Lesekulturen im Zeitalter moderner Medien
von Yoko Tawada
Im November 2006 erschien eine neue Übersetzung von Dostojewskijs Die Brüder Karamasow und erreichte schnell eine Auflage von 500.000. Ich kannte den Übersetzter Ikuo Kameyama als Autor eines spannenden Buches über Stalin und die Künstler seiner Zeit.
Wie in anderen Ländern klagte man seit den Achtzigern (wenn nicht schon viel früher), dass junge Menschen keine klassische Weltliteratur mehr lesen. Zuerst wurden die Manga- und die Fernseher-Kultur dafür verantwortlich gemacht, später das Internet, Computerspiele und das ständige SMS-Schreiben. Die Anzahl der verkauften Bücher ist zwar gestiegen, weil Manga, die Autobiographien der Fernseh-Stars, die Internet-Literatur und die Mobiltelefon-Literatur auch als Bücher gedruckt werden, aber man klagte darüber, dass der alte Kanon der Weltliteratur nicht mehr ernst genommen wird. Der neue Karamasow-Boom war daher eine angenehme Überraschung. Ich fragte mich aber, wie man diesen Roman so anders übersetzen kann, dass sich plötzlich hunderttausende Japaner darauf stürzen und sofort davon begeistert sein können. Selbst in den Zeiten, als die Literatur angeblich viel mehr gelesen wurde als heute, stand Dostojewskij nie auf einer Bestsellerliste.
Als Gymnasiastin las ich Die Brüder Karamasow in der Übersetzung von Masao Yonekawa. Ich kaufte mir als Studienanfängerin noch eine russische Ausgabe dazu, aber sie war mir sprachlich zu schwer, so dass ich weiter auf die japanische Übersetzung angewiesen war. Ich war nicht traurig darüber, denn ich genoss die japanischen Wörter und die Ausdrücke, die ich nicht kannte. Diese Übersetzung, die aus dem Jahr 1927 stammte, war sprachlich wesentlich fremder als zum Beispiel die Erzählungen von Yasunari Kawabata, die um die gleiche Zeit entstanden. Mir kam es so vor, als hätte der Übersetzer japanische Wörter aus verschiedenen Gebieten, Klassen, Zeiten und Orten gesammelt und meisterhaft zusammengestellt, um eine fremde Kultur zu übertragen. Daher ließ die Übersetzung den potenziellen Spielraum der japanischen Sprache viel größer erscheinen als etwa die zeitgenössische inländische Literatur. Diese Qualität der Übersetzung forderte aber auch vom einzelnen Leser Geduld, Gelassenheit und Hartnäckigkeit. Ich versuchte aus einer ungewöhnlichen Kombination zweier Adjektive ein mir unbekanntes kulturelles Konzept herauszulesen. Manche Begriffe tauchten an unerwarteter Stelle auf und leuchteten. Ich lernte viel von der Kompromisslosigkeit eines kompetenten Übersetzers. Bei einem Bestseller hingegen hatte ich nie das Gefühl, dass ich etwas nicht sofort verstand. Das Geheimnis, das ein Bestseller manchmal als Aufputschmittel für den ermüdeten Leser bietet, lehnte ich beleidigt ab. Ich war an radikalen Drogen interessiert und suchte sie in der schwer verdaulichen Übersetzung von Dostojewskij.
Toko Tawada bei der Verleihung des Literaturpreises für Poesie als Übersetzung 2013
Foto: Georg Pöhlein
Kann der Roman Die Brüder Karamasow so übersetzt werden, dass er sich glatt und flott lesen lässt wie ein Bestseller? Ich kaufte mir die neue Übersetzung, las die ersten hundert Seiten und stellte fest, dass jeder Ausdruck zugänglich und rhythmisch wirkt. Geruch und Staub einer fremden Gesellschaft werden zurückgehalten. Jede Figur ist trotz ihrer Widersprüchlichkeit von einer anderen Figur leicht unterscheidbar. Unabhängig davon, ob man diese Eigenschaften der neuen Übersetzung schätzt oder nicht, schien mir der Unterschied zu der alten Übersetzung nicht groß genug zu sein, um einen explosiven Boom zu erklären.
Einige Monate später hatte ich zufällig die Gelegenheit, mich mit dem jungen Lektor eines japanischen Verlages über diese neue Übersetzung zu unterhalten. Er sagte, die Leser hätten heutzutage einen Manga- oder SMS-Blick, das heißt, ihre Augen nähmen einen Textausschnitt als Bild wahr und gingen weiter zum nächsten. Ein Ausschnitt darf daher nicht zu lang sein: am besten nur so lang, dass er auf dem Bildschirm eines Mobiltelefons passt oder dass er einem Bild im Manga entspricht.
Es ist bekannt, dass die Vorkriegsgeneration nur mühsam die heutigen Manga lesen kann, es ist, als wären sie für sie eine fremde Sprache. Ein geübtes Manga-Auge kann sich dagegen sehr schnell von einem Bild zum nächsten bewegen, aber dasselbe Auge hat mit einem langen Textausschnitt ohne Absätze manchmal Schwierigkeiten.
Der Verlagslektor sagte mir, das Geheimnis der neuen Übersetzung bestehe seiner Meinung nach darin, dass man ungewöhnlich viele Absätze in den Roman eingebaut habe. Die Manga-Leser können den Roman lesen, indem sie sich von einem Abschnitt zum nächsten Abschnitt bewegen wie von einem Manga-Bild zum anderen. Sie seien nicht weniger intelligent als ihre Großeltern, aber sie hätten ein anderes Sehorgan oder ein anderes Anschlusskabel, das die Netzhaut mit dem Gehirn verbindet.
Eine japanische Übersetzerin, mit der ich einige Wochen später sprach, stimmte der Theorie des Verlagslektors zu. Sie übersetze gerade ein Buch für die Buchserie der Weltliteratur, in der auch Die Brüder Karamasow erschienen sei, und ihr Lektor wiederhole immer wieder denselben Satz: Bitte mehr Absätze!
Man kann einen japanischen Manga schneller lesen als die meisten belgischen oder französischen Comics, weil die direkte Rede immer sehr kurz gehalten ist und jedes Bild nicht zu viele Informationen enthält. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich ein Manga-Bild wie ein Ideogramm lesen lasse. Vielleicht ist das der Grund, warum die Farbdrucke bei japanischen Manga nicht begehrt sind. Die Bilder müssen schwarz-weiß gedruckt sein, damit die Augen sie automatisch als Schrift lesen.
Man kann einen Manga mehr genießen, wenn man von einer Fläche zur nächsten eilt, als wenn man jedes Bild wie ein Gemälde in einem Museum betrachtet. Das trifft natürlich nicht zu auf die Bilderserien von Hokusai (1760-1849), die als Hokusai-Manga bekannt sind. Ich muss sie hier leider außer Betracht lassen, weil sie keine durchgehende Geschichte erzählen und daher nicht geeignet sind, das Karamasow-Phänomen zu erklären. Vielmehr denke ich an die Gattung der Kibyôshi (gelbe Umschläge), die für eine alte Version des Manga-Blicks produziert wurden. Man bezeichnet eine bestimmte Art von unterhaltsamer Literatur, die zwischen 1775 und 1806 geschaffen wurde, als Kibyôshi, um sie streng von ihren Vorläufern, den Bilderbüchern “Akabon” (rote Bücher), “Kurobon“ (schwarze Bücher) und “Aobon” (blaue Bücher) zu unterscheiden. Die Kibyôshi-Literatur ist kein Bilderbuch mehr, jedoch der Begriff des illustrierten Romans passt meiner Meinung nach auch nicht zur Kibyôshi-Literatur, weil es offensichtlich ist, dass man zuerst die Bilder zeichnete und dann den Text dorthin schrieb, wo es noch frei war. Die Schriftzeichen machen sich dünn und krumm, wo es am Platz mangelt, während die Bilder keine Rücksicht auf den Text nehmen. Der Text wird nicht auf die Oberfläche eines dargestellten Gegenstandes geschrieben und unterwirft sich somit auch nicht den physischen Regeln der dreidimensionalen Welt. Vielmehr wird jede freie Fläche im Bild als eine zweidimensionale Schreibfläche benutzt.
Der Inhalt der Kibyôshi ist unterhaltsam, setzt aber beim Leser Kenntnisse über den Konfuzianismus und die traditionelle Literatur voraus. Ähnlich wie sich der Manga-Zeichner Osamu Tezuka (1928-1989) in seinem Neo Faust auf Goethes Faust bezieht, erzählt der Kibyôshi-Autor Harumachi Koikawa (1744-1789) zum Beispiel das Leben eines Mannes nach dem Muster einer bekannten chinesischen Geschichte, die bereits in die japanische Yôkyoku-Literatur übernommen wurde. Um die Parodie der Konfuzius-Zitate, die nicht selten in einer Kibyôshi-Erzählung vorkommen, zu verstehen, muss man die Worte von Konfuzius kennen. Die Kibyoshi-Leser kannten also Konfuzius, genau wie die Leser von Tezukas Manga zumindest eine Vorstellung von Goethe haben oder potenzielle Goethe-Leser sein können. Wenn die Manga-Leser ungern klassische Weltliteratur lesen, hat das mehr mit der grafischen Form des Textes zu tun als mit seinem Inhalt.
Als ich zum ersten mal eine Kibyôshi-Erzählung las, hatte ich eine ähnliche Schwierigkeit, wie die Vorkriegsgeneration mit den neuen Manga. Ich sah die direkte Rede ohne Sprechblase neben oder über dem Bild des Sprechers stehen. Die Erzählerstimme schwebt hier und da in der Luft. Wo beginne ich zu lesen und wie gehe ich weiter?
Ich weiß nicht, ob ich selber Manga-Augen habe oder nicht. Manchmal sehe ich in einem Manga-Café in Tokyo junge Männer, die mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in einem Manga-Heft blättern. So schnell könnte ich nie lesen. Zu Hause maß ich heimlich die Zeit, die ich für eine Seite von Tezukas Manga brauche. Zehn Sekunden pro Seite. Dann maß ich die Zeit, die ich für die Lektüre der neuen Karamasow-Ausgabe brauchte: zwanzig Sekunden pro Seite. Die alte Übersetzung hingegen nahm fast sechzig Sekunden in Anspruch. Der Unterschied zwischen dem Manga und dem neuen Karamasow war viel kleiner als der Unterschied zwischen den alten und den neuen Brüdern.
© Yoko Tawada 2014