Notizen des Übersetzers zu Michail Bulgakows „Meister und Margarita“

von Alexander Nitzberg

Michail Bulgakows Roman Meister und Margarita ist eines der rätselhaftesten Werke der Weltliteratur, und der Übersetzer begegnet seinen Geheimnissen Seite für Seite, Satz für Satz, oft genug dort, wo sie vom Lesepublikum – sogar dem russischen – übersehen werden. Die Mysterien betreffen nicht allein den Text, sondern auch seine Entstehungsgeschichte und die Legenden, die ihn überwuchern.

Die Entdeckung und ihre Folgen

Als der Roman 1966–67 zur Tauwetterperiode – stark zensiert – in zwei Ausgaben des Almanachs Moskwa erschienen war, sorgte das für ein wahres Erdbeben. Der längst vergessene Autor erwachte aus seinem Dornröschenschlaf. Blitzartig wurde den russischen Intellektuellen bewusst, dass sie ein Jahrhundertwerk der russischen Prosa in den Händen hielten. Das Buch war nicht nur politisch brisant. Für viele dissident eingestellte Leser jener Zeit dienten gerade die Pilatus-Kapitel als Einstieg ins Christentum. In diesem Sinne wurde der Bulgakow-Roman schnell selbst zu einer Offenbarungsschrift stilisiert, deren Maximen das persönliche Denken und Handeln prägten. Hinzu kam die beinahe selbstverständliche Identifizierung Bulgakows mit dem Meister, während man in der Publikation den schlagenden Beweis für Wolands Worte erblickte: „Manuskripte brennen nicht.“

In den 1990er Jahren schließlich breitete sich das nunmehr unzensierte Werk millionenfach aus und erlangte einen Kultstatus auch unter den Jugendlichen. Die Vertreter des Undergrounds aller Couleur – ob Hippies, ob Mystiker, ob Satanisten – fanden in ihm ihre geistigen Wurzeln, verehrten es, lernten es auswendig, und die „nicht geheure Wohnung“ in der Gartenstraße in Moskau wurde zum inoffiziellen Treffpunkt der gesamten alternativen Szene.

Die Legendenbildung

Eine beinahe religiöse Ehrfurcht umgibt das Buch bis auf den heutigen Tag und steht am Beginn zahlloser Mythen. Denn auch jetzt noch wird die Phantasie der Menschen weiter und weiter angeheizt. Stets erscheinen neue sensationelle Enthüllungen, welche den „verborgenen Sinn“ des Textes offenlegen, alle seine „Codes“ knacken und die „wahren Hintergründe“ aufzeigen wollen.

Mit dieser Entwicklung halten die Philologen Schritt. Auch sie sehen in dem Werk ein großangelegtes Vexierbild, ein Puzzle aus Theorien und Konzepten. Über kaum ein Buch wird so viel geschrieben. Jedes Kapitel ist mehrfach kommentiert, jede Gestalt motivgeschichtlich untersucht. Die Vorstellung, wonach Bulgakow die Personen und Ereignisse nicht aus einer langen Liste von Quellen, sondern aus seiner eigenen Phantasie heraus zu erschaffen gewagt habe, wirkt da schon beinahe unverzeihlich naiv, und die diskursiven Streifzüge entfernen sich zusehends von der lebendigen Literatur hin zum rein Spekulativen.

Die emotionale und gedankliche Aufladung des Romans ist mittlerweile so gewaltig, dass der Übersetzer immer wieder um eine frische und unbefangene Sicht auf den Text ringen musste. Er kennt das Buch und die Gespräche darüber seit seiner Jugend und damit auch so etwas wie eine allgemein etablierte, gleichsam in der Luft liegende Lesart. Die wesentlich intensivere Lektüre während der Arbeit an der vorliegenden Übertragung hat dieses Bild stark differenziert. Vieles von dem, was in Bulgakows Buch normalerweise gesehen wird, erschien ihm dabei als ein Produkt der kollektiven Über-Interpretation.

So die populäre Bewertung der beiden Namenspatrone des Romans – des Meisters und seiner Margarita. Sie könnten sich inzwischen mühelos in das Pantheon der großen Liebespaare einfügen lassen. Sie werden romantisch verklärt und mit überirdischen Zügen ausgestattet. Ihre Beziehung gilt als tragisch und erfüllt zugleich.

Margarita – das Ideal einer Liebenden?

Aber entbrennt die Liebe zwischen dem Meister und Margarita nicht vor allem auch deshalb, weil Margarita – eine junge verwöhnte und gelangweilte Ehefrau – sich etwas Abwechslung gönnen will? Und denkt sie drei Monate nach des Meisters Verschwinden nicht in eine ganz ähnliche Richtung, wenn sie sich im Alexandergarten sagt: „Na bitte! Warum habe ich, zum Beispiel, den Herrn da verjagt? Ich suche Zerstreuung, und dieser Flaneur ist nicht übel. […] Was brüte ich hier einsam, wie eine Eule? Weshalb bin ich vom Leben ausgeschlossen?“ In Bulgakows Text ist sie sehr viel gewöhnlicher und handfester, als es manch einer wahrhaben mag.

Ihre Überlegungen sind häufig praktischer Natur: Dass Azazellos Döschen aus Gold gemacht ist, erkennt sie zum Beispiel am Gewicht. Als sie den dunklen Ballsaal betritt, fragt sie sich unromantisch und nüchtern, ob dem Hausherrn etwa der Strom ausgegangen sei. Ihre Reden sind oft banal gehalten, um nicht zu sagen: trivial, und nach der Verwandlung in eine Hexe stellenweise sogar vulgär, sodass die Verwandlung selbst nur ihre latenten Wesenszüge zu verstärken und nach außen zu stülpen scheint.

Bedenkenswert ist auch Margaritas legendäre Opferbereitschaft: Wirkt ihre Weigerung, auf Azazellos „unmoralisches Angebot“ einzugehen, nicht letztendlich etwas aufgesetzt theatralisch? Und schwingt bei der schließlichen Einwilligung nicht auch ein Hauch von Neugier und Abenteuerlust mit? Sogar in der Frieda-Episode ist das Motiv ihres Handelns keinesfalls eindeutig: Vielleicht ist es tatsächlich Mitleid, doch, bezogen auf die Situation, wäre die plausiblere Erklärung eigentlich verletzter Stolz oder, wie sie selbst sagt, Angst vor Peinlichkeit.

Der Meister – das Ideal eines Dissidenten?

Ähnlich ambivalent ist die Gestalt des Meisters, der in der populären Sichtweise als Prototyp eines dissidenten Autors gilt. Aber passt diese Rolle wirklich zu ihm? – Zunächst erstaunt es, wie unpolitisch der Meister insgesamt denkt und handelt. Auch er ist finanziell abgesichert und lebt in idyllischer Isolation, unbehelligt von den Querelen des Alltags. Er ist gar kein Systemkritiker, und die Phase der Arbeit an seinem Roman hat nichts mit irgendwelchen inneren oder äußeren Krisen zu tun – er selbst bezeichnet sie im Gegenteil als „das Goldene Zeitalter“. Er hat keine schriftstellerischen Ambitionen, betrachtet sich nicht einmal als Autor. Im Grunde schreibt er das Buch für sich und wird erst von Margarita, die ihm Ruhm verheißt, dazu gedrängt, es zu veröffentlichen, weshalb er unter die Räder der sowjetischen Literaturbürokratie gerät. Es bleibt einigermaßen schleierhaft, warum er sich auf dieses Spiel einlässt und was er damit bezwecken will. Ist er am Ende womöglich gar ein Opfer von Margaritas Eitelkeit?

„Pontius Pilatus“ – ein verbotenes Buch?

Bleibt noch sein Roman „Pontius Pilatus“. Ist nicht wenigstens dieser ein gefährliches politisches und religiöses Werk? – Was den Meister anbelangt, so scheint es ihm jedenfalls überhaupt nicht um irgendwelche Provokationen zu gehen. Er kann die Polemik gegen das Buch beim besten Willen nicht begreifen. Natürlich wird Jesus als Person in der sowjetischen Literatur ungern gesehen. Aber das hier gebotene Bild, das Bild eines gutherzigen Narren, eines Tolstoi-Jüngers, ist nicht unbedingt schmeichelhaft. Und was hat seine simplifizierende Befreiungstheologie überhaupt mit dem Christentum in seiner spirituellen Dimension zu tun?

Und die Kernaussage, zusammengefasst in den Worten: „Das größte menschliche Laster ist die Feigheit“? – Es ist zumindest überlegenswert, inwieweit sie sich tatsächlich auf Pontius Pilatus beziehen lässt: Der Statthalter bemüht sich bis zuletzt ja redlich um Jeschuas Freilassung (und das, obwohl er dessen Meinung nicht teilt!). Nur sind ihm durch die herrschenden Gesetze letzten Endes die Hände gebunden, was ihn eigentlich in den Rang einer klassischen Tragödiengestalt erhebt.

Die Anti-Helden

Nun, die Heroisierung und Idealisierung des Bulgakow’schen Liebespaars erweisen sich in vielen Punkten als Projektion. Doch wenn die beiden Protagonisten gar keine Helden sind, was sind sie dann? Welche Lesart bietet sich sonst noch an, wenn die politische und religiöse – wohlgemerkt, nicht verschwinden, sondern ein wenig in den Hintergrund rücken?

Die hier empfohlene Lesart wäre die poetische: Der Roman ist nämlich ein grandioses episches Sprachkunstwerk, ein Großstadtpoem im Geist der Moderne. Und der Meister und seine Margarita sind darin eben keine Helden, vielmehr eigenwillige Anti-Helden, die vom Autor in all ihrer Zerrissenheit und menschlichen Schwäche dargestellt werden. Sie haben keine Verklärungen nötig, sind nun einmal so, wie sie sind.

Der Roman als Dichtung

Die poetische Lesart wird dadurch gestützt, dass Bulgakow durchgehend intensiv Mittel benutzt, die vornehmlich in der Lyrik zu Hause sind: unterschiedlich wirkende Rhythmen, Klänge, Reime, Refrains und Metaphern.

Grob lässt sich sein Roman in zwei rhythmische Felder unterteilen: in die Moskau- und die Jerschalajim-Kapitel. Während die Schilderung der teuflischen Eskapaden in der Sowjetmetropole einen urbanen und immer wieder synkopisch gebrochenen Takt anschlägt, voller greller und bunter Klangfiguren, ist der Puls der Pilatus-Passagen sehr viel dumpfer und feierlicher: Hier scheint das Geschehen von einem antiken düsteren Metrum getragen zu sein und ist durchsetzt mit dunklen Farben und monotonen Wortwiederholungen.

Die phonetische Orchestrierung reicht von markanten Alliterationen, wie zum Beispiel:

… wo in Vorahnung der Abendkühle lautlose Krähen ihre Kreise kritzelten …

oder:

… am Hippodrom, immer bedrohlicher brodelnd …

über Reimhäufungen, wie etwa:

Bei ihrem Näherkommen – wenn zugenommen – wenn golden erglommen jenes Gestirn …

bis hin zu magischen Invokationen mit Echowirkung:

Nisa … –, brachte Judas hervor, nicht so wie sonst, gesanglich und klangvoll, sondern tief, tadelnd, enttäuscht. Nie sagte er jemals wieder ein Wort. Und wie er niedersank, prallte sein Leib gegen die Erde, dass diese erdröhnte.

Die markantesten dieser Stellen werden zusammen mit einer Transkription des russischen Originaltextes im Anmerkungsteil vorgestellt, um die Bemühungen des Übersetzers, sie auch im Deutschen zu bewahren, nachvollziehbar zu dokumentieren.

Die ungewöhnliche Sprache

Doch das stärkste poetische Mittel, das Bulgakow exzessiv einsetzt, ist die zugespitzte Bildlichkeit. Sie entreißt die Erzählung komplett der Sphäre des bürgerlich Realistischen, verfremdet sie und nutzt dabei die gesamte Palette der literarischen Moderne.

So schnappt der von Marcus Rattenschreck gepeitschte Jeschua nicht einfach nach Luft, sondern „verschluckt sich“ an ihr (zachlebnulsja vozduchom). Die Flügel der Schwalbe „schnaufen“ (fyrknuli) über dem Kopf des Hegemons. Der Statthalter hebt nicht, sondern „schleudert“ (vybrosil vverch) den rechten Arm hoch hinaus. Sein Antlitz ist dem Himmel nicht zugewandt, sondern gegen ihn „gestemmt“ (uperšis‘ licom v nebo). Die Trompete eines römischen Soldaten glänzt nicht, sondern „flammt“ in der Sonne (s pylajuščej na solnce truboju). Die Liebe erscheint nicht nur, sondern „springt“ (vyskočila) zwischen den Meister und Margarita. Die Löwenschnauzen auf der Rüstung Rattenschrecks tun den Augen nicht weh, sondern „verätzen“ (vyedal) sie regelrecht. Es ist nicht etwa eine weibliche Stimme, die im Hörer weint, sondern die Hörmuschel selbst, die in Schluchzer ausbricht und beteuert, sie sei Rimskis Frau (na čto trubka, zarydav, otvetila, čto ona i est‘ žena). Das Buch des Meisters hat keinen Rücken, vielmehr – seltsam genug – einen „Buckel“ (knižka gorbom). Die schwarzen Rosse vor des Meisters Haus scharren nicht mit ihren Hufen, sondern lassen die Erde unter sich „in Fontänen bersten“ (vzryvali fontanami zemlju). Die Rede ist vom „klinischen Garten“ (kliničeskij sad) und nicht – korrekt – vom „Garten der Klinik“. Und die Krankenschwester Praskowja Fjodorowna steht im Raum nicht von Blitzen erhellt, sondern – beinahe göttergleich – „in strahlende Blitze gewandet“ (vsja odevšis‘ svetom molnii).

Stets weicht Bulgakow in seinen Ausdrücken von der Normalität ab, wählt im Russischen ungewöhnliche Formulierungen. Mit all diesen Mitteln erhöht er gleichsam die Temperatur der Sprache, durchbricht, wo er kann, die literarischen Schablonen des 19. Jahrhunderts und bewegt sich im Idiom der russischen Moderne, die an der Avantgarde geschult ist.

Der Geist der Moderne

Ja, Meister und Margarita ist ein Schlüsseltext der Moderne und nicht etwa ein realistischer Roman mit gelegentlichen phantastischen und psychologischen Einschüben. Dass die Wurzeln des Werks genau hier liegen, zeigt sich auch in der Entstehungsgeschichte: Der uns heute bekannten Version gehen insgesamt acht Fassungen und somit Arbeitsschichten voraus, die sich vom Endresultat zum Teil gewaltig unterscheiden. Den Anfang bilden die 1928–29 geschriebenen Fragmente Der Schwarze Magier (Černyj mag) und Der Huf des Ingenieurs (Kopyto inžinera) – zwei durch und durch groteske Possen mit einer schier expressionistischen Bilderflut. Darin nennt sich die Jeschua-Pilatus-Geschichte noch „Evangelium nach Woland“, und der Autor spielt mit respektlos flottem Erzählton und frechen Anachronismen:

Die g-guten Zeugen, Hegemon, waren nicht auf der Universität. Sie sind ungebildet und brachten alles, was ich gesagt habe, fürchterlich durcheinander. Fürchterlich, wirklich. Ich denke, es müssen erst neunzehnhundert Jahre vergehen, bevor herauskommt, welch ein Stuss das ist, was sie von meinen Worten zu Papier brachten! […] Da läuft einer umher mit einem Notizbüchlein und schreibt –, sagte Jeschua. – So ein sympathischer … Vermerkt jedes Wort von mir in dem Büchlein […]

– Dann sag mir doch: Wer ist denn noch sympathisch? Ist Marcus sympathisch? – Sehr sogar –, sagte der Häftling mit Überzeugung. – Nur etwas nervös […] – Ich höre? –, fragte Pilatus. – Die Gattin Seiner Exzellenz Claudia Procula bittet, Seiner Exzellenz dem Gatten auszurichten, sie habe die ganze Nacht nicht geschlafen und dreimal im Schlaf das Gesicht des lockigen Häftlings gesehen – und zwar dieses hier –, sagte der Adjutant Pilatus ins Ohr, – und bittet den Gatten, den Häftling unbeschadet gehen zu lassen. – Richten Sie Ihrer Exzellenz der Gattin Claudia Procula aus –, antwortete der Statthalter laut, – sie sei eine dumme Gans. […] Tut mir leid, dass ich mich in Ihrer Gegenwart so über eine Dame äußere.

In der Verfolgungsszene heißt es da:

Die Tram rollte über die Bronnaja. Auf der hinteren Plattform stand Pilatus, im Umhang, mit Sandalen, in der Hand eine Aktentasche.
„Echt sympathisch, dieser Pilatus“, dachte Iwan […] Iwan schob das Mützchen nach hinten, ließ das Hemd aus der Hose heraus, stampfte mit den Schuhn auf, rührte den Blasebalg der Ziehharmonika, die siebenhundert Rubel teure Ziehharmonika seufzte und erdröhnte:

Kommt Pilatus gefahrn
zu den Volkskommissarn.
Tygarga, matygarga!

– Trr! –, antwortete eine Trillerpfeife. Eine strenge Stimme meldete sich: – Genosse! Es ist untersagt, unter den Palmen zu singen. Die sind nicht dazu gepflanzt worden. – In der Tat. Als hätt‘ ich noch nie Palmen gesehen –, sprach Iwan, – zum kahlen Teufel mit denen. Ich werde mich auf die Stufen der BasiliusKathedrale setzen … Und wirklich saß Iwan auf den Stufen der Kathedrale. Iwan saß, klirrte mit den Bußketten, und aus der Kathedrale trat hervor ein fürchterlicher sündiger Mann: zur Hälfte Zar, zur Hälfte Mönch. In der zitternden Hand hielt er einen Stab und riss mit dessen stumpfem Ende die Steinfl iesen auf. Die Glocken läuteten. Es taute.

Diese collageartige Travestie wäre vermutlich niemals zu jenem Jahrhundertepos geworden, das wir heute kennen, sondern – als reines Experiment – irgendwo im Kuriositätenkabinett der russischen Literatur versandet. Aber mit der Zeit hörte Bulgakow aus dem von ihm behandelten Stoff Motive heraus, die mehr versprachen und tiefer strebten, weshalb er (insbesondere in den Pilatus-Kapiteln) alles Klamaukhafte nach und nach dämpfte, die Anachronismen zu streichen begann und einen viel ernsteren Ton anschlug. Freilich bedeutet dies keinesfalls einen Abschied von den stilistischen Ursprüngen des Romans. Auch durch die moderateren Erzählschichten hindurch dringen ständig – wie ja oben gezeigt wurde – sprachlich recht kühne Elemente an die Oberfäche und machen die Herkunft des Werks deutlich.

Porträt eines Mannes, Bleistiftskizze auf leicht vergilbtem Papier

Alexander Nitzberg

gezeichnet von Hanif Lehmann (2012)

Die Sprache der Moderne

Soll diese charakteristische Machart von Meister und Margarita auch in der Übersetzung bewahrt bleiben, darf die Übertragung nicht allein aus dem Russischen ins Deutsche erfolgen, sondern auch quasi aus der Sprache der russischen Moderne in die Sprache der deutschen Moderne, die bei all ihrer Ähnlichkeit auch einige Besonderheiten aufweisen. Denn während sich die Sprache der russischen Moderne durch scharfe Rhythmik, strukturelle Brüche und ironisch-groteske Floskeln auszeichnet, spielt die Frage der Erzählperspektive darin eine vergleichbar geringe Rolle. Die Instanz des „auktorialen Erzählers“ wird dort nicht so radikal bekämpft wie zum Beispiel im deutschsprachigen Expressionismus, denn im Russischen erscheint sie weniger aufdringlich: Das Russische kennt keinen Konjunktiv, weshalb jede Wiedergabe von Gedanken, Gefühlen und sinnlichen Wahrnehmungen per se viel unmittelbarer wirkt – nicht als ein distanziertes „sei“, sondern als ein konkretes „ist“. In diesem Sinne kann ein und derselbe russische Satz im Deutschen von zwei grundsätzlich verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden: Im ersten Fall blickt der Erzähler – gewissermaßen von außen kommend – in die Köpfe der Personen hinein und beschreibt, was in ihnen vorgeht. Im zweiten Fall sieht er mit ihren Augen, und das Erlebte wird plastisch gezeigt.

Der Übersetzer begreift den Narrateur von Meister und Margarita als solch einen personalen Erzähler. Darum versucht er, alles scheinbar von außen Behauptete in einen inneren Monolog zu verwandeln und jede Schilderung ins Bild zu setzen. Ein Satz, der vermittelnd übersetzt werden könnte:

Berlioz aber wollte dem Dichter beweisen, es käme nicht darauf an, wie Jesus gewesen sei, gut oder schlecht, sondern darauf, dass Jesus als Person nicht existiert hatte und alle Berichte über ihn nichts weiter als Fabeln und ganz gewöhnliche Mythen seien.

wird stattdessen wie folgt übersetzt:

Jetzt wollte Berlioz dem Dichter klarmachen: Es kommt nicht darauf an, wie Jesus als Mensch ist, böse oder gut, sondern einzig darauf, dass es ihn als Person überhaupt nicht gibt. Alle Erzählungen über ihn sind Hirngespinste, Mythen eben.

Auf diese Weise soll die Spannung der Übersetzung jener des Originals angenähert werden.

Der Satzbau

Noch ein weiteres sprachliches Problem ist mit dieser Spannung verbunden: Bulgakows Sätze sind pointiert, sie streben jeweils ein bestimmtes Wort an, das im nächsten Satz oder Nebensatz wieder aufgegriffen wird. So entwickelt sich die Dramaturgie in logischen Schritten von Stufe zu Stufe. Diesem sehr zielgerichteten Sprechen steht häufig die deutsche Syntax entgegen, sodass ganz andere Wörter (meist Verben) am Schluss der Sätze oder Halbsätze zu stehen kommen und die genau abgestimmten und scharfen Übergänge deutlich schwächen. So entschied sich der Übersetzer für einen von vornherein sehr viel freieren Umgang mit dem Satzbau, einen Umgang, der mitunter sogar die Formen eines radikalen Durchbrechens des russischen Wortfolge annehmen kann – nicht im Sinne einer größeren Ferne zum Original, sondern vielmehr als eine neue Herausforderung, die plastische Expressivität des Bulgakow’schen Textes mit anderen Mitteln nachzugestalten und hervortreten zu lassen.

Damit sich die Bezüge nicht verlieren, werden längere Abschnitte, wie etwa:

Infolgedessen fasste er den Entschluss, die großen Straßen zu verlassen und sich durch die Gässchen zu schleichen, wo die Menschen nicht ganz so zudringlich sind, wo die Chancen geringer stehen, dass ein barfüßiger Mann belästigt und mit Fragen bezüglich der Unterhose bedrängt werden würde, die es ausdrücklich abgelehnt hatte, einer Knickerbocker zu ähneln.

in der Übertragung gern in knappere monologisch gehaltene Sätze aufgelöst:

Also: von größeren Straßen Abstand nehmen, sich durch Hintergässchen stehlen. Dort sind die Menschen nicht gar so lästig. Dort stehen die Chancen geringer, dass ein armer, barfüßiger Mann schikaniert und mit Fragen bedrängt wird. Zum Beispiel bezüglich der Unterhose, die sich aber auch so verbissen wehrte, eine Knickerbocker zu sein.

Die Dialoge

Zu den besonderen Höhepunkten des Romans zählen zweifellos die Dialoge. Hier präsentiert sich der Autor in seiner Eigenschaft als gewiefter und kunstreicher Dramatiker. Jeder Satz ist gestisch und motiviert. Um die Markigkeit der Repliken beizubehalten, wurden die Dialoge bei der Übersetzung separat behandelt, das heißt – als zwischengeschobener Arbeitsschritt – unter Auslassung der Prosapassagen in Theaterrollen ausgeschrieben und so lange geschliffen, bis sie in sich stimmige Szenen ergaben:

Woland: Und den Teufel, den gibt es auch nicht?
Besdomny: Den Teufel? …
Berlioz (zu Besdomny): Bloß nicht widersprechen!
Besdomny: Worauf Sie Gift nehmen können! Was ’ne Plage! Hören Sie endlich auf verrückt zu spielen!
Woland: Das wird ja immer besser mit Ihnen! Wonach man auch fragt, es ist gar nicht da! Es gibt ihn also nicht, kein bisschen, wie?

Anschließend wurden die Sätze dann wieder in den Gesamttext eingefügt:

– Und den Teufel, den gibt es auch nicht? –, erkundigte sich, plötzlich belustigt, der Kranke bei Iwan Nikolajewitsch.
– Den Teufel? …
– Bloß nicht widersprechen! –, hauchte Berlioz, über den Rücken des Professors gekippt und Grimassen schneidend.
– Worauf Sie Gift nehmen können! –, rief Iwan Nikolajewitsch genau das Falsche, ganz durcheinander von all dem Mumpitz. – Was ’ne Plage! Hören Sie endlich auf verrückt zu spielen!
Da prustete der Wahnsinnige derart los, dass sogar aus der Linde, die über den Köpfen der Sitzenden wuchs, ein Spatz geflattert kam.
– Das wird ja immer besser mit Ihnen –, feixte der Professor, von Lachkrämpfen geschüttelt. – Wonach man auch fragt, es ist gar nicht da! – Er hörte schlagartig auf zu lachen und verfiel (was bei Geistesgestörten nicht unüblich ist) in das gegenteilige Extrem, indem er gereizt und verärgert quäkte: – Es gibt ihn also nicht, kein bisschen, wie?

Die Stilregister der Personen

Das dramaturgische Können Bulgakows geht so weit, dass er jede einzelne Gestalt mit einem vollkommen eigenen sprachlichen Duktus ausstattet. So ist Pilatus düster und lakonisch, vor allem wenn ihn der Kopfschmerz plagt. Jeschua klingt leicht exaltiert und naiv. Wolands Stil ist gewählt und aristokratisch. Besdomny spricht aufgesetzt salopp. Azazello mit der Noblesse eines Syndikatsganoven. Ein ganz besonderes Kuriosum ist dabei Korowjew: Er erscheint als ein sprachlicher Wechselbalg, der innerhalb kürzester Zeit von einem Extrem ins andere verfällt – mal überschwänglich geziert, mal fegelhaft, mal Unsinn schwatzend. Immer ist er der Mann aus dem Volk, der liebe Onkel von Nebenan, die Nervensäge, die Plaudertasche. Stets benutzt er skurrile und überdrehte Wortkombinationen, schneidet andauernd verbale Grimassen. Sein Register reicht vom Moskauer Hinterhofdialekt, gespickt mit allerlei albernen Sprüchen und Binsenweisheiten, bis hin zur respektvoll ritterlichen Rede seinem Gebieter gegenüber.

Diese Skala galt es unbedingt zu wahren, und so wurde im Deutschen der Versuch unternommen, das jeweils Charakteristische nachzubilden. (Bei Korowjew kam in der Übersetzung eine leichte Prise Wienerisch hinzu, das je nach Bedarf galant, urig oder derb wirken kann.)

Es fällt auf, dass Azazello im russischen Text eine spezielle Behandlung erfährt: Er tritt fast nie als Person in Erscheinung, sondern meistens nur als eine Ansammlung wiedererkennbarer Eigenschaften. Dahinter aber bleibt er leer, immer nur „jemand“, „irgendwer“, „einer“ und wirkt somit – trotz seiner Robustheit – stets ungreifbar und ephemer. Ähnlich, aber sehr viel bedrohlicher, verhält es sich mit den staatlichen Sicherheitsbehörden: Während sie in früheren Fassungen noch beim Namen genannt werden (wie etwa „GPU“), sind sie in der letzten Version nur noch ein anonymes „man“. Und diese allmähliche Auslöschung ihrer Identität folgt dem reifenden Konzept des Romans, bei dem die politische Macht aus einer konkreten Instanz langsam zu einer diffusen und namenlosen mutiert.

Die Charakterisierung über das Sprechen

Interessant ist, dass Bulgakow alle seelischen Schwankungen seiner Helden zuerst über deren Sprache andeutet. Der unter Schock stehende Besdomny vergisst für eine Weile seinen proletarischen Bilderbuch-Slang und redet geradezu gutbürgerlich. Als völlig verwandelter Mensch im Restaurant des Gribojedow eingetroffen, schlägt er plötzlich den Ton eines russischen „Narren in Christo“ an, der umso grotesker wirkt, je mehr er spontan zwischen offiziösem Sowjetpathos und biblischen Versatzstücken changiert („Ihr Brüder dem Schreiben nach! […] Höret, ihr alle! Er ist erschienen!“). Die zur Hexe gewordene Margarita redet stellenweise schnodderig vulgär, stellenweise entrückt poetisch, als käme sie aus einer anderen Welt: „Ja, Fäden, Fäden … Vor mir bedeckt sich dein Kopf mit Schnee … Ach, mein armer, gequälter Kopf ! Da schau – deine Augen! Darin ist Wüste … Und die Schultern, die Schultern – schwer drückende Last … Zerschunden, zerschunden …“

Die Initiation des Helden

Um aber die innere Entwicklung Iwan Besdomnys im Verlauf des Romans darzustellen, greift Bulgakow, neben dieser sprachlichen Ebene, noch auf zwei weitere zurück – auf die Ebenen der Märchens und der Freimaurerei.

Das märchenhafte Element tritt zutage, wenn der Dichter auf einmal nicht mehr „Iwan Besdomny“, sondern nur noch „Iwan“ genannt wird. Iwan ist der Hauptakteur der russischen Volksmärchen, wo er auch den Kosenamen „Iwanuschka“ trägt. Bei Bulgakow wird aus „Iwan Besdomny“ erst „Iwan“ und schließlich sogar „Iwanuschka“ (in der vorliegenden Übersetzung liebevoll als „unser Iwan“ angedeutet). Somit ist er der Märchenheld, der sich auf die Reise ins Zauberreich begibt. Signifikant wird in diesem Zusammenhang die Stelle, wo es von Iwan im Krankenhaus heißt: „Drei Wege standen ihm frei“: Dies ist die typische Situation des Märchenhelden.

Wie einst Leo Tolstoi in Krieg und Frieden, schöpft auch Bulgakow in seinem Roman aus der Bilderwelt der Freimaurerei, und zwar nicht ohne parodistische Züge. Mit der „Königlichen Kunst“ ist er gut vertraut, unter anderem aus der Publikation Die zeitgenössische Freimaurerei (Sovremennoe frankmasonstvo, Kiew 1903) seines Vaters Afanassij Iwanowitsch Bulgakow, eines Privatdozenten der Kiewer Theologischen Akademie.

Als die älteste noch erhaltene abendländische Einweihungstradition erhebt die Freimaurerei den Anspruch, einen Menschen mithilfe überlieferter Symbole und Rituale stufenweise zu veredeln. Er begegnet der Loge im Zustand des „Suchenden“, wird bei seiner Aufnahme zum „Lehrling“, im nächsten Schritt zum „Gesellen“ befördert und endlich in den Grad des „Meisters“ erhoben.

Diesen Prozess durchlebt Iwan Besdomny von den ersten bis zu den letzten Seiten des Romans. Allenthalben finden sich Anspielungen auf die freimaurerischen Bräuche, überlagert von Mythen und dämonisierendem Volksaberglauben. Gleich im ersten Kapitel zeigt Woland den beiden Schriftstellern sein Zigarettenetui mit dem diamantenen Dreieck, welches ein markantes Freimaurersymbol ist. Die anschließende Erwähnung des abgetrennten Kopfes verweist bereits auf das Zeichen des Lehrlings mit der Bedeutung: „Lieber lasse ich mir den Kopf abschlagen, als auch nur eines der mir anvertrauten Geheimnisse zu verraten.“

(Später soll auch dem Conférencier Bengalski der Kopf abgerissen werden.) Nach seiner wilden Verfolgungsjagd und dem reinigenden Bad in der Moskwa verliert Besdomny all seine Kleider – eine weitere Persiflage auf das freimaurerische Aufnahmeritual, wobei die Rolle der Degenspitze an der Brust des Suchenden ironischerweise die Nadel übernimmt, mit der die Papierikone befestigt ist. Die Einweihungszeremonie wird in der Klinik fortgesetzt. Hier muss der Kandidat Fragen beantworten, er wird durch unbekannte Gänge geführt, man piekst ihn in den Rücken, mit dem Griff eines Hammers zeichnet man geheimnisvolle Figuren auf seine Brust, klopft ihn ab und entnimmt seinem Zeigefinger Blut.

Am Ende dieser Prozedur steht für Besdomny eine mystische Erfahrung: das prozesshafte Absterben des „alten Menschen“ und die Geburt des „neuen Menschen“. Der paulinische „Alte“ beziehungsweise „Neue Adam“ erscheint (sogar vom Klangbild her ähnlich) in der Gestalt des „Alten“ und „Neuen Iwan“. Was für den Chefarzt, rein empirisch betrachtet, nichts anderes als Schizophrenie ist, entspricht in Wahrheit dem klassischen initiatischen Erlebnis.

Auch die sogenannte „Erhebung“ – die Wiederaufrichtung eines rituell Gestorbenen – kommt verschleiert im Roman vor, diesmal mit dem Meister als Kandidaten. Den Tod symbolisiert hier offenbar das „Haus der Trübsal“ – die psychiatrische Klinik. Dieser Sphäre wird er entrissen, was ihn gleichsam in seinem Rang als Meister bestätigt. Und die dazugehörige Legende von der Ermordung des Baumeisters Hiram hört der Leser im Verlauf des Romans ganze zweimal – und zwar wieder als Parodie: Mit den drei bezeichnenden Schlägen werden sowohl der Administrator Warenucha wie auch später Judas von Kirjath niedergeschmettert. Es erschien daher als folgerichtig, das Wort „učenik„, auf Iwan bezogen, mit „Lehrling“ und im Fall von Levi Matthäus als „Jünger“ zu übersetzen (das Russische verwendet für beides ein und denselben Ausdruck).

Die Personen- und Ortsnamen

Noch einige Worte zu der Namensgebung: Wenn Bulgakow in den Pilatus-Kapiteln Orts- und Personennamen verwendet, will er offenbar, dass sie möglichst echt wirken. Schließlich soll das Geschehen – im bewussten Gegensatz zu den Evangelienberichten – gewissermaßen aus nächster Nähe geschildert werden, ein Augenzeugenbericht sein. Darum wählt der Autor statt der gräzisierten die originalen hebräischen Formen (wie „Jeschua Ha-Nozri“ statt „Jesus von Nazareth“, „Jerschalajim“ statt „Jerusalem“ etc.) und tilgt, wo er sie nur bemerkt, die Anachronismen der früheren Fassungen. Darum wurden auch in der Übersetzung die alten Namen verwendet (wie „Caprea“ statt „Capri“, „Falernum“ statt „Falerner“ etc.).

Eine sprachliche Besonderheit betrifft die „Schädelstätte“: Hierfür verwendet Bulgakow weder die aramäische („Golgatha“) noch die russische Bezeichnung („lobnoe mesto“ = „Ort der Stirn“), sondern – als kalkulierte Dissonanz – den aus der slawischen Folklore stammenden Namen „Kahler Berg“ („Lysaja Gora“). Dass dieser berüchtigte Treffpunkt der Hexen – im Westen unter anderem aus Modest Mussorgskis Tondichtung Eine Nacht auf dem Kahlen Berg (Noč‘ na Lysoj Gore) bekannt – zur Szenerie der christlichen Passionsgeschichte gemacht wird, sodass sich zwei mythische Welten überlagern, ist ein überraschender modernistischer Kunstgriff, ein Verfremdungseffekt, wie er im Buch steht.

Ein unabgeschlossenes Werk

Neben all diesen Herausforderungen treten bei Meister und Margarita aber auch noch Probleme ganz anderer Art auf:

Wenn es heißt, dass Bulgakow an seinem Roman über zehn Jahre lang gearbeitet habe, so bedeutet dies keineswegs die Arbeit an der uns heute vorliegenden Textfassung. Alle Versionen divergieren stark und ändern sich von Phase zu Phase.

Die Fülle an Material verbunden mit Unterbrechungen wegen diverser Aufträge bereitete dem Autor zunehmend Mühe, die einzelnen Stränge zusammenzuhalten. Als er schließlich 1939 an der Nierensklerose erkrankte und nach und nach sein Augenlicht verlor, diktierte er über weite Strecken den Roman seiner Frau Jelena Bulgakowa. Der anschließende Korrekturdurchgang musste am 13. Februar 1940 abgebrochen werden, denn Bulgakow konnte kaum noch sprechen. Vier Wochen später, am 10. März 1940, starb er.

Das Werk, das er hinterlassen hat, ist also nur in sehr speziellem Sinne eine „Fassung letzter Hand“: Die krankheitsbedingte Unfähigkeit, an dem Roman weiterzuarbeiten, ist nicht dasselbe wie der schöpferische Wille des Autors. Gerade die zahlreichen Korrekturen im ersten Teil lassen erahnen, wie viel Arbeit ihm noch bevorstand.

Die Textlage

Nach dem Tod Bulgakows fertigte seine Witwe Jelena Bulgakowa eine maschinengeschriebene Reinschrift an, in der sie teilweise aus dem Gedächtnis noch weitere Änderungen vor nahm. Einige sind bis heute umstritten, so zum Beispiel das von ihr wieder eingefügte Ende des Kapitels 32, welches Bulgakow verworfen hatte. Oder umgekehrt die Streichung der Flugzeug-Szene aus dem Kapitel 31. Doch auch anhand des letzten handschriftlich korrigierten Typoskripts ist es heute beinahe unmöglich, mit hundertprozentiger Sicherheit festzustellen, für welche Varianten sich der Autor entschied – insbesondere, wenn einzelne Sätze mehrfach gestrichen und dann ebenfalls mehrfach wieder in den Text aufgenommen worden sind. Darüber wird in der Forschung diskutiert.

Die Inkohärenz

Abgesehen von dieser Textlage, finden sich über das ganze Buch verstreut – und vor allem im zweiten Teil – unzählige kleinere und größere Unstimmigkeiten auf den Ebenen der Erzählstruktur, der Syntax oder des Stils. Da Bulgakow das Genre seines Werks gelegentlich als „phantastischer Roman“ bezeichnet, sind Verstöße gegen Geschichtliches gewiss legitim. Es fällt kaum auf, dass der Hohepriester Kaiphas eine „dunkle Kapuze“ trägt, obwohl sie der historische Kaiphas niemals hätte tragen können. Oder dass Levi Matthäus in der Pessach-Woche Brot kauft, obwohl gesäuertes Brot just in jener Zeit strikt verboten ist. (Dennoch handelt es sich hierbei höchstwahrscheinlich nicht um Bulgakows Absicht, sondern schlicht um Recherche-Fehler.) Vernachlässigbar erscheinen auch all die Verwechslungen zwischen automatischen Pistolen und Revolvern, zwischen Petroleum und Benzin. Oder dass Stjopa Lichodejew, der so wie er ist – also in Hemd, Krawatte und Hose – nach Jalta befördert wird, bei der dortigen Miliz im Nachthemd ankommt.

Doch gerade im letzten Teil des Romans finden sich Stellen, die deutlich machen, welche Mühe es dem todkranken Dichter bereitete, alle Handlungsstränge zusammenzuhalten. So vergaß er beim Abschiedsflug in Kapitel 32 die Vampirin Gella, die ja ebenfalls zu Wolands Gefolge gehört und in der vorletzten Fassung noch selbstverständlich mitfiegt. Im Epilog ist von einem Verschwinden des Meisters und seiner Gefährtin die Rede, was sich mit den vorherigen Kapiteln jedoch nicht deckt und auf Überlegungen in Richtung eines alternativen Endes verweist. Solche Widersprüche sind in dem Werk keine Seltenheit. Manches Mal bleiben im Text auch die irritierenden Anachronismen aus früheren Versionen erhalten, weil der Autor sie übersehen und nicht systematisch gelöscht hat.

Problematisches und Gescheitertes

Die Probleme setzen sich im Detail fort.

Bereits die allerersten Sätze des Romans werfen Fragen auf. Zum Beispiel die Erwähnung von Berlioz‘ Hut: Wörtlich heißt es, er halte „seinen anständigen Hut als Pirogge in der Hand“. Die Ablativ-Konstruktion „als Pirogge“ (pirožkom) ist keine Metapher, sondern ein Idiom und bedeutet, dass der Hut eine Falte hat. Daneben existiert aber auch eine Pelzmütze, die im Nominativ als „Pirogge“ (pirožok) bezeichnet wird. Und obwohl Bulgakow in seiner Beschreibung die Ablativ-Form verwendet und somit eindeutig von einem Hut spricht, schwebt ihm offenbar gleichzeitig irgendwie auch die Pelzmütze vor, denn gerade sie ist eine beliebte Kopfbedeckung, ja ein Statussymbol der Sowjet-Elite. Freilich würde Berlioz an einem der heißesten Tage des Jahres wohl kaum eine Pelzmütze tragen.

Während viele Wortwiederholungen und Redundanzen künstlerisch beabsichtigt sind und einer besonderen Wirkung dienen, zeugen andere von nachlassender Kraft:

Er wusste, dass in diesem Moment die Eskorte die drei mit den verbundenen Händen an die seitlichen Stufen führt, um sie auf den Weg hinauszuführen, welcher nach Westen, vor die Stadt, zum Kahlen Berg führt.

Danke! –, rief Natascha aus, und rief plötzlich barsch und zugleich wehmütig …

Nachdem Judas den staubigen Pfad überquert hatte, der vom Mond überflutet war, begab er sich zu dem Fluss Kidron mit der Absicht, ihn zu überqueren.

Margarita tauchte vom Abgrund auf und planschte nach Herzenslust in tiefster Einsamkeit nachts in diesem Fluss. Neben Margarita war niemand.

Es finden sich Sätze mit falschen Bezügen, wie etwa:

Die noch heilen Scheiben wurden aufgemacht, in ihnen zeigten sich Menschenköpfe und versteckten sich sogleich, wogegen die ofenen Fenster umgekehrt zugemacht wurden.

Der Ansager starrte direkt in Kanawkins Augen, und Nikanor Iwanowitsch schien es fast, als kämen aus diesen Augen Strahlen herausgeschossen, die Kanawkin wie Röntgenstrahlen durchdrangen.

Die Rahmen in den zerbrochenen Fenstern begannen zu schwelen.

Oder Unmöglichkeiten, wie zum Beispiel:

… die leider in der Nacht der berüchtigten Séance glücklicherweise von einem Hahn aufgeschreckt worden war …

Ich werde sogleich die Mörder suchen, die Judas vor der Stadt aufgelauert haben, und mich selbst indessen unter Arrest begeben.

Humpelnd blieb Woland an seinem Podest stehen.

… pflichtete Korowjew seinem unzertrennlichen Begleiter bei …

Ein unlektoriertes Meisterwerk

Erstaunlicherweise werden solche Schwachstellen von russischen Lesern in der Regel vollkommen übersehen, sogar von Literaturwissenschaftlern. (Die Forscher erwähnen die sprachlichen Probleme wenn überhaupt, dann nur sehr zögerlich und versuchen sie meistens im Reich der Metaphern und bewusster Sprachspiele anzusiedeln …) Das hängt einerseits damit zusammen, dass der Roman, wie bereits gesagt, mit beinahe religiöser Ehrfurcht behandelt wird und alle kritischen Einwände fast schon als Sakrileg aufgefasst werden. Andererseits aber auch damit, dass seine künstlerische Qualität und Wahrhaftigkeit derart hoch sind, dass jede innere Unstimmigkeit, gemessen daran, als unbedeutend und nichtig erscheint.

Und dennoch ist und bleibt Meister und Margarita ein unlektoriertes Werk. Nach dem Tod Bulgakows musste es sechsundzwanzig Jahre auf seine Publikation warten. Als es schließlich veröffentlicht wurde, kämpfte die Intelligenzia lange Zeit erst einmal um eine unzensierte Ausgabe. Wer hätte es da – unter diesen Umständen – und nach so langer Zeit – lektorieren können? Wer wäre dazu überhaupt berechtigt? – Gewiss die Witwe, Jelena Bulgakowa, doch für sie galt die Textarbeit als abgeschlossen.

Der Buchstabe und der Geist

Nun gut, habent sua fata libelli.

Wie aber soll sich ein Übersetzer in der entstandenen Situation verhalten? Wie soll er mit den sprachlichen Missgeschicken des Romans umgehen? – Es ist ein altes und schwer zu lösendes Problem. Lässt er sie stehen, riskiert er womöglich, dass sie ihm und nicht dem Autor zugeschrieben werden. Korrigiert er sie, wird er der Hybris und des Verrats am ursprünglichen Text bezichtigt. In letzter Zeit werden gerade jene Übertragungen besonders gelobt, die auch die Makel des Originals zu übernehmen riskieren. Schließlich gehe es dabei um Werktreue.

Was aber ist mit der Werktreue tatsächlich gemeint und wem gilt sie eigentlich? Zwei Antworten wären prinzipiell denkbar: Dem Text des Werks oder dem Geist des Werks. Diese Positionen sind nicht unvereinbar und schließen sich gegenseitig nicht aus. Denn wer sich für den Geist des Werks entscheidet (und der Übersetzer der vorliegenden Ausgabe tut dies!), erkennt trotzdem die hohe Bedeutung des Textes an, weil er sich nur mithilfe des Textes dem Geist des Werks zu nähern vermag. Aber Stil-, Bezugs- und Ausdrucksfehler entsprechen gewiss nicht dem Geist des Werks, sondern resultieren aus der Krankheit des Autors und wären von ihm korrigiert worden, hätte er sie nur bemerkt. Sie ins Deutsche mit einfließen zu lassen, würde bestenfalls jenen genügen, die grundsätzlich alles Authentische höher als alles Artifizielle bewerten – dem glänzenden Stilisten Bulgakow wohl kaum.

Natürlich will und kann der Übersetzer Bulgakows Meisterwerk nicht „verbessern“. Doch sieht er im Prozess des Übertragens selbst, bei welchem er ja ohnehin nach sinn- und geistesverwandten Formulierungen sucht, eine Möglichkeit, den im Fall der Publikationsgeschichte dieses Werks ausgebliebenen, aber relevanten Schritt des Lektorats mit aller nötigen Behutsamkeit und Verantwortung nachzuholen. Er muss sich dabei in starkem Maße auf seine Erfahrung und sprachliche Intuition stützen, um zwischen der bewusst als Stilmittel eingesetzten Verfremdung und dem krankheitsbedingten „Ausrutscher“ zu unterscheiden. Ersteres wird auf keinen Fall geglättet, eher umgekehrt verstärkt und damit als Kunstgriff kenntlich gemacht. Letzeres wird, wo es geht, behoben und im Anhang dokumentiert und erläutert.

Alexander Nitzberg, Wien 2012