Das Gespäch führten Elke Erb, Olga Martynova und Oleg Jurjew im Rahmen der 8. Erlanger Übersetzerwerkstatt am 26. August 2011

1

In den Schleim, durchnäht von
3 Schlieren
Den Schleim durchschillnähend schimmernd
mit Schlie
treiben die Schlieren
Leuchten
die Ölschlieren
löst sich das Öl in Schlieren
verschwimmt das Öl mit
von, hinter dem Meer,
– aus dem Übersee Brindisi
bringt man den Seufz
wird Vergils gleitet der Hauch Vergils
Das sind wir, die rudernd weinen,
mit verspäteten Nachrichten kommen

3.

Zu Wie vom Schimmern durchnähte Schleimen
verschwimmt das Öl mit in Schlieren
von, hinter dem Meer her, Brindisi
hergleitet gleitet der Hauch Vergils.
Das sind wir, die rudernd weinen,
mit veralteten Botschaften Boten tragen
Nachrichten
und Die in abgekahlten Schläuchen
statt Wein
Schwarzerde- und Tonerde führen

Elke Erb
Sie sehen den Arbeitsgang bei der dritten Strophe von Oleg Jurjews Gedicht „Tod des Vergil“. Und jetzt die Endfassung der dritten Strophe.

3.

Wie vom Schimmern durchnähte Schleime
schwimmt das Öl mit in Schlieren –
von Brindisi hinter dem Meer
gleitet der Hauch Vergils –
– Das sind wir, die rudernd weinen
mit gealterten Neuigkeiten
und die Ton- und Schwarzerde führen
in abgekahlten Schläuchen.

Oleg Jurjew
liest das Gedicht auf Russisch:

СТИХИ С ЮГА (III – Смерть Вергилия; запоздавшие новости)

1.

От Италии холерной
до Далмации-чумы
слышен мерный шлеп галерный –
– Это мы или не мы?

2.

Всё алмазней, всё лазурней,
всё тесней к себе самой
под небесною глазуньей,
подпузыренною тьмой,
с вёсел звездами стекая,
уносящая с ума
ночь деньская, персть морская –
Адриатика сама.

3.

По искрóй прошитой слизи
распускается мазут –
из заморского Бриндизи
вздох Вергилия везут –
– Это мы на веслах плачем,
вести ветхие везем,
и в мехах облысых прячем
чернозем и глинозем.

4.

От Апульи суховейной
к Адрианову столбу
прорезает плеск хорейный
Адриатику-скобу –
Бог не охнет, гром не грохнет,
не просыпется Гомер,
пусть луна на веслах сохнет
и меняется размер.

5.

– Мы гекзаметру враги ли?
– Это мы, а не они!
– Умер, кажется, Вергилий?
– Умер, Бог оборони!

Elke Erb
Und auf Deutsch:

Tod des Vergil: verspätete Nachrichten

1.

Von Italien unter der Cholera
bis Dalmatien unter der Pest
das stets gleiche Schwapp der Galeere –
– Sind das wir oder nicht wir?

2.

Immer diamantener, immer azurener,
immer enger bei sich selbst
unter dem himmlischen Spiegelei,
dem die Finsternis Blasen schlägt,
von den Rudern die Sterne tropfen,
fort-und-fort-bringend um den Verstand
diese Tagesnacht, diesen Meeresstaub –
die Adria selbst.

3.

Wie vom Schimmern durchnähte Schleime
schwimmt das Öl mit in Schlieren –
von Brindisi hinter dem Meer
gleitet der Hauch Vergils –
– Das sind wir, die rudernd weinen
mit gealterten Neuigkeiten
und die Ton- und Schwarzerde führen
in abgekahlten Schläuchen.

4.

Von Apulien, unter den Winden dorrend,
bis zum Säulenhort Hadrians
trochäisch das Schwapp und Schwapp
quert die Klammer Adria –
Gott wird nicht stöhnen, Donner nicht dröhnen
und verschüttet nicht werden Homer,
mag der Mond an unsern Rudern trocknen
und das Versmaß wechseln den Takt.

5.

– Sind denn wir Feinde des Hexameters?
– Wir sind wir doch und nicht die!
– Gestorben ist Vergil?
– Gestorben. Uns helfe Gott!

Elke Erb
Es ist wenig gereimt, am meisten noch Strophe 3. Die Gedichtstruktur stützt sich auf die Kraft der deutschen Sätze.
Im nächsten Jahr erscheint eine Sammlung der Gedichte von Oleg Jurjew, im Verlag „Jung & Jung“, die erste in deutscher Sprache. Erscheint sie zweisprachig? Das ist ja heute schon fast Usus, finde ich erfreulich.

Oleg Jurjew
Ich meine, es ist nicht nötig, wenn die Übersetzungen Gedichte sind, man kann doch unterscheiden, ob man ein Gedicht vor sich hat oder nur eine Übersetzung.

Elke Erb
Wohl. Aber ich verehre die Originale.
Übrigens, da wir dieses Gedicht nun gelesen haben, fällt mir ein, dass ich bei dem „Tod des Vergil“ gar nicht gefragt habe, wie Du zu dem Sujet gekommen bist. Und dass ich danach auch sonst nicht frage. Ich respektiere den Kern des Gedichts und lasse ihn unberührt gelten. Meine Nachfragen, wenn ich die Interlineare erhalte, richten sich auf die strukturierenden Setzungen, damit ich vor Augen habe, was Du siehst.

2

OlgaMartynova
Wir haben uns überlegt, was wir aus unserer Werkstatt zeigen können, wie wir unsere Arbeit präsentieren. Es ist immer schwierig, die schon getane Arbeit nachzuvollziehen, zu erklären, welche Probleme wie gelöst wurden. Wie haben uns entschlossen, dass wir einige Gedichte zeigen und Ihnen somit einige gegenwärtige Lyriker vorstellen werden.

Oleg Jurjew
Das nächste Gedicht wird von Olga Martynova sein. Und das Thema, das wir damit berühren, ist: Reimen oder nicht reimen. Wir haben das sehr lange diskutiert. Unsere These war, dass verschiedene Sprachen verschiedene geschichtliche Phasen haben. Und wenn wir ein gegenwärtiges Gedicht als Ergebnis haben wollen, sollen wir vielleicht auf einige Formalitäten verzichten, wir haben dabei übrigens einen großen Verbündeten namens Nabokov.

Olga Martynova
Wir haben das auch ein paar mal schriftlich versucht. Ich lese ein Fragment aus einem Text, der damit verbunden ist und dann liest Elke Erb ihren Poetiktext dazu.

Der wunderbare Schopenhauer – man kann in ihm einen Schutzpatron der Dichter und Musiker sehen, da er die Frage beantwortet: Wozu braucht man die Kunst überhaupt noch? – schreibt über den Reim: „Könnten wir in die geheime Werkstätte der Poeten sehn, so würden wir zehn Mal öfter finden, dass der Gedanke zum Reim, als dass der Reim zum Gedanken gesucht wird.“ Freilich kann der Reim einen auch in die Banalität führen, aber das hängt vom jeweiligen Handwerker ab.

Im Unterschied zu vielen russischen Kollegen bin ich nicht der Meinung, daß die Poesie ohne Reim unmöglich, weil entseelt ist. Aber ich teile nicht die Meinung vieler deutschen Kollegen, der Reim sei überholt. Der Geist atmet wo er will. Auch in den gereimten Gedichten. Auch in den ungereimten. Wie man dem Reim folgt, ist schwierig nachzuerzählen. Es geschieht sehr schnell. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde prüft der Gedanke viele verschiedene Möglichkeiten. Man fragt mich oft, warum ich Gedichte nach wie vor nur auf Russisch schreibe, während das Deutsche für meine Prosa mir selbstverständlich ist. Das ist eine schwierige Frage, doch ich glaube endlich eine Antwort zu haben: Gedichte setzen eine andere Geschwindigkeit voraus. Solche Schnelligkeit habe ich auf Deutsch nicht. Mit der Prosa kannst du dir viel Zeit nehmen. Gedichte verlangen zwar gelegentlich auch die Plage, aber erst in der Phase des Nachfeilens. Eine deutsche Übersetzung muss nicht reimen. Es ist meine feste Überzeugung, dass die gereimten Übersetzungen dem Reim zu viel opfern. Der Reim ist ein Handlanger des Lyrikers, kein Schmuck. Mit anderen Worten: Kein Zweck, sondern ein Mittel. Hat er das Seine getan, ist es gut. Was eine Übersetzung wiederzugeben versucht, hat nichts mit dem Reim zu tun. Es sei denn – in seltenen Fällen ist das wohl möglich – der Reim kommt und hilft (nach Schopenhauers Art).

Das ist einer der Versuche, zu formulieren: Warum reimen, warum nicht reimen.

Elke Erb
Meinen Text können Sie nachlesen im Internet im Internet unter „elke erb poetics“ beim Poetenladen von Andreas Heidtmann, es ist poetics 10, ich habe ihn in der Vorbereitung auf unser Treffen hier verfasst:

Über Assonanzen

Beim Übersetzen der Gedichte von Olga Martynova habe ich gelernt, die Verse adäquat wiederzugeben, wie Prosa etwa, aber Olgas grazile Regsamkeit im Versaufbau, d.i. in der Mitteilung, der Folge der Signale, zieht schon von selbst in sich hinein. Sie sagte: „Hör zu, ihr reimt im Deutschen nicht, für uns ist es normal, für euch nicht.“ Stimmt. Oft auch sind ihre Verse recht langzeilig, so daß ihre Endreime nicht auffielen. Ich wollte den Texten aber nichts schuldig bleiben, so unternahm ich es, ihnen einen Klang-Zusammenhang mitzugeben, indem ich, zwanglos das Vorhandene ergänzend, Binnenreime, Endreime, Stabreime und günstige Assonanz über den gesamten Text warf.

Die Klangstruktur entsteht – oder entsteht nicht – beim eigenen Text schon während des Schreibens, energetisch. Wer wird nun einer anderen Kind als Stiefkind stehn lassen!

Zumal ja das Geben so sonderlich zufrieden macht.
Wie auch das Lernen! Und endet nicht.

In dem Lernprozess begegnen mir nunmehr, seit ich nämlich auf sie achte, erfreuend feinere Arten von Assonanzen. (Die Freude ist auch die des Gebens, ihres Erblühens am fremden Text). (Man möchte ja annehmen, dass der eigene in seiner Gier selber einheimst, was er bekommen kann).

Eine gute Chance ist die Wiederbegegnung mit einem einmal gefertigten Text. Eine Chance, wenn die selbstverständlich erforderliche eigene Gutheißung des bereits Geleisteten einem nicht im Wege ist. Verblendend.

Assonanzen statt reiner Endreime erfordern eine besondere Aufmerksamkeit für den Klangbau ihrer Verse, damit sie überhaupt funktionieren. Z.B. ist es günstig, wenn der Vers so entschieden auf sein Ende zuläuft, dass diesem nichts übrigbleibt, als in den Klang-Kontakt zu treten. Gewöhnlich gibt man ihm denselben Vokal, mit dem der Partner-Vers tönt.

Ich hatte dieser Tage das (nicht freilich völlig überraschende) Glück, mir über feinere Arten von Assonanz bewusst zu werden, die ich traf in meiner Übersetzung – und übrigens auch im russischen Original – von Olga Martynovas Zyklus „Von Tschwirik und Tschwirka“.

Zwei Beispiele aus dem Gedicht „Für Wadim Strukow“, ich lese es erst im Ganzen:

Für Wadim Strukow
Wo Gilgamesch und Enkidu
schluchzten und schrien,
standen die Kakadus um sie,
der Atemgang ihrer strammen Arme ergriff sie.
Wo der Glücksgott Ganesha tanzte,
kam Petipa in den Saal ungestüm,
ein lockiger Falter,
wo der Garten von Versailles aufwuchs,
heulte das bittere Petersburg
und sein Strom zog Lisa ins Wasser.
Das klassische Ballett haben nicht wir erfunden,
sondern die Reiher über dem Fluss, die Weidenzweige unter dem Eis
bringen diesen Flug hervor.
Die nassen Frösche im Frühling, die dünnen Wurzeln im Winter,
aus dem Saale Vorzeitdunkel
sahen sie sie auf der Bühne, dem Berg.

„tanzte“ – „Falter“: Lesen Sie den Text laut und nehmen Sie den Genuss des Zusammenklangs dieser beiden Wörter. „das bittere Petersburg“: Die Assonanz triumphiert ohne Vokalgleichheit. Zwei Wörter vereinigend. Verbündet sind sie!

(Hier kann ich auch eine russische Assonanz zeigen: „Petipa“ in Vers 6 und „Petersburg“ – und ein wenig auch bittere: „tip“ – „bitt“. Im Deutschen funktioniert die Assonanz nicht, denn der Name des Ballettmeisters – s. Wiki – hat den Akzent auf der letzten Silbe: Petipá, aber russisch ist Petersburg Peterbúrg.)

Olga Martynova
Das Gedicht (für Wadim Strukov) auf Russisch:

ВАДИМУ СТРУКОВУ

Где Гильгамеш и Энкиду
Рыдали и рычали,
Кругом стояли какаду
И вздохи мускулистых рук с волненьем изучали.

И где Ганеша танцевал,
Там Петипа врывался в зал –

Завитой мотылек,

Где вырастал версальский сад,
Там выл суровый Петроград,

И потóк Лизу влек.

Классический балет придумали не мы,
Но цапли над водой, но ивы подо льдами
Рождают тот полет,

Лягушки влажные весны и корни узкие зимы
Из зала первобытной тьмы
На горней сцене их видали.

Elke Erb
liest weiter:

In einem anderen Gedicht (mit dem langen Titel „Tschwirka spricht mit einer Libelle, während Tschwirik im Krieg ist“) genügte mir die Assonanz der beiden Schlussverse nicht, sie lauteten: „Wie dumm, dass ich nicht fähig bin, / dir davon zu erzählen.“ Eine gewöhnliche Assonanz. Man müsste die beiden ä dehnen, es ergäbe sich ein tänzerischer Rhythmus, der vielleicht irgendwo in einer Textmitte Reiz gehabt hätte, aber nicht am Schluss. Nein! Korrektur! Eine (noch erinnerlich wann) gelernte Regel lautet: Schreibe entspannt hin, was da steht. Unversehens stimmt es. Da stand: „Wie dumm, dass ich nicht verstehe, / dir davon zu erzählen.“ Perfekt! Das gedehnte geschlossene e reagiert apart, auf das bestimmteste, mit der Dehnung des offenen ä, in Komplizenschaft mit der Folge der vier d in den beiden Versen. Mitwirkt auch der Gleichlaut des v von verstehe (obwohl nicht in der Akzent-Silbe, aber vielleicht ja gerade deshalb, weil es versteckt steht) mit dem v in davon. So fein kann das gehn, wenn es losgeht!

Wie dumm, dass ich nicht verstehe, / dir davon zu erzählen.

Oleg Jurjew, Olga Martynova, Elke Erb auf dem Podium

Oleg Jurjew, Olga Martynova und Elke Erb auf dem Podium

Foto: Erich Malter

3

Oleg Jurjew
Jetzt lesen wir ein Gedicht von Jelena Schwarz.

Oleg Jurjew
spricht über Jelena Schwarz.

Olga Martynova
Einmal wollte ich eine Rezension über ein Buch von Jelena Schwarz schreiben und rief eine Zeitung an. Das ist schon ziemlich lange her. Der Übersetzer hat Gedichte von Jelena Schwarz formgetreu übersetzt, auch ziemlich virtuos. Jelena Schwarz, die Deutsch konnte, sagte uns: Ich weiß nicht. Das ist einerseits so genau, als hätte man einen Handschuh umgestülpt. Andererseits, weiß ich nicht, ob das so geht. Als ich bei der Zeitung anrief, lag das Buch interessanterweise gerade auf dem Tisch der Redakteurin. Sie öffnete es, sah hinein und sagte „Aber das ist das 19. Jahrhundert!“ Ich konnte sie überzeugen, dass es sich im Original anders verhält und das Buch doch eine Besprechung wert ist. Aber die Redakteurin hatte recht. Und das ist kein Einzelfall. Das ist ein wirklich existierendes Problem: Wie übersetzt man ein gereimtes russisches Gedicht, das in der Originalsprache sehr aktuell klingt, und wie behält man diese Aktualität in der Zielsprache, wenn man sich an in der Zielsprache veraltete technische Mittel hält.

Wir haben ein Gedicht von Jelena Schwarz ausgesucht, in dem der Rhythmus eine viel stärkere Wirkung hat als der Reim. Dieses Gedicht ist eine Stilisierung. Sie folgt formell den alten religiösen Bettlerliedern. Was die Aufgabe der Übersetzer noch erschwert. Das Gedicht spielt mit dem Bildmotiv „Die Taufe Christi“, es handelt sich um ein Bild von Fra Beato Angelico. Im Gedicht ist die Geste Johannes des Täufers mit der Geste eines Gärtners verglichen, der eine Blume gießt. Daraus entsteht die perfekte Stilisierung eines alten ekstatischen religiösen Volkslieds, wie sie die Bettler vor den Türen gesungen haben. Zugleich zeigt der Text auf eine besondere Weise einen sehr modernen Duktus. Das ist wie ein Zauber. Und ich glaube, Elke ist es gelungen, den richtigen Ton hier zu treffen:

ВОСПОМИНАНИЕ О ФРЕСКЕ ФРА БЕАТО АНДЖЕЛИКО „КРЕЩЕНИЕ“ ПРИ ВИДЕ ГОЛОВЫ ИОАННА КРЕСТИТЕЛЯ В РИМЕ

Роза серая упала и замкнула Иордан,
И с водой в руке зажатой прыгнул в небо Иоанн.
Таял над рекой расветный легкий мокренький туман.
Иоанн сжимает руку будто уголь там, огонь,
И над Богом размыкает свою крепкую ладонь.
Будто цвет он поливает и невидимый цветок,
Кровь реки летит и льется чрез него, как водосток.
Расцветай же, расцветай же, мой Творец и Господин,
Ты сгорал в жару пустынном, я пришел и остудил.
Умывайся, освежайся, мой невидимый цветок,
Человек придет и срежет, потому что он жесток.
Ты просил воды у мира и вернул ее вином,
Кровью – надо человеку, потому что он жесток.
Но пролился же на Бога Иордановым дождем
Иоанн – и растворился, испарился как слова
И лежит в соборе римском смоляная голова,
Почерневши от смятенья, от длиннот календаря
Он лежит как lapis niger,
твердо зная, что наступит тихо серая заря.
Я прочла в пустых глазницах, что мы мучимся не зря.
Солнце мокрое в тот вечер выжималось, не горя,
Будто губка и медуза. На мосту чрез Тибр в мути
Безнадежность и надежда дрались, слов не говоря,
Как разгневанные путти, два козла и два царя.

Elke Erb
Das wusste ich nicht, dass sie den Ton von Volkspoesie aufgenommen hat. Ich habe aber, wie ich von Volkspoesie-Übersetzungen her weiß, eine besondere Antenne für ihren Ton. Für ein Kinderbuch habe ich Bylinen übersetzt und Lieder russischer Strafarbeiter in sibirischen Bergwerken. Da wird eine politische Leidenschaft berührt. Ich meine überhaupt, daß die Poesie einen politischen Kern hat.

Meine Übersetzung des Gedichts von Jelena Schwarz lautet:

Erinnerung an das Fresko „Battesimo di Cristo“ von Fra Beato Angelico beim Anblick des Kopfes von Johannes dem Täufer in Rom

Sie, die graue Rose, fiel und verschloss den Jordan da,
und Johannes sprang gen Himmel mit dem Wasser in der Hand.
In der Dämmerung hing tauend überm Fluss der feuchte Dunst.
Seine Hand schließt zu Johannes, als sei Kohle in ihr, Glut,
und er tut die breite, starke Hand auf über Gottes Sohn.
und als gösse eine Blüte er, die Blume unsichtbar,
fliegt und fließt wie aus der Traufe über sie des Flusses Blut,
so erblühe, blühe auf denn, der mein Schöpfer ist und Herr,
glühend gingst du durch die Wüste, dich zu kühlen bin ich hier.
Laben sollst du dich, erfrischen, meine Blume unsichtbar,
sieh, es kommt der Mensch und schneidet, deshalb, weil er grausam ist.
Diese Welt batst du um Wasser, gabst es ihr als Wein zurück
und als Blut – nötig dem Menschen, deshalb, weil er grausam ist.
Doch als Jordanregen strömte da Johannes auf den Gott,
strömte aus und löste auf sich, wurde Dunst so wie das Wort
Nun liegt in der römischen Kirche der wie Pech gefärbte Kopf,
denn in des Kalenders Längen schwärzt‘ ihn die Verlegenheit,
lapis – niger von der Zeit,
steinhart in dem Wissen, dass der graue Morgen leise kommt.
In den Augenhöhlen las ich, unsere Qual ist nicht umsonst.
Und an jenem Abend glanzlos stand die Sonne ausgepresst
wie ein Schwamm, wie eine Qualle. Auf der Tiberbrücke trist
Hoffnungslosigkeit mit Hoffnung stritt, es fiel kein Wort dabei,
wie erboste Putten beide, Könige sie, Böcke zwei.

4

Olga Martynova
Wir sprechen heute nur von den neuesten Übersetzungen. Und das sind die Übersetzungen von Gegenwartsdichtern. Das freut mich sehr, ich finde das überhaupt sehr gut, dass wir im Laufe der Jahre fast eine kleine Anthologie zeitgenössischer russischer Lyrik gesammelt haben. Heute können wir nur einige Texte davon zeigen. Aber ich will etwas dazu hören, wie Du in der DDR Lyrik der klassischen Moderne übersetzt hast. Wie war es? Wie war die erste Begegnung mit dieser Lyrik? Was hat das überhaupt bedeutet für Dich und für die anderen, die das gemacht haben?

Elke Erb
Ich habe oft, wie andere gewiss auch, Übersetzungsaufträge angenommen, um die russischen Dichter kennenzulernen. Meine ersten waren Brjussow und Blok. Sehr viel übersetzt habe ich von Marina Zwetajewa, auch Prosa. „Puschkin und Pugatschow“ war mein übersetzerisches Gesellenstück. Ich bekam weiche Knie vor Anstrengung. Bei einem Kurzzeilengedicht von ihr habe ich gelernt, Konsonanten zu reimen. Dann war das dramatische Poem „Pugatschow“ von Jessenin eine komplette Reimschule, eine Monographie über den Reim. Es kam darauf an, den Ton so strikt auf das letzte Wort zu bringen, dass der Reim funktionierte. Wir bekamen zu den russischen Originalen gut kommentierte Interlineare. Auch bei lebenden Dichtern. der Jewtuschenko-Generation. Nach der Wende erst konnten wir bei Lebenden nachfragen, in der Zeit unserer deutsch-sowjetischen Freundschaft wirkte ein eiserner Vorhang.

5

Olga Martynova
Du erzählst in einem Interview von der Übersetzung von Leonid Aronsons:

„Ich werfe mich z.B. mit dem Gedicht von Aronson aufs Bett und stöhne: ‚Es geht nicht. Es geht überhaupt nicht‘. Und auf einmal dreht es sich und dreht es sich. Du musst irgendetwas machen, was dich hinter deine eigene funktionierende Person bringt. Auf einmal kommt da viel mehr als du geahnt hast. Gut ist auch Zorn, gut ist auch eine totale tumbe Vergessenheit, Verdrossenheit. Das sind alles Jenseits-Zustände, die nicht dieses propere Können haben müssen, das aber DANN kommt. Und nachher ist es wie durch ein Wunder.“

Elke Erb
Ja, Ihr hattet mir in Frankfurt die Gedichte von Aronson gezeigt. Ich verstand sie nicht völlig, was das Russische begrifft, aber sie wirkten sofort auf mich, womit? Intuitiv? Unterschwellig? Oder umgekehrt, nicht unten, sondern … mit einem Fluidum … Du kannst es nicht benennen, aber es sind die untrüglichsten Zeichen: Poesie? Dann kamen die russischen Verse mit den Interlinear-Übersetzungen von Olga bei mir zuhause an … Tja.

Oleg Jurjew
spricht über Leonid Aronson.

Напротив низкого заката,
дубовым деревом запрятан,
глаза ладонями закрыв,

нарушил я покой совы,
что, эту тьму приняв за ночь,
пугая мышь, метнулась прочь.

Тогда, открыв глаза лица,
я вновь увидел небеса:
клубясь, клубились облака,
светлела звездная река,
и, не петляя между звезд,
чью душу ангел этот нес,
младенца, девы ли, отца?
Глазами я догнал гонца,
но, чрез крыло кивнув мне ликом,
он скрылся в темном и великом.

Elke Erb

Gegenüber dem niederen Abendrot,
vom eichenbaumenen Baum versteckt,
habe ich mit der Hand die Augen bedeckt
und gestört in der Ruhe die Eule,
die dieses Dunkel hielt für die Nacht
und die Maus erschreckend aufbrach in Eile.

Dann ließ das eigene Gesicht
wieder schauen den Himmel ich:
die Wolken knäuelten sich zu Knäueln,
die milchene Straße strömte sacht,
und, ohne Irren im Gestirn,
der Engel trug als Seele wen
dort: Vater, Jungfrau, Wickelkind?
Die Augen holten ein den Boten,
doch, nickend rückwärts mit dem Kinn,
verschwand er mir im Dunklen, Großen.

1967

Im Russischen steht: „vom eichenen Baum“. Daraus wurde der „eichenbaumene Baum“. Das ist natürlich ein Übergriff über die Duden-Festsetzung hinaus. Dazu möchte ich geltend machen, dass die Sprache für tot erklärt wird, wenn man ihr nicht erlaubt, ihre Möglichkeiten kreativ zu nutzen.

Olga Martynova
Noch ein Gedicht von Leonid Aronson. Da gibt es am Ende den Ausdruck: Дева молодая. Buchstäblich: Junge Jungfrau. Das geht deutsch natürlich nicht. Als Oleg Jurjew und ich die Lösung gesehen haben, die Du gefunden hast, waren wir sehr glücklich: Jungfräuliches Weib. Das ist einfach klasse! Wir lesen jetzt auch dieses Gedicht:

Стихотворение, написанное в ожидании пробуждения

Резвится фауна во флоре,
топча ее и поедая,
а на холме сидит Даная,
и оттого вуаль во взоре,
и оттого тоска кругом,
что эта дева молодая
прелюбодействует с холмом!

Май, утро <1968>

Elke Erb

Gedicht, in Erwartung des Erwachens geschrieben

Die Fauna, schau, tollt durch die Flora
und frißt an ihr und tritt sie nieder,
doch Danae sitzt auf dem Hügel,
ein Schleier weht im Blick verloren,
und Wehmut dunstet weit und breit,
da es, das jungfräuliche Weib,
Unzucht mit jenem Hügel treibt.

Oleg Jurjew, Olga Martynova auf dem Podium

Oleg Jurjew, Olga Martynova

Foto: Georg Pöhlein

6

Olga Martynova
Jetzt noch ein sehr schwieriges Gedicht von Alexander Mironov.

Oleg Jurjew
spricht über Alexander Mironov.

Страшно выключить свет, вдруг остановится сердце
Или крыса во тьме лапки ракушкой сложит,
Молиться начнёт, чтоб не взбредило ей
К теплой щеке приложиться.

Свет – давно уж несвет. Страшно не выключить бред.
Выключишь – и придут: руки сложат в уют,
Молитву на лоб и – с рюшками в гроб,
Сожгут – и захочешь проснуться.

А самое страшное-то: тра-та-та,
Где дети во тьме поджигают кота
Где черти дневные все пишут и пишут
А Дух всуепроклятый дышит и дышит.

2003

Olga Martynova
Die letzte Zeile ist ein umgedrehtes Zitat.

Elke Erb

Schrecklich, das Licht auszuschalten, vielleicht bleibt das Herz stehn
Oder die Ratte im Finstern faltet die Pfötchen zur Muschel,
Betend, dass ihr nicht einkommt im Wahn
Sich zu wärmen an warmer Wange.

Licht ist schon lange Unlicht. Schrecklich, nicht zu löschen den Wahn.
Schalt ihn aus, und sie kommen: falten die Hände zur Ruh,
Den Gebetsstreifen dir auf die Stirn – und ab in den Sarg mit der Zierde
Und verbrennen – und du willst erwachen.

Doch das Schrecklichste freilich: Tatatá-Tatatá,
Wo die Kinder im Finstern den Kater anzünden
Wo die Tagteufel nichts als schreiben und schreiben
Und der Missbrauchverfluchte weht und weht.

2003

Über die letzte Zeile. Dazu will ich etwas erzählen. Das habe ich im Tagebuch notiert: Gestern las ich Matthäus 6 von den Luther-Revidierern der Schweizer Bibelübersetzung über die Heuchler, die mit Wohltun prahlen; „wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt!“. Statt: „Sie haben ihren Lohn dahin“.

Hier handelt es sich um das Verschandeln des tradierten Textes, um das Zerstören tradierter Kultur, des gewohnten, des kräftigen und mittlerweile besonderen: „Sie haben ihren Lohn dahin“. Der neue junge Leser wird nicht mehr zu begreifen eingeladen, sondern in das ihm gewohnte Einerlei gewiesen. Auf welches sie sich ja berufen, wenn sie z.B. im Vorwort erklären: „So wurde der Begriff ‚Weib‘, dessen Bedeutung sich seit der Reformationszeit ins Negative verschoben hat, weitgehend durch ‚Frau‘ ersetzt […]“. Womit sie sich obsolet verhalten, die Strohpuppen. Die Impotenz-Formel lautet durchweg: das heutige Deutsch u.ä. O Jesses! Bekanntlich haben es in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts selbst die Kleinstädte geschafft, auszusteigen aus ihren primitiv strikten Normvorstellungen. Die von den Medien bewirkte Nivellierung ist ein anderes Thema. Aber man kann ja zusehen, wie von zwei Seiten für Flurschaden gesorgt wird.

Dann hatte ich einen anderen Ärger mit „Du sollst den Namen deines Herrn nicht umsonst gebrauchen“, bei Luther stand „missbrauchen“, du sollst ihn nicht missbräuchlich nennen. Und nur im Katechismus steht „umsonst“. In einem russischen Vers, den ich zu übersetzen hatte, stand ebenfalls umsonst / unnütz. Der gleiche Irrtum wie im deutschen Katechismus. Luther hat es deutlich gemacht: Du sollst ihn nicht missbrauchen, um beispielsweise irgendwelche Teufel auszutreiben. Da bin ich so in Zorn geraten über diesen Missstand, daß ich das auf einmal mit „missbräuchlich“ hinbekommen habe. Mein Zorn führte zu einer Art Fluch-Qualität, die ihre Geschwindigkeit hat, plötzlich kannst du etwas gegenständlich hinsetzen, aus Zorn.

Sollte ich die Gelegenheit dazu erhalten, möchte ich jungen Menschen, die eventuell vom Übersetzen leben werden, injizieren, sie mögen stolz sein, daß sie Widerstand leisten; es geht nur um sie, denn die Welt wird sie nicht finanziell entlohnen, die Entlohnung kann man vergessen. Was du tust, ist deins.

Wo die Tagteufel nichts als schreiben und schreiben
Und der Missbrauchverfluchte weht und weht.

7

Olga Martynova
Jetzt lesen wir ein Gedicht von Igor Bulatowsky.

Oleg Jurjew
spricht über Igor Bulatowsky.

Olga Martynova
Auch mit diesem Autor hat man als Übersetzter nur Schwierigkeiten. Seine flüsternde Manier, wo nichts direkt gesagt wird, verlangt viel Aufmerksamkeit. Was wir jetzt zeigen erinnert mich daran, wie Elke Erb bei unserer gemeinsamen Lesung in Berlin sagte, Übersetzung hat etwas mit Blasphemie zu tun: Wie willst du ein Gottesgeschöpf übersetzen. Das ist, wie wenn du eine Katze, die gerade die Straße überquert, übersetzen wirst.

IGOR BULATOVSKY

Говори о чем угодно,
Ничего не говори, –
Эта дама несвободна,
Раз-два-три да раз-два-три.

А когда тебе неймется
Покатать во рту слова,
Лучше прочих отзовется:
Раз-и-два и раз-и-два!

In diesem Gedicht ist das dem Autor eigene Flüstern in einen Walzerrhythmus hineinmontiert. Und als der Autor, der auch Deutsch versteht, die letzten zwei Zeilen las, sagte er, es sei unwahrscheinlich, was die Übersetzerin da gefunden hat. Bei ihm sind Tanzfiguren in Zahlen eingegeben: Eins-und-zwei und eins-und-zwei, und zwar so, dass das merklich deutlicher zu hören ist als die Worte. Elke hat die Zahlen in die Raumrichtungen umgewandelt.

Elke Erb

Sprich, wovon du willst,
Sage nichts, –
Diese Dame ist vergeben,
Und eins-zwei-drei, eins-zwei-drei.

Aber wenn du nicht anders kannst
Als Wörter sprechen mit deinem Mund:
Links-rechts, links-rechts-um
Hat die bessere Resonanz.

Das Gedicht ist durchgereimt. Bei mir nicht. Aber ich meine, dass ich mit dem assonant gereimten Schluss den Eindruck erwecken kann, mein ganzes deutsches Gedicht sei gereimt.

8

Olga Martynova
Zum Schluss lesen wir noch drei Gedichte. Das eine ist von mir. Als wir vor kurzem dieses Gedicht beim Jandl-Festival in Österreich gelesen haben, war im Publikum die Lyrikerin Anja Utler, die sehr gut Russisch versteht. Sie hat mir dann gesagt, als sie das auf Russisch gehört habe, habe sie gedachte, das zu übersetzen, sei überhaupt unmöglich. Und dann hat sie die Übersetzung gehört und musste feststellen, dass alles wirklich übersetzt wurde. Ich sagte: Ja, Elke Erb duldet keine Kompromisse, das macht die Arbeit mit ihr so spannend.

ЧВИРИК НА ВОЙНЕ

Еще я не погиб
В родном-чужом краю.
Еще закат-восход
Зовет меня в поход.

Мой ратный труд –
Обратный круг.
Мой родный брат –
Обратный враг.

Мой враг огонь, мой брат огонь,
„Ты потуши свою ладонь, –
Сказал товарищ мой Динь-Донь, –
Ты потуши мишень“.

Динь-Донь завесит мой огонь,
Завесит шепотом: тинь-тонь,
И я сожгу свою ладонь,
Горящую мишень.

И будет птичий день
В родном-чужом краю.
И на закат-восход
Товарищ мой уйдет.


Tschwirik im Krieg

Ich kam noch nicht um
Im fremden Daheim
Noch beruft mich West-Ost
Zum Feldzug ein

Meine Müh im Heer –
Eine Kreisumkehr.
Der Bruder mein
War verkehrt der Feind.

Mein Feind ist Glut, mein Bruder Glut,
„Lösche du aus Deine Hand“,
Sagte da Kamerad Ding-Dong,
„Diese Zielscheibe aus mach du!“

Verdecken wird mich Ding-Dong,
Mit Flüstern verdecken: Ting-Tong,
Und ich verbrenne die Hand,
mach ausgehn die Zielscheibenglut.

Und es kommt ein Vogeltag
Im fremden Heimatland.
Und mein Freund geht fort
nach West und Ost.

Zu diesem Gedicht hatte ich mir notiert: Keine Zusatzleistung, nur nicht stören.

Es ist ein Gedicht aus dem Zyklus „Tschwiriki“. Er ist insgesamt sehr von Lautspielen bestimmt, und es hat mich ergriffen, zu begreifen, dass sie durch die Lautspiele hindurch existentielle Themen, z.B. das ihrer Emigration, erkennen lässt.

9

Olga Martynova
Und zum Schluss noch einmal Oleg Jurjew.

Elke Erb
Ich hatte mir schon im vorigen Jahr notiert: Olegs stark lautgeleitete Gedichte: Klar ist, dass ich aus der Lautleite den semantischen Effekt herauszuschreiben habe, ihn freischreibe, und dann zusehe, was ich zugeben kann / zugeben muss an Klang aus dem Deutschen heraus, denn natürlich kann ich den deutschen Laut nicht ungebunden lassen, indifferent lassen mit Olegs schafherdenhafter Lautdichte vor Augen. Wenngleich, noch einmal, eben sie, diese Dichte, übersetzt werden muss ins Semantische. Der Sinn ist der Hirt. Paradox gesagt, die Herde ist auch Hirt. Die Gestik, nicht wahr. Lüge dich nicht hinweg, flüchtiger Äther, aus deiner Vererdung. Ein Ergreifen von dem, was ich wahrnehme, unter verschärften Bedingungen, Zwangsbestimmungen sozusagen, die den Ausdruck, die Impression, charakterisieren mit eben ihren nicht semantischen, sondern restriktiven, für den Übersetzenden, zunächst einschränkenden Eigenschaften, die zum Teil auch narren, das gehört dazu, wie im Märchen: Kommst du hier durch, bist du durch. Und in diesem Sommer notierte ich dazu: Da gab es z.B. ein Gedicht mit sieben Mal einem Reim auf „ros“, einmal „roz“, stimmhaft. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass die Lautkörper wesentlich das Gedicht bauen. Statt der Bedeutungen, die sonst den Vorrang behaupten.

Oleg Jurjew
liest das Gedicht auf Russisch:

загород черный светом зарос
в форме наклонно-ходящих полос
ростом с нас

пригород белый тенью прирос
как на желéзе подтек купорос
просто снясь

подгород желтый прахом подрос
как от надпоротых папирос
ростом с нас

город незримый в воздухе рос
весь наплоенье невидимых роз
просто снясь

Elke Erb
liest die Übersetzung:

Die schwarze nachstadt wuchs mit licht zu
in schrägen schweifenden streifen
groß wie wir

die weiße vorstadt nahm mit schatten zu
wie vitriol auftreibt auf eisen
träumend ihr

der gelben unterstadt wuchs ein staubhut
wie aus aufgetrennten zigaretten steigend
groß wie wir

die unsichtbare stadt stieg in den himmel pur
lauter lotrechte falten von rosen geheimen
sie träumte nur

Olegs Gedicht „Der Frühjahrsflug der Käfer“ reimt knapp variierend von einer Zeile zur andern. Ich habe keine Chance, dieses Spiel wiederzugeben. Aber die Wirkung, den Effekt habe ich doch empfangen, aus ihm heraus kann ich das Gedicht wiedergeben, in eben dem, was aus seinem Spiel resultiert, was die Spielhaltung tut. Sie ist ja auch nicht allein, es sind auch andere Gesten da, ungewöhnlicher Art. Mein Prinzip: die Lautleite ersetze, scheint mir in diesem Gedicht mit seiner charakteristischen Gestik über das Lautliche hinaus überholt worden zu sein. Den Vorrang hat die Gestik.

Oleg Jurjew
liest das Gedicht auf Russisch:

ВЕСЕННИЙ ПРОЛЕТ ЖУКОВ

Сквозь полый лес летят жуки,
руля пологими рогами,
их синеватые жидки́
глаза, не видимые нами,

их приторочены к крылам
в смолу залитые пожитки,
их, обращенные к не нам,
глаза невидимые жи́дки,

восток по ним коси́т косой,
пылая на прозрачных шляпах,
с-под них косою полосой
по склону сходит косный запах,

крупинки высохшей смолы
с их отпадают переносиц:
сквозь ослепленные стволы
из смерти в смерть их переносит.

Elke Erb
liest die Übersetzung:

Der Frühjahrsflug der Käfer

Den Hohlwald durchfliegen die Käfer
mit den Plättchenhörnern lenkend;
bläulich, ihre, nässlich,
Augen, von uns unbemerkte,

beigepackt, ihre, den Flügeln,
Habe, in Harz getauchte,
ihre auf nicht uns gerichteten,
unsichtbaren nässlichen Augen,

der Osten schrägt über sie, Sense,
beglüht transparente Hütle,
quer unter ihnen absickert
ein müder Geruch den Hang lang;

eingetrocknet zu Krümeln,
rieselt Harz von dem Nasenansatz:
zwischen geblendeten Stämmen
schwärmts von einem Tod in den andern.