Sprache als Brücke über die Trümmer Babels
von Jürgen Brôcan
In den Bemerkungen zum West-östlichen Divan unterscheidet Goethe drei grundlegende Kategorien von Übersetzungen dichterischer Werke: die Prosaübersetzung, die primär der Vermittlung des Fremden diene und dabei alle stilistischen Eigentümlichkeiten aufhebe; die „parodistische“ Übersetzung, die man nach modernerer Terminologie als einbürgernde oder adaptierende bezeichnet, weil sie fremde Elemente durch vergleichbare aus der eigenen Sprache und Kultur ersetzt; und eine Übersetzung, die sich „dem Original identisch“ machen und an dessen Stelle treten möchte. Auch wenn alle drei Möglichkeiten auf ihre jeweils eigene Art eine „Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten“ darstellen, gibt Goethe deutlich der letzten den Vorzug. Doch entsprechen die vorhandenen Übersetzungen tatsächlich einer solchen kategorischen Definition, verschwimmen die Grenzen nicht vielmehr?
Inzwischen sind Goethes Kategorien natürlich von wissenschaftlicher Seite und aus den Reihen der ‚Praktiker‘ — hier ist vor allem Ezra Pound zu nennen, Dichter und Übersetzer in Personalunion — weiter differenziert, diskutiert, zuweilen auch verworfen worden; daß sie aber keinesfalls veraltet oder sogar überholt sind, beweisen Übersetzungen aus den letzten fünfzig Jahren zu Genüge.
Beginnen wir mit einem oft zitierten Bild: den Trümmern Babels. Wenn auf ihnen jede Sprache ihr ‚künstlerisches Paradies‘ gefunden hat, dann wäre es Aufgabe der Übersetzung, gangbare Wege vom einen zum anderen zu bahnen. Aber nach welchen Grundrissen, welchen Maßstäben? Das Übersetzen von Texten erfordert fraglos die Beherrschung des Handwerks, das noch im Ursprung des Wortes translatio steckt, Verpflanzen und Versetzen, sie erfordert aber ebenso Inspiration und Kreativität: das Lateinische kennt für das literarische Übersetzen eine Vielzahl Worte, die vor allem in den Bereich des Interpretierens und Imitierens weisen.
Zunächst ist Übersetzen eine Form der Textkritik, denn sie setzt sich mit dem Originalwerk auseinander, schließt es auf und erweitert dabei (selbstverständlich selektiv) unser kulturelles Gedächtnis und liefert einen Beitrag zur nicht-kommerziellen Globalisierung. Eine solche übersetzerische Interpretation erschöpft sich nicht im Verstehen grammatischer und lexikalischer Strukturen, sondern erfaßt, soweit möglich, Spiel- und Zwischenräume, wobei von Anfang an Kunstfertigkeit und Sensiblität gefragt sind. Das Gedicht, flügge von seinem Autor in die Welt entlassen, ist ein Individuum und bringt in der Regel eine Eigengesetzlichkeit mit, deren Übertragung in eine andere Sprache vor allem in sich stimmig sein muß, damit das auf diese Weise entstandene Werk ebenfalls Individualiät erlangt.
„Nach Babel“: es gibt menschlich Gemeinsames, Verbindendes, wenn nicht in der Sprache, dann in der Erfahrung, ohne die eine Sprache leeres Geplauder wäre. So wie die Welt von unseren Sinnen interpretiert wird, macht das Gedicht in der Übersetzung eine Transformation durch: Es bleibt ein Abstand zum Original, es gehen bestimmte Aspekte verloren, dafür kommen andere hinzu. Die Übersetzung befindet sich in stärkerer Bewegung als das historisch einmal niedergelegte Original, sie kann in allen Zeiten neu erarbeitet und wiederholt werden, ein Werk zwischen fixierten Stadien, von einer für gültig befundenen Form zur nächsten, ein transitorisches Werk, eines des Durchgangs, der Passagen, abhängig von Moden, Gewohnheiten, Ideologien und anderen konzeptionellen Erwägungen. Es transportiert nicht bloß ‚Etwas‘, von Ufer zu Ufer der Wörter, sondern erinnert uns auch an das Fließende der eigenen und der fremden Sprache selbst. Am sinnfälligsten scheint es daher, die Übersetzung als einen Prozeß aufzufassen: als dauernde Bewegung, ständige Abstimmung zwischen dem Eigenen und dem Anderen.
Wer übersetzt, steht vor unlösbaren Problemen und ist zu ‚faulen Kompromissen‘ gezwungen. Philologische Korrektheit, feuilletonistisch manchmal gleichgesetzt mit größtmöglicher Wörtlichkeit, scheint ein Bildungsrelikt, leicht überprüfbar, Sicherheit suggerierend, wo keine existiert: sie setzt voraus, daß sich die verschiedenen Aspekte der einen und der anderen Sprache vollkommen und ohne Verluste zur Deckung bringen lassen.
Wer übersetzt, tut dies in seiner jeweiligen Zeit und für sein jeweiliges Publikum. Die Übersetzung (oder besser: das Übersetzen) wäre demnach niemals ausgeschöpft, es eröffnen sich stets weitere Möglichkeiten, neue Einsichten, andere Ausleuchtungen bislang unentdeckter Details: eine „unendliche Aufgabe“ (Klaus Reichert). Übersetzen meint: ein kalkuliertes Spiel mit allen — plausiblen — Möglichkeiten der eigenen und mit den Bedeutungen einer anderen Sprache. Gerade die Vielfalt potentieller Übertragungsmöglichkeiten eines Gedichts, gereimt oder ungereimt, metrisch oder prosaisch, enthüllt die Spanne kreativer Interpretationen.
Auf der Ebene der Sprachmittlung sieht sich der Übersetzer mit übersetzbaren und nicht übersetzbaren Elementen konfrontiert. Er bildet Wortspiele nach, wobei das ursprüngliche Bild unter Umständen verloren geht, er imitiert Klänge, Vokalharmonien, Alliteration, er ahmt Strukturen nach, ohne vielleicht die selben Klanggebilde wiedergeben zu können. Ein Merkmal besonders der modernen Dichtung ist oft nur unter Verlusten zu imitieren: die Zeilenbrüche, die mit dem letzten und dem ersten Wort einer Zeile einen Bedeutungsschwerpunkt setzen. Die Übersetzung kann im Bemühen um Wirkungsäquivalenz solche Brüche nachahmen, indem sie die Prinzipien des Autors auf die eigene Sprache anwendet, doch sie wird niemals in Gestalt eines ganz und gar identischen Klons erscheinen.
In gewisser Weise ist der Akt des Übersetzens mit dem Vorgang, Noten zum Klingen zu bringen vergleichbar. Beides zielt vor allem auf ästhetischen Genuß ab. Die Fragen, denen man bei der Passage vom Original zur Übersetzung begegnet, sind vielfältig: Welche Wirkungsintentionen hat der Text mutmaßlich? Welchen Ort hat der Stil des zu übersetzenden Werkes innerhalb von dessen Sprache und Literatur, und welche angemessene Entsprechung könnte gefunden werden? Welche Kulturelemente sind vorhanden? Selbst die Übersetzung von Texten aus einem nicht einmal als sonderlich ‚fremd‘ empfundenen Kulturraum führt uns diese Problematik vor Augen. Namen von Pflanzen, Tieren, Orten und besonders bestimmter Konsumgütern tragen oft ein hohes Maß an konnotativer Bedeutung in sich, für die es eben kein Äquivalent gibt. (Der Black Forest ist nicht der Schwarzwald. Und „Oreos“ spielen im kulturellen Leben der USA eine ganz andere Rolle als beispielsweise die „Prinzenrolle“ von de Beukelaer.) Das Faktum selbst ist und bleibt dann der ‚Fremdkörper‘ in einem ansonsten anverwandelten Textkörper. Es gibt keine ‚reine‘ Übersetzung.
Wenn die kulturelle Distanz zudem eine historische ist, gerät die Übersetzung in ein besonderes Dilemma, abzulesen an der griechischen und römischen Literatur in Übersetzungen — überaus exakt sind sie, doch Dichtung häufig leider nicht. Wer erfaßt heute, wo die Städte rohrfundiert sind und Wasserhähne jeden Haushalt versorgen, wo Vorgärten und Golfrasen in verschwenderischem Überfluß gesprengt werden, die ganze Bedeutung des „Wassers des Lebens“, von dem die Offenbarung des Johannes spricht, wertvoller als Gold und Edelsteine, kostbarstes der göttlichen Heilsversprechen? Solche Bilder müssen erhalten bleiben und setzen die interessierte Hinwendung des Lesers voraus. Was imitiert werden kann, ist der sperrige, eigentümliche Stil dieses visionären Großgedichts, voller scheinbarer Fehler und Solözismen. Die Entscheidungen der Anverwandlung, eine weitere Bedeutung des lateinischen Begriffs translatio, sind Entscheidungen über die angestrebte Wirkung, die, in diesem Fall, wesentlich stilistischer Natur sind und vielleicht einem expressionistischen Duktus entsprechen.
Das berührt den alten Streit zwischen Übersetzern, in welchem Maß das Fremde erhalten bleiben solle oder nicht. Auf der einen Seite widerspricht ein — vielleicht sogar als störend empfundener — ‚Fremdkörper‘ der Wirkungsäquivalenz, auf der anderen Seite jedoch belebt er die eigene Sprachwelt und eröffnet ungehörte, ja unerhörte Möglichkeiten für sie. Die Übersetzung, die Nach-Dichtung ist, gezähmte Freiheit, bemüht sich um Wörtlichkeit und versucht zugleich, in die Eingeweide der anderen Sprache zu dringen und dort jene Freiräume zu entdecken, die die Textaneignung den simplen Kategorien von ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ enthebt.
In der gegenwärtigen Verlagslandschaft ist diese Art der Übersetzung nicht besonders willkommen; es ist vielmehr die Tendenz zu beobachten, Abweichung von einem als Norm empfundenen Stil zu nivellieren und Eigentümlichkeiten (das Salz der Lyrik!) zu verflachen. An dieser Stelle muß ein Phänomen ins Spiel kommen, daß wir als ‚kreatives Mißverständnis‘ bezeichnen können. Damit sind nicht grobe Schnitzer und kleine Patzer gemeint. Es ist das Material selbst, das zu solchen Verlesungen verführt und in der Übersetzung Bedeutungen annimmt, an die sein Autor womöglich nie gedacht hat.
Es gibt zwei Übersetzungsmaximen, behauptet Goethe in seiner Gedenkrede auf Wieland, in Nachbarschaft zum West-östlichen Divan entstanden: entweder den Text zum Leser hin oder den Leser hin zum Text zu bewegen. Wieland, dem wir treffliche Eindeutschungen von Horaz, Lukian und Shakespeare verdanken, habe stets „den Mittelweg“ gesucht, der die Vorzüge beider verbinde. Das übersetzte Werk, im doppelten Sinn eine ‚Ver-Mittelung‘, ist ein instabiles Gebilde, nach allen Seiten hin offen, durchlässig, auch verletzlich. Darin mag sein Reiz liegen.
Deutsches Original des in „Art & Thought“ (79/2004) erschienenen Essays „Translation as Work in Transit“.
© Jürgen Brôcan