribes Gerätschaften klagen: Rette uns, flehen sie mich an. Doch wie soll das gehen? Ich weiß nicht einmal, was aus ihnen geworden ist. (S. 112)

Auch hier wird die besondere Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und ihm nahestehenden Dingen thematisiert. Natürlich ließe sich anführen, dass es sich bei der Teezeremonie um eine Art zen-buddhistischen Sonderfall handelt, bei dem eine Ganzheitserfahrung bzw. Aufhebung der Dualität zwischen dem Ausübenden und seiner Umwelt bewusst angestrebt wird. Dieser Aspekt der Entgrenzung spielt für unsere Diskussion insgesamt keine unerhebliche Rolle, dennoch kommt bei dieser sehr lebendigen Schilderung der verzweifelten Teegerätschaften noch etwas Anderes, Greifbareres zum Tragen, nämlich die bereits erwähnte emotionale Bindung des Menschen an Dinge des täglichen Gebrauchs. Für Uraku sind sie eigenständige und doch in ihren Gefühlen vom Menschen abhängige Wesen, deren äußerliche Unveränderlichkeit sie nicht etwa als tote Materie ausweist, sondern ihren starken Charakter bezeugt.

Doch die Teekunst ist nicht der einzige Bereich, in dem Gegenstände als ‚Lebensgefährten‘ ihrer Besitzer und Benutzer auftreten. Diese Beziehung kam – wie gesagt – in allen von uns übersetzten Werken mehr oder weniger zum Tragen.

Das Museum der Stille

Unser nächstes Beispiel, der Roman Das Museum der Stille der Autorin Yōko Ogawa (geb. 1962), handelt sogar hauptsächlich von dieser Bindung. Er erzählt – auf immerhin fast 350 Seiten – von einer uralten Frau, die ein ganzes Museum mit den Alltagsgegenständen Verstorbener ausstattet, Dingen, mit denen sie in besonderer Weise verbunden gewesen waren: ein Diaphragma, eine Hundemumie, eine Spindel, Goldzähne, Handschuhe, Pinsel, Schneebesen, Gips, eine Wiege, ein Skalpell für die Verkleinerung von Ohren, ein Glasauge etc.. „Ich habe mir vorgenommen“, so erklärt sie dem Museumsexperten, den sie als Hilfskraft eingestellt hat, „mir jedes Mal, wenn im Dorf jemand stirbt, einen persönlichen Gegenstand von dem Verstorbenen anzueignen.“ (S. 47) Aber was bedeutet diese außergewöhnliche Sammlung von Erinnerungsstücken? Werden die Objekte als Symbole für die Eigenschaften ihrer Verstorbenen ausgewählt und sind damit eine Art Totem oder Fetisch? Was sind die besonderen Auswahlkriterien der alten Frau? Nie bemerkt jemand das Verschwinden eines Dinges, „weil unsere Wahl so exakt ist und wir genau den Kern der Sache treffen“ (S. 155). Die Leute glauben, „der Tote habe es mitgenommen“ (S. 156). Besitzer und Gegenstand sind untrennbar miteinander verbunden, was jedoch nicht besagt, dass die Dinge kein starkes Eigenleben hätten. Als der junge Museumsexperte das Magazin abschreitet, in dem die bisher gesammelten Objekte lagern, fällt ihm etwas Sonderbares auf:

Der Raum war recht groß, aber ziemlich chaotisch und schmutzig. Überall standen Regale, Tische und Kommoden herum, auf denen sich die verschiedensten Gegenstände im Zustand vollständigen Durcheinanders stapelten. Aber es war nicht die Unordnung im Raum, die mich irritierte, sondern irgendetwas anderes. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, woran es lag. Vielleicht um seine Eigenständigkeit zu behaupten, schien jedes einzelne Objekt eine unerträgliche Disharmonie zu erzeugen, wo doch normalerweise die Dinge in jedem noch so vernachlässigten Magazin zumindest das Wesen gemeinsam haben, Teil desselben Museums zu sein. Hier dagegen gab es nicht die geringste Verbindung zwischen den Stücken, keinerlei Eintracht. Es herrschte nicht einmal der Eindruck, dass sie ihre gegenseitige Anwesenheit überhaupt wahrnahmen. (S. 45 f.)

Auch hier offenbart sich die spezifische Wahrnehmungs- und Gestaltungstradition, die unseres Erachtens die gesamte japanische Literatur durchzieht. Die gelagerten Objekte sind keinesfalls tote Materie, sondern lebendige Wesen, die die Stimmung im Raum spürbar zu beeinflussen vermögen. Dieser Eindruck ist keine Folge der besonderen, etwas unheimlichen Umstände im Museum der Stille. Die Ansicht des Protagonisten, dass Ausstellungsstücke mit einem individuellen Gedächtnis ausgestattete Einzelwesen sind, die genau wie er ihre Arbeit verrichten, schließt auch die Gegenstände in den konventionellen Museen ein, in denen er bisher gearbeitet hatte. In einem späteren Kapitel schildert er seine Gewohnheit, nach Feierabend noch durch die Ausstellungsräume zu schlendern, um sich „für einige kurze Augenblicke der Illusion hinzugeben, eine Miniaturausgabe der Welt“ vor sich zu haben (S. 169). Dabei macht er eine Beobachtung:

Nach getaner Arbeit haben die Exponate ein anderes Erscheinungsbild als tagsüber. Sie ruhen ihre von den Blicken der Besucher erschöpften Körper aus und geben sich bis zum nächsten Morgen der Erinnerung an die vergangenen Zeiten hin, in denen sie wirklich gelebt haben. Dabei scheint ihre kontemplative Aura sich noch zu verdichten. (S. 169)

In beiden Zitaten zeigt sich der Erzähler als empfänglich für die ihm ganz natürliche lebendige Gegenwart der ihm anvertrauten Dinge. Keine der beiden Szenen erweckt einen surrealen, fantastischen oder parodistischen Eindruck. Im Gegensatz dazu wird die Personifikation von Gegenständen in der westlichen Erzählliteratur in aller Regel als Stilmittel verwendet, um einen der genannten Effekte zu erzielen. Ein besonders anschauliches und geglücktes Beispiel hierfür ist der „Geschenktisch“ in Siegfried Lenz‘ Roman Deutschstunde, eine Szene, in der eine Gruppe von „belebten“ Gegenständen beschrieben wird:

Das Bild stand auf der Rückseite des Tisches gegen die Wand gelehnt, neben ihm hatten die Flaschen Posten bezogen, vor ihm krümmten sich dienstbar die Socken, der Kaffeewärmer plusterte sich auf, der Obstkuchen warb um Vertrauen, und der Schal schlängelte sich um die Talglichter, als wollte er sie sanft ersticken: alle Geschenke waren auf sich bedacht, doch sie konnten nicht verhindern, daß das Bild sie in ihrer schlichten Dienstbarkeit herabsetzte. [Fußnote 8]Siegfried Lenz: Deutschstunde, Frankfurt am Main 1970, S. 60.

Die Situation hat eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen im Magazin oder im Museum. Die Dinge liegen eng beieinander, und jedes ist „auf sich bedacht“. Dennoch ist unverkennbar, dass Perspektive und Aspekt anders sind. Der verzweifelte Trotz der nach dem Tod ihrer Besitzer „zwischengelagerten“ Gegenstände und die erschöpfte Melancholie der Museumsexponate in Ogawas Roman sind keine sprachlichen Gestaltungsphänomene. Im Gegensatz zur stilistisch raffinierten und amüsanten Stelle bei Siegfried Lenz wird im Museum der Stille das tatsächliche Befinden der Dinge charakterisiert.

Batterien im Mondschein

Zu guter Letzt wollen wir noch eine etwas humorvollere Schilderung der von ihrer Arbeit erschöpften Materie präsentieren. Auch die bereits erwähnte Autorin Hiromi Kawakami (geb. 1958) beschwört in ihrem Roman Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß [Fußnote 9]Hiromi Kawakami: Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß, München 2008, S. 11. die japanische Achtung vor dem Eigenleben der Gegenstände. Im Kapitel „Batterien im Mondschein“ besucht die Heldin Tsukiko, die sich mit beinahe vierzig Jahren in ihren dreißig Jahre älteren ehemaligen Japanischlehrer verliebt hat, diesen alten Herrn, ihren Sensei, zum ersten Mal in seinem Haus. Und er zeigt ihr – statt einer Briefmarkensammlung – eine ganz andere Sammlung:

„Ich kann eben nichts wegwerfen“ [, sagte er]. Wieder ging er ins Nebenzimmer. Diesmal kehrte er mit mehreren kleinen Plastiktüten zurück. Er knotete eine davon auf, und eine Menge mit schwarzem Filzstift beschrifteter Batterien kam zum Vorschein: „Rasierer“, „Wanduhr“, „Radio“, „Taschenlampe“. Er griff eine A2-Batterie heraus. […] „Diese gehörte zu meinem ersten Kassettenrekorder.“ […] Schließlich könne man Batterien, die einem so brav gedient hätten, nicht einfach wegwerfen. Das wäre herzlos. Es sei nicht anständig, sie, die bis dahin Licht und Töne erzeugt hätten, in den Müll zu schmeißen, nur weil sie leer seien. „Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Tsukiko?“ Der Sensei sah mir ins Gesicht. Eigentlich hatte ich dazu keine Meinung, rang mir aber zum fünfzehnten oder sechzehnten Mal an diesem Abend ein Ja ab. Ich strich über eine der vielen unterschiedlichen Batterien. Sie war rostig und fühlte sich feucht an. An der Seite stand „Casiorechner“. […] Später am Abend kramt der alte Lehrer einen Batterieprüfer hervor. Nun überprüfte er jede einzelne seiner zahllosen Batterien. Bei den meisten rührte sich die Nadel nicht, wenn der die Klemme ansetzte. Sooft die Nadel ausnahmsweise doch einmal zuckte, stieß er ein leises „Ah“ hervor. „Es ist noch Leben drin“, sagte ich dann, und er nickte kurz. […] Eine Weile betrachteten wir schweigend den Mond.“ (S. 11 ff.)

Der humoristische Ton, den Kawakami in dieser Szene anschlägt, täuscht nicht darüber hinweg, dass der Respekt, den der alte Lehrer den Dingen entgegenbringt, die viel jüngere Frau trotz ihrer äußerlichen Genervtheit berührt. Die Autorin lässt in diesem Anfangskapitel, in dem der alte traditionell denkende Mann und die junge Frau, die ein modernes Single-Leben führt, einander näher kommen, bewusst Bilder des Traditionellen und Modernen (Mond und Batterien) aufeinandertreffen. Die Gewohnheit des Lehrers, unbrauchbar gewordene Dinge wie dienstbare Gefährten zu behandeln und ihnen über ihre Funktionsfähigkeit hinaus einen Platz in seinem Haus einzuräumen, versinnbildlicht hier offenbar einen Gemütszustand, der der jüngeren Tsukiko nicht sofort einsichtig ist.

Schluss

Bisher stützt sich unsere These von den lebendigen Dingen in der japanischen Wahrnehmungs- und Gestaltungstradition nahezu ausschließlich auf von uns selbst übersetzte Prosatexte. Wir hoffen, dass wir im Zuge unserer Arbeit noch Gelegenheit haben werden, andere Genres, Epochen und vielleicht sogar linguistische Besonderheiten in der Tiefenstruktur des Japanischen in unsere Vermutungen einzubeziehen.

Für die Praxis haben wir uns vorgenommen, von nun an immer genau über die Verwendung des deutschen Wortes „Gegenstand“ nachzudenken.