Chava Rosenfarb

von Sandra Israel-Niang

The process of translation, of moving from one language to another, closely mirrors my own experience as a writer, driven from one country to another and from one language to another (…) In my youth, when I voraciously read the works of the great european writers, they all spoke to me in Yiddish, because I read them in Yiddish translations. Yiddish was my Esperanto, my key to understanding the lives of the other peoples. It established the affinity between them and me giving me an entry to the obscurrest corners of the human soul. To me, Yiddish was never a parochial language. On the contrary, Yiddish literature was a splendid edifice, with open doors and windows. [Fußnote 1]Chava Rosenfarb: „A yiddish writer reflects on translation“, in: Goldie Morgentaler (Hg.): Confessions of a yiddish writer and other essays (S.177-191), Montreal & Kingston. 2019 (S. 189)

„װאַנדערונגען איבער אינערװײניקסטע קאָנטינענטן – Wanderungen durch innerste Kontinente“ [Fußnote 2]Chava Rosenfarb: „Vanderungen iber inerveynikste kontinentn – notitsn“, in: Di goldene keyt 88, S. 156-68, Tel Aviv. 1975 ist der Titel eines Essays der 1923 geborenen, jiddischen Schriftstellerin Chava Rosenfarb, der Stefan Zweigs Europa in „Die Welt von gestern“ zum Anlass nimmt, um den eigenen Legenden ihres Lebens nachzuspüren, ihrer Kindheit in Łódź und ihrer Jugend im Łódźer Ghetto, mit dem Wissen, das was und wie man das Eigene erinnert, zur wahren und bedeutungsvollen Geschichte jedes Menschen wird. „Durch innere Kontinente“ heißt der von mir herausgegebene Band mit einer Auswahl von Rosenfarbs Texten, die ihren inneren Kontinenten, ihren unterschiedlichen biographischen Stationen, anhand von ausgewählten Kurzgeschichten, Gedichten, Tagebucheinträgen, Essays und Romanauszügen nachgeht und damit gleichzeitig ihre vielfältiges Schaffen aufzeigt. Ohne den Superlativ und mit insgesamt etwas verkürztem Titel verstehe ich ihn als eine Annäherung: Ein kleiner Band, der nicht das Werk abzubilden vermag, bei dem schon ein einziger Roman über tausend Seiten zählt, aber vielleicht eine Art Landkarte und ihrem eingezeichneten Skopus darauf.

Nach drei Gedichtbänden widmete sich Rosenfarb der Prosa, verfasste eine Trilogie über den Untergang der Łódźer jüdischen Gemeinschaft – damals ziemlich genau einem Drittel der gesamtem Stadtbevölkerung – und das als eine der ersten shayrets hapleyte, also Überlebenden des חורבן khurbn (jiddische Bezeichnung für die Shoa, den Holocaust), die sich ihren Erlebnissen literarisch in Form von Fiktion stellten, sie schreibt zwei weitere Romane und behandelt damit einen Zeitraum von über hundert Jahren polnischer Geschichte vor- und kanadischer Exilgeschichte nach dem khurbn.

Eine Wanderung über Kontinente hinweg ist auch die Entstehung und Geschichte der Jiddischen Sprache. Diese will ich im Folgenden zuerst grob umreißen, bevor ich Rosenfarbs eigene Einsichten über Übersetzung zusammenfasse und in einem letzten Teil anhand von Fragmenten aus Chava Rosenfarbs Bergen-Belsen-Tagebuch einige Besonderheiten der Jiddischen Sprache aufzeige, und im Speziellen die Herausforderungen bei der Übersetzung dieser Autorin schildern möchte.

Jiddisch entstand vor etwas tausend Jahren als Sprache der aschkenasischen Juden im deutschsprachigen Raum. Die jüdischen Siedler an Rhein und Donau verbanden ihre früheren Sprachen mit dem Germanischen ihrer neuen Nachbarn und brachten so die früheste Form des Jiddischen hervor (Die Sprache weist in ihrer frühen Form neben dem Mittelhochdeutschen eine hebräisch-aramäische Komponente, sowie romanische (altfranzösische und -italienische) Einflüsse auf). Linguisten forschen nach den von Max Weinreich und Shloyme Birnbaum gelegten Grundlagen weiter, ob der Klang der Sprache, der eher für die Entstehung in den frühesten Siedlungsgebieten, den sogenannten Shumstädten Speyer, Worms und Mainz stand, zugunsten auf einem Schwerpunkt auf die grammatikalischen Strukturen, die bayerischen Dialekten sehr nahe kommen, eher für die Gegend um Regensburg, Rotenburg und evtl. sogar bis nach Prag sprechen (vgl z.B. Dovid Katz).

Das erste schriftliche Zeugnis stammt aus einem makhzor (Gebet-)Buch von 1272. Die älteste bekannte Textsammlung, der sog. Cambridge Codex von 1382, zeugt bereits von einer literarischen Tradition, die sich in der jüdischen- und allgemein europäischen Tradition verortet, und sowohl religiöse als auch weltliche Texte enthält. Durch Abwanderung und Vertreibungen gelangte Jiddisch nach Osteuropa, wo sich angereichert mit slawischen Umgebungssprachen der ostjiddische Zweig der Sprache entwickelte. Westjiddisch, das währenddessen auch im Elsass, Italien und den Niederlanden Heimat gefunden hatte, verschwand im Zuge der Aufklärung durch Assimilierung seiner SprecherInnen fast vollständig.

Die meiner Ansicht nach wichtigere Dialektunterteilung besteht innerhalb des noch gesprochenen modernen (dem als Ostjiddisch bezeichneten) Jiddisch: Es wird in drei Hauptdialekte unterschieden: dem Nordöstlichen Jiddisch (auch Litvish-Jiddisch, Mittel- oder Zentral-Jiddisch (Polnisch-Jiddisch) und Südöstliches Jiddisch (Ukranisches Jiddisch). Die geographischen Namen ermöglichen nicht die vollständige Verbreitungsweite der Teile Mittel- und Osteuropas aufzuzeigen, in denen Jiddisch vertreten war. Jenes Gebiet erstreckte sich über Polen, Litauen, Lettland und Estland, Weißrussland, Rumänien, die Ukraine, Russland, Ungarn, die Slowakei, Moldawien und ehemalige Bessarabien.

Das Ostjiddische erlebte in den folgenden Jahrhunderten eine gegenläufige Entwicklung als der Westjiddische Zweig. Mehrere Faktoren sorgten für einen Aufschwung des Jiddischen: Zum einen wurde es von den Maskilim genutzt um die Ideale der Haskala, der jüdischen Aufklärung, zu verbreiten, und zum anderen, um die Massen für die Ziele der Arbeiterbewegung zu erreichen. Ende des Neunzehnten Jahrhunderts sieht man als den Beginn der klassischen, modernen Literatur mit den drei Schriftstellern Mendele Moykher Sforim (Sholem Yankev Abramovitch), Y.L. Peretz und Scholem Alejcheim (Sholem Yankev Rabinovitsh).

Es entstand eine eigene jiddische Arbeiterbewegung, der Bund, der neben besseren Arbeits- und Lebensbedingungen auch kulturelle Autonomie einforderte und ein eigenes Schulsystem schuf, eine reiche Presselandschaft und Verlagshäuser mit ihrer größten Dichte in Vilnius, Warschau und Kiev. Das jiddische Theater feierte Erfolge auch beim nicht-jüdischen Publikum und 1925 wurde das YIVO (Jewish Intistute for Jewish Research) gegründet, das bis 1940 seinen Sitz in Vilnius hatte.

Zu den größten jiddischsprachigen Dichtern/ Schriftstellern, die in der nur etwa hundert Jahre andauernden, explosionsartigen Blütezeit der jiddischen Literatur beitrugen, zählten Yoseph Opatashu, Kadya Molodovsky, H. Leyvik, Dovid Bergelson, Moyshe Kulbak, Avrom Reyzen, Rokhl Korn, Itsik Manger, Dvoyre Fogel, Yankev Glatshteyn, Chaim Grade. u.v.m…

In mehreren Auswanderungswellen gelangte Jiddisch mit den Exilanten seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts auf den nord- und südameríkanischen Kontinent, nach Südafrika, Israel und Australien. Vor dem zweiten Weltkrieg hatte Jiddisch ca. 12-13 Millionen Sprecher. Der Großteil der sechs Millionen jüdischen Opfer des khurbn waren jiddische Muttersprachler.

Die Entwicklung fortdauernder Sprachgemeinschaften nach der drastischen Reduktion durch den Holocaust wurde für die im Exil verstreut lebenden Überlebenden weitgehend verhindert, sei es durch stalinistische Repressionen in der Sowjetunion, die hebräische Kampagne gegen die Sprache im jungen Staat Israel (wobei ein interessanter Faktor ist, dass Jiddisch wiederum das moderne Ivrit beeinflusste), sowie massive Assimilation dieser und der Folgegeneration zu Englisch und anderen westlichen Sprachen, in den Ländern, in die Juden auswanderten. Nur in den größeren Zentren, beispielsweise New York, Montreal, Buenos Aires, Moskau, Paris und Melbourne konnten sich jiddische Sprach- und Kulturinseln zuerst noch weiter erhalten. Die bedeutende jiddische Literaturzeitschrift, die der Dichter Avrom Sutzkever in Israel verlegte und darin Schriftsteller aus der ganzen Welt veröffentlichte, wurde beispielsweise Mitte der neunziger Jahre eingestellt.

Eine Ausnahme von dem Allen bilden die chassidischen Gemeinschaften, besonders in Williamsburg and Borough Park in New York, Stamford Hill in London, in Antwerpen und Israels Mea shearim , wo die גאָלדענע קײט goldene keyt, die lückenlose Weitergabe des Jiddischen an die nächste Generation weiterhin gelingt, die Zahl der jiddischen Muttersprachler besonders in den USA kontinuierlich wächst, und mit ihr eine verblüffend große Zahl an Publikationen (viele Begriffe aus dem Englischen gelangen genau hier in die Sprache, einen Dialekt aus den ehemals ungarischrumänischen Herkunftsgebieten.)

Heute beläuft sich die Zahl auf geschätzt etwa eine Millionen, neben den chassidischen oder haredischen Juden lernen auch viele Menschen der Enkelgeneration der letzten nicht religiösen Muttersprachler wieder Jiddisch und begeben sich auf kulturelle Spurensuche, Jiddischisten forschen weltweit auf akademischen Gebiet über Aspekte dieser besonderen, genuin europäischen und faktisch seltenen Weltsprache ohne eigenes Territorium.

An Universitäten wird heute die sogenannte Klalsprokh („Literarisches“ Jiddisch) gelehrt, was eine Standardisierte Fassung meint, die aber weiterhin lokale Varietäten nicht ausschließt, jedoch hinsichtlich von Vokalfärbung und grammatikalischen Besonderheiten vereinheitlichende Entscheidungen getroffen hat.

Durch den Reichtum der Sprache, die in jeder Region eine andere Ausprägung erlangt, von verschiedensten Umgebungssprachen angereichert wurde und wird, lässt sich imaginieren, das eine Übersetzung ein nicht geringes Repertoire an lexikalischen Variantenreichtum sowie kulturspezifischen als auch interkulturellen Kenntnissen bereitstellen muss. [Fußnote 3]Für eine umfassende Darstellung der Geschichte der Jiddische Sprache empfehle ich den entsprechenden Eintrag in der YIVO-Enzyklopädie

Chava Rosenfarb als Selbstübersetzerin

Chava Rosenfarb wusste um die Bedeutung von Übersetzung, als sie mit dem Schreiben begann. In einem Vortrag der Literary Translators Association of Canada and the United States sagte sie: “I looked upon translation as a form of rescue, and a lifeline to the future.“, und weiter auf deutsch: “Unsere Einzimmerwohnung war voller jiddischer Bücher, denn meine Eltern waren leidenschaftliche Leser. Sie kannten keine andere Sprache außer ihrer Muttersprache Jiddisch, ein Umstand, der meinem Vater große Schwierigkeiten bereitete. Er war Kellner in einem gehobenen Restaurant auf der eleganten Piotrkowska Straße in Lodz. Er hatte die Speisekarte auf polnisch auswendig gelernt, dazu einige Standardfloskeln und für den Rest, gab er vor die Wünsche der Kunden vollkommen zu verstehen, vertraute auf das eigene kärgliche Vokabular aus polnischen Begriffen und die Hilfe des Allmächtigen, an den er nicht glaubte – denn er war Sozialist. Die immer gegenwärtige Angst seine Arbeit zu verlieren, motivierte meinen Vater Polnisch so schnell als irgend möglich zu erlernen. Aber er beherrschte es niemals gut und verlor nie seinen jiddischen Akzent, der dafür sorgte, dass man sich über ihn lustig machte und mitunter sogar von sprachsensiblen bis antisemitischen, polnischen Kunden beschimpft wurde. [Fußnote 4]Rosenfarb, „A yiddish writer…“, S. 184

Im Ghetto, als jüngstes Mitglied der Schriftstellergruppe um Miriam Ulinover suchte sie mit den anderen Autoren nach Übersetzern für ihre Werke, die sie gesammelt und auf Polnisch übersetzt vergraben- und so vor dem Untergang bewahren wollten. Sie fanden niemanden Geeigneten.

Nach fünf Jahren in Brüssel emigrierte Rosenfarb mit ihrer Familie nach Montreal:

Montreal in the 1950s was a marvel as far as Yiddish culture was concerned. It bustled with a lively intellectual and social life, was home to several important Yiddish writers, and boasted a Yiddish library and a system of private Yiddish-language day schools. to which I sent my children. But while I found in Canada a Jewish community that still spoke Yiddish, the focus of the community had turned away from the universalism of my european past to more specifically Jewish concerns. (…)

It was in Montreal that I wrote my novels, and I wrote them in Yiddish because it was the language in which I was most at home; it was the language that I knew like the map of my own heart. I could create in no other language. And I wrote in Yiddish out of a sense of loyalty to the vanished world of my youth, out of a sense of obligation to a word that no longer existed. And yet, I gradually became aware that yiddish was in trouble, in Montreal and in the world at large. (…)

What affects me the most is the continual sense of isolation that I feel as a Holocaust survivor, an isolation enhanced by my being a Yiddish writer, I feel myself to be an anachroism, wandering across a page of history where I do not really belong. If writing is a lonely profession, the Yiddish writer’s lonelyness has an additional dimension. Her readership has perished.[Fußnote 5]Ebd.: S. 190

Rosenfarb fühlte sich, um weiterhin gelesen zu werden, wieder gezwungen nach einem Übersetzer zu suchen: Ihre Tochter nahm sich eher widerwillig dem Theaterstück über Itzik Wittenberg und den Aufstand im Vilnaer Ghetto „Foygl fun geto“ an und übersetzte ihn dreizehnjährig ins Englische. Selbst schrieb Rosenfarb zwei ihrer Romane auf Englisch neu, am liebsten übersetzte sie jedoch fortan mit ihrer Tochter gemeinsam, laut derer die Diskussionen oftmals zu derben Streitgesprächen anwuchsen, da Rosenfarb häufig nicht einsehen wollte, weshalb eine bestimmte Ausdrucksweise auf Englisch, wenn sie so stehen bliebe, nicht mehr als Englisch bezeichnet werden könne.

Chava Rosenfarb übersetzen

Was war nun das Besondere bei der Übersetzung von Chava Rosenfarb für mich? Ein Blick auf einige Einträge aus ihrem Tagebuch, das sie nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen durch die britische Armee im DP-Camp verfasste, soll dies verdeutlichen.

Rosenfarb selbst sagt, Yiddish sei eine Sprache des „overstatement, of highly charged emotions. Nobody ever just cries in Yiddish; they cry with tears, they cry out their eyes, they cry so as to sink a ship with buttermilk.. Curses are never short and cutting in Yiddish… The curse is deliberately made fantastical, because it is never meant to become true.[Fußnote 6]Ebd. (S. 188)

Allgemein finden sich in ihren Texten eine große Anzahl polnischer Begriffe, orthographisch (was für die Übersetzung weniger relevant ist, als für meine Fähigkeit nach der langen Zeit der Beschäftigung mit ihr, Worte noch richtig auszusprechen, unterscheidet sie nicht zwischen den Vokalen ײ und ײַ (tsvay yudn un tsvay yudn pasekh), was den Lauten ay bzw. ey entspricht. Dies führte allerdings zu nicht wenigen editorischen Disputen mit Avrom Sutskever, mit dem sie sonst freundschaftlich verbunden war. Die Texte wurden von Rosenfarb in unterschiedlichen Phasen ihrer Schriftstellerkarriere und literarischen Entwicklung verfasst, dazu gehören sie wie oben erwähnt zu unterschiedlichsten Gattungen auch das erforderte Achtsamkeit und musste ich versuchen mitzuvollziehen.

Als Sprachliche Mittel verwendet sie in ihrem Tagebuch häufig Parallelismus, Anaphern und Lautmalerei; auf eine deutsche Leserschaft mögen eine nicht geringe Anzahl an Formulierungen etwas pathoslastig erscheinen. Diese Wirkung etwas abzuschwächen ohne ihrer Sprache untreu zu werden, war eine der Aufgaben, die sich mir stellten. Schwerwiegende Entscheidungen musste ich in diesem Teil durch ihre sehr klare und bildhafte Sprache, die sofort eingängig und unmissverständlich wirkt, zwar nicht treffen. Ich hoffe aber, dass einige der folgenden Überlegungen zum Übersetzungsprozess dennoch von Interesse sind und uns zum anschließenden Austausch animieren.

Erster Eintrag:

Bergen-Belsen
6. Mai 1945
Wo bist Du tate? Wo bist Du? Heute zum ersten Mal wieder, halte ich einen Stift in der Hand. Meine Finger zittern über dem weißen Papier. Wo ist Deine warme, sichere Hand, die meine fiebernden Finger umfasst und mir aufs Neue das Geheimnis unseres heiligen alef-beys offenbart… Wie früher, als ich ein Kind war und Deine Arme meinen Kopf stützten, dein warmer Atem meine Wangen streichelte. Du hast meine Hand über weiße, saubere Linien geführt. „Tate“ haben wir geschrieben und die vier kleinen Buchstaben leuchteten auf, bis das Wort Bedeutung erhielt. Bis ich in ihnen Dein Lächeln entdeckte. „Tate“. [Fußnote 7]Texte des Originals: Chava Rosenfarb: Geto un andre lider oykh fragmentn fun a togbukh, Montreal. 1948

Zu Beginn nenne ich ihnen zwei Begriffe, die ich nicht übersetzt habe, um etwas über meine Übersetzung zu sagen:

אלף־בּית alef beys: Sie hören es selbst schon heraus: Das Alphabet, aber es ist nicht das Lateinische, sondern das Hebräische Alphabet. Mit dem Hebräischen Alphabet und von rechts nach links wird auch die jiddische Sprache geschrieben. Da bei ihrer Entstehung, die deutsche Sprache von den Nachbarn im Allgemeinen noch nicht als Schriftsprache genutzt wurde, lag es nahe sich der bekannten und verwendeten hebräischen Schrift zu bedienen. Um das Besondere, Herausgehobene zu betonen, das gleichzeitig eine wichtige Information enthält, die durch eine Übersetzung nicht mehr so transparent gewesen wäre, war diese Entscheidung keine, die lange überlegt sein musste.

Ähnliche Argumente habe ich für das zweite nicht übersetze Wort dieser Passage: Das Wort טאַטע tate, Vater (das ich in einer Fußnote erkläre) zieht sich durch das gesamte Tagebuch, es ist das Warten auf ihn im Lager, die Suche nach ihm, die Chava und ihre Schwester bis nach Süddeutschland führte, die Erinnerungen an ihn, die sich für mich am besten durch die Muttersprache wiedergeben lassen, und dadurch die besondere Beziehung verdeutlichen. Kontrastierend wird die Mutter (jiddisch: mame), „Mutter“ genannt.

7. Mai:
„Wohin ich auch schaue, sehe ich Dich. Worüber ich auch nachdenke – meine Gedanken sind bei Dir. Wo bist Du, tate? Werde ich Dich einmal umarmen können und dich um Vergebung bitten?“

Wenn diese Sätze Sie an etwas erinnern, habe ich etwas richtig gemacht. Für mich klangen sie nach einem Psalm. Ein Psalm von einer bundistisch erzogenen und nicht „religiösen“ jungen Frau? Hier half mir ein wenig biographisches Wissen über die Autorin weiter, um sicher zu gehen, dass es keine falsche Entscheidung war, den Klang des Satzes so wiederzugeben, wie ich einen ähnlichen Vers erinnere.

Rosenfarb hatte im Łódźer Ghetto einen kleinen Auftrag in der sog. „Wissenschaftlichen Abteilung“ erhalten können, der ihr ein zusätzliches Stück Brot mit Butter sicherte. Es sollte ähnlich wie in Vilnius ein Jüdisches Museum nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten entstehen , hier unter der Leitung des Danziger Rabbiners Emmanuel Hirshberg und mit der Hilfe von jiddischen Künstlern, die Bilder und Figuren zum jüdischen Leben aufbauen sollten. Der Rabbiner bat Rosenfarb um die Mithilfe bei der Übersetzung von Psalmen aus dem Hebräischen ins Jiddische.

Es kann also angenommen werden, dass sie eine solche Nachbildung durchaus intendierte, die ich ebenso nachahmen sollte.

Im letzten Satz findet sich ein periphrastisches Verb, das eine Besonderheit im Jiddischen darstellt und ich deswegen kurz anmerke möchte, da es häufig Verwendung findet, auch wenn es hier für die Übersetzung selbst keine Schwierigkeit bereitete: moykhl zayn – vergeben, verzeihen (wörtl. hier im Imperativ:“זײ מוחל„) wird wie kharote hobn – bereuen, hanoe hobn- genießen, sich freuen, mamshekh zayn, weitermachen aus einer meist לשון־קודשדיק loshnkoydesh-stämmigen Wurzel plus einer konjugierten Form von hobn oder zayn gebildet.

10. Mai
Wenn ich nachts die Augen öffne, sehe ich Mutter und Henye vor mir. Sie wischen mir den Schweiß von der Stirn und fragen mich immer wieder, wie es mir geht. Wir zittern jetzt eine um die andere. Ich will sie beruhigen. Ich will ihnen sagen, dass wir keine Angst mehr haben müssen: Wir sind doch nun frei… Aber ich denke, wer von uns kann uns schon vor dem Tode bewahren, wenn nicht wir selbst? Nein wir sind noch alle hilflos.

Die Schwester Henye. Die Namen: Bei Rosenfarb treten sie als Yankev, Rokhl und viele andere als Varianten von Namen auf, die im Deutschen als – wie in diesem Fall Jakob und Rahel längst einen feststehenden Platz durch die biblische Traditionsgeschichte erhalten haben. Deshalb stellt sich schon die Frage, ob diese Tradition zugunsten der hier genuin jiddischen Namen außer acht gelassen werden kann, bzw. welche Position für die Texte eingenommen werden muss, damit die Figuren den Lesenden so begegnen, wie es von der Autorin gewollt war.

Auch hier kam sie mir selbst zu Hilfe. Denn wie oben erwähnt, übersetzten Chava Rosenfarb und ihre Tochter Goldie Morgentaler selbst ins Englische. Für ihre Englische Version von Bociany erhielt sie den kanadischen John Glassco Award for Literary Translation. Wie hat sie es selbst gehandhabt? Dies müsste das ihr gemäße Vorgehen sein. Das Nachsehen ergab, dass sie größtenteils das englische Äquivalent gewählt hatte. Dem schloss ich mich für die im Deutschen bekannten Namensentsprechungen an.

In diesem Fall plädierte jedoch der Verlag auf Einheitlichkeit, so dass sämtliche jiddische Namen auch in Standarttranskription übernommen worden sind, statt Henia, wie die Schwester innerhalb der Familie meines Wissens in Kanada selbst genannt worden ist und sich auch als Autorin einer Erinnerungsarbeit der shoafoundation selbst beszeichnet, Henye, statt dem bekannten Jakob das vielleicht fremder klingende Yankev usf.. Am Ende von langem Abwägen und Recherchen Kompromisse einzugehen, gehört eben auch dazu, und schmerzen mal weniger – wie an dieser Stelle-, und mal mehr.

13. Juni
Die Beschreibung eines Fiebertraums während ihrer Typhuserkrankung:
„Der Boden schwankte, der Himmel bebte. In meinem Körper glühte das Rot der untergehenden Sonne. Ich zog meine karierte Jacke aus, die ich auf der Schaukel getragen- und die mich umweht hatte. So lange, so lange, so unaufhörlich lange dauerte es, bis sich meine Hände vom Körper lösten und mit all meinen Fingern, die Jacke umklammernd, in die Tiefe -, in die Nacht gefallen waren. Ich wollte uns hinterher schauen, sehen, wohin sie fiel, wohin meine Hände mit ihr verschwanden, aber Tränen verschleierten meine Augen. Neben mir weinte mein Vater, seine Lippen weiß, zusammengepresst, und doch erreichte mich seine Stimme: „Töchterchen, ich habe Dir ein bisschen Suppe gebracht; dünne, weich gekochte Kartoffeln, und eine frische Möhre, gerieben in einen tsimes… nimm iss…“

Die Sache mit dem Diminutiv: Von deutscher Seite wurde und wird dem Jiddischen oft „Niedlichkeit“ nachgesagt, für Viele macht das die Sprache sogar attraktiv, nichtsdestoweniger ist dies eine Konstatierung, die in einer langen Tradition von Verunglimpfung und Herabsetzung der Sprache steht; wäre sie eine Person, würde man diesen Ausspruch heute zudem dem Alltagsrassismus zurechnen, ähnlich wie das Anfassen von gelocktem, dunkelbraunem Kinderhaar, und sollten vor allem in diesem Land endlich der Vergangenheit angehören.

Der Diminutiv im Jiddischen fasst zwei grammatikalische Termini: die farklener-formes fun subtantivn (in zwei Stufen der Verkleinerung) und die tsertl formes (die eine liebevolle Beziehung des Subjekts zum Objekt ausdrücken. Beide können auf verschiedenste Weise und unter zu Hilfe Name der unterschiedlichen Komponentensprachen ausgedrückt werden. Im Text findet sich „tokhtershi“, die liebevolle Anrede des Vaters, der sich um seine kranke Tochter sorgt und uns in diesem Fall wenig Mühe macht. Aber selbst das Adjektv jung und die Möhre stehen hier genau genommen im Diminutiv… Andere Endungen gehen oft mit einer Stammveränderung einher -l (kats, ketsl, und eine zweite Stufe ketsele), -ke, „-enyu“, inke, -ik, Häufig wird der Diminutiv gar nicht in die Zielsprache übersetzt, oder es werden andere Umschreibungen bzw. entsprechende andere, treffendere Worte gefunden (bspw. ist der „taykh“ ein Fluss, ein „taykhl“ dementsprechend ein Bach, weiter ginge es vielleicht mit einem Bächlein, Wasserlauf, Rinnsal…

1. Juli:
Wieder Bunim Shayevitsh im Traum gesehen. Aus einer Holzhütte schleppte er bündelweise Dokumente heraus. „Hast Du sie retten können?“ fragte ich ihn. Er antwortete strahlend: „Ich habe genug gerettet, nämlich „Israel Nobel“, er fing an mir das Gedicht vorzulesen. Doch plötzlich bereitete er sich wieder auf’s Fortgehen vor. Ich sagte zu ihm: „Wir sind doch bereits vertrieben worden. Erinnerst du dich nicht?“

Wörtlich steht hier: Ich habe genug gerettet, nur/einzig/bloß Israel Nobel. Ich habe mich für eine begründende Lösung entschieden, da meiner Ansicht nach andernfalls die Einzigartigkeit von „Israel Nobel“ nicht deutlich geworden wäre, bei dem es sich um das Hauptwerk seiner im Ghetto verfassten Lyrik handelt, das im Gegensatz zu zwei anderen Langgedichten, die nach Kriegsende in Baluty auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos aufgefunden wurden, verloren gegangen ist. Rosenfarb hat den bedeutenden Łódźer Poeten, dem sie schriftstellerisch nacheiferte, in zahlreichen Werken gewürdigt [Fußnote 9]Unter anderem ist Shayevitsh als Figur Berkovitsh einer der zehn Protagonisten im „Boym fun leben“, sie widmet ihm einen Essay (Rosenfarb, Chava: Simkha-Bunim Shayevitsh – dermoungen in: Di goldene keyt 131, S. 9-28, Tel Aviv. 1991) und in ihren Gedichten findet sich sein direkter Einfluss. und ihn und sein literarisches Schaffen vor dem Vergessen bewahrte.

5. Juli:
Rosenfarb erzählt von den vielen Menschen, die im Lager nach ihren Angehörigen suchen und schreibt: און אאלשר איז גאָר אַ לאַנג־געטראָגענער חלום אמת געװאָרן „Un efsher iz gor a lang getrogener kholem emes gevorn…“ Eine Phrase, die im Deutschen genauso bekannt ist. oder ist gar ein langgehegter Traum wahr geworden? Viele idiomatische Ausdrücke lassen sich eins zu eins ins Deutsche übertragen, da sie dasselbe kulturelle Erbe haben, ein Umstand, der für Deutschsprechende, wie ich finde, erwähnenswert ist.

Auf den Reichtum an Idiomen im Jiddischen weist auch der einzige jiddische Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer in seiner Rede anlässlich der Preisverleihung hin: „Warum schreiben Sie auf Jiddisch, werde ich häufig gefragt“, beginnt er diese und beantwortet die Frage wie er sagt „jiddischlekh“, nämlich mit einer Gegenfrage: „Warum nicht? Würde ich besser auf chinesisch oder auf türkisch schreiben? Wie sagt man auf Englisch „ein armer Mann“ und er nennt einige Übersetzungen, um dann folgende jiddische Entsprechungen aufzuzählen, und die Liste möchte ich ihnen an dieser Stelle kurz vorlesen. Singer versucht mit ihr Jiddisch auf den Platz der für ihn reichsten Sprache zu heben, deren Worte Charakter und Persönlichkeit transportieren (Seine Erklärungen, die er auf englisch einstreut, habe ich dabei auf Deutsch übersetzt):

Ein armer Mann:
(In Transkription:)„an oreman, an evyen, a kaptsn, a dalfn, a betler, a shleper, a shnorer, a kaptsnzon, a hungerman, a heyzer-geyer, a medine-yid, an orkhe-porkhe, a hekdesh-liger, a porets mit a lokh, a balebos iber a hayptl kroyt, a nitsrekh, a bederfer, a torbenik, on a hemd, a dales, a blitiker oreman, a kaptsn in zibn poles, vekaptsenyu yakhed, oyf gebrente tsores, oyf gehakte tsores, yad tsores“.

Und das ist bei weitem nicht alles: Wenn man sagt: „Er iz a tsvayter Rothshild“ oder „er iz a tsayter Rockefeller“ und dabei blinzelt, können wir annehmen dass er nichts zu essen hat. Außerdem kann man für ‚ein armer Mann‘ sagen: „er iz a yuyred“, a gefalener, a gebrokhener, an opgeforener, er kayt di erd, er leygt die tseyn in baytl, er maert zikh mitn toyt, er pekhnyet oyfn pisk, er hot fargesn dem tam fun a groshn, er geyt arum mit an oysgeshtrekter tsung, er shlingt dos shpayekhts, er khalesht far a bisn, und die Menschen werden wissen, dass er keinen Lebensunterhalt verdient.

Wenn Sie sich ganz klar ausdrücken wollen, können Sie sagen: Er peygert drey mol a tog far hunger, oder noch einfacher, er hot nisht keyn groshn bay der neshome.

In einigen Dörfern beschreibt man einen armen Mann als „naket vi a turk“, wieso ein Türke nackter sein soll, als jemand anderes weiß ich nicht, aber es ist das gleiche wie als würde man sagen: ez geyt im shlim shlamazl, mit der puter arop, vi a roshe oyf yener velt, vi a tsadek oyf der velt, ez nagt im untern lefele, er darf onkumen tsu kitsve, s’iz enkes meshaldeykhe, di neshome hengt im oyfn shpitsnoz, er geyt oys vi a likht, zusammengefasst: er fardint vaser oyf kashe, un ez is im a gants yor oyf peysakh: er hot nisht keyn shtikl broyt, farmegn zoln vir bayde vifil es felt im tsu finf dolar.“

Und er kommt zu dem Schluss: „So you have to be crazy, in my opinion, to exchange such a rich language as Yiddish for English.“ [Fußnote 10]Die komplette Rede von 1978: https://www.youtube.com/watch?v=4d8yeL0oEwU

Mein letztes Textbeispiel

19. Juli
„mir hobn opgeshtelt a man“

Die sprachliche Nähe zum Deutschen kann im lexikalische Bereich zu groben Fehlern in der Übersetzung verleiten, denn viele Worte die man allzu sorglos betrachtet und ihre Bedeutung aus dem Deutschen herleitet, können mitunter etwas ganz anderes oder sogar Gegenteiliges heißen. „Fundestvegn“ ist nicht etwa so etwas wie „deswegen“ sondern bedeutet „dennoch, trotzdem, nichtsdestoweniger.“ Und in diesem Fall „hobn opgeshtelt,“ meint nicht jemanden stehengelassen zu haben, oder gar irgendwo „abgestellt“, sondern „angehalten“ im Sinne von „gestoppt“.

Trotz der falschen Fährten, der grammatikalischen „Aspekte“ aus dem Slawischen, die den Sätzen einen mitunter komplett neuen Sinn verleihen können, erlebe ich Jiddisch wie eine Schwestersprache, eine äußerst kluge, weltgewandte und da nicht Nationale, überaus Zeitgemäße, die immer wieder neue Impulse für die eigene Sprache bereithält und mit ihrer „Biographie“, ihren Ausdrucksmöglichkeiten, ihrer Flexibilität und ihrer Widerstandsfähigkeit unvergleichlich ist.

Nicht zuletzt finden wir in der jiddischen Literatur hochkarätige, großartige Lyriker und Romanautoren mit Perspektiven und Einsichten, die uns im deutschsprachigen Raum wie ich finde, häufig immer noch fehlen, Themen, die verdrängt, verschwiegen und übergangen worden sind. Und ich finde, es ist Zeit, eine schier endlose Zahl dieser Literaturen zu bergen, zu sichten und in Übersetzung bekannt zu machen.