Auszug aus Alhierd Bacharevičs „Die Hunde Europas“

übersetzt von Thomas Weiler

>> In the nightmare of the dark
All the dogs of Europe bark,
And the living nations wait,
Each sequestered in its hate;

Intellectual disgrace
Stares from every human face,
And the seas of pity lie
Locked and frozen in each eye.

Follow, poet, follow right
To the bottom of the night … <<

W. H. Auden. In Memory of W. B. Yeats

I. Wir sind leicht wie Papier

1.

Wie sie mich anödet, eure belarussische Sprache, wer wüsste es zu sagen. Und wer wüsste zu sagen, mit welcher Wonne ich das schreibe.

Öde. Öde.

Verödung.

Verblödung.

Zuwider ist sie mir. Weg mit dir, Sprache, ksch. Jetzt ist Schluss mit lustig. Mit dir kann man nicht reich werden, nicht morden, nicht spielen, dich kann man nicht vergessen. Wie eine Fremde im Bahnhofsnebel, Entführerin kurz unbeaufsichtigter Kinder, bist du eines Tages aus dem Nichts aufgetaucht, hast mich an deiner Hand mitgenommen in die vollgespuckte Unterführung mit ihren trüben Glasvitrinen, verfrorenen Tauben und Losverkäufern – und ich wollte mich immer wieder umdrehen nach den Koffern, die da noch standen: grundsolide, zukunftsprall, herrenlos. Du hast mich getrennt von meinen Lieben, hast mich gezwungen, mir ein Volk einzubilden, durchsichtig, flüchtig, nichtig. Jahr um Jahr sind wir beide durch die Welt gezogen, haben genächtigt an schäbigen Stätten, in Fliegenmilchdörfern, Bibliotheken, verlassenen Schlössern, in halbseidenen Herbergen – wie es sich fügte; du hast mir chinesisches Billigspielzeug gekauft und mich genährt bis ich groß war, du hast mich leise sprechen und schnell denken gelehrt, tagsüber ließt du mich auf den Straßen betteln, nachts aber verhießt du mir ein Königreich, und hierhin hast du mich schließlich gebracht –

in diese räudige,

gleichsam verräucherte

Einraumbutze,

in diesem Haus mit Gedenktafel,

in der Stadt M.,

in Zeiten allgemeiner Verdüsterung.

Und euer Russisch hab ich auch so was von über. So was von. So satt, ich kann es gar nicht sagen. Wer hätte geahnt, welchen schalen Geschmack es mir in den vergangenen vierzig Jahren anhängen würde. Was du auch sagst in dieser Sprache, alles war schon da, alles hallt nach in tausenden blöden Echos und stinkt nach längst erkalteten Lettern. Fertigkonstruktionen, Bleiguss, ein Sprachrohr, quer durch unsere Leben verlegt. Immer wolltest du etwas von mir. Schon im Mutterleib, ich war noch nicht mal Mensch, nur so ein halbgewalkter Balg, da bist du mir auf die Pelle gerückt, hast mir Moralpredigten gehalten, mich mit deinen Mullbinden gewürgt, mit Angst infiziert. Eine Sprache, die immer wie mit Durchsuchungsbefehl kommt, eine Sprache, die immer Recht hat. Weg, Russisch, ksch, blecherne Sprache der Wohnraumverwaltungskommissionen und Pagencorps, Sprache der großen, klebrigen Literatur, Stimme von Millionen kleiner, in ihrem Alltagszorn eifernder Menschen.

Und Englisch? Geht mir nicht weniger auf den Geist. Was ihr Englisch nennt, ist nichts als ein geschwulstartig aufgedunsenes Gummiherz, das wie wild Milliarden Wörter in die Welt pumpt, ein totes Herz, bestrahlt von einer unbarmherzigen Lampe. Ein kaltes lumineszentes Leuchten. Eine Fastfood-Sprache, überall Englischflecken, als wäre die Welt bloß ein Haufen Servietten auf irgendeinem Tisch. Englisch, eine Sprache aus Transfetten und Zusatzstoffen. O ja, sie versteht sich aufs Schmieren! Wer denkt nicht alles, er könne Englisch und ist der Meinung, das reiche zum Glücklichsein. Naive Trottel. Was könnten wir einander nicht alles sagen, wenn wir bloß auf euer Inglisch verzichten würden, wenn wir dieser ekelerregenden Verständnisorgie ein für allemal unser Nein entgegenschmettern würden.

Spanisch? Das asthmatische Röcheln eines Mörders, irgendeines braven Che-Monsters. Das Lachen eines Tierschlächter-Stierkämpfers. Deutsch? Ein bitterer Rettich, der sich einmal als Genie und Übermensch verstanden hat und sich jetzt krampfhaft abstrampelt, um wieder normal zu erscheinen. Französisch? Außen eine halbenthülste Schrift, innen unansehnlicher Philosophensprech. Polnisch? Der Dünkel zweitklassiger Dichter, der die Wörter schmatzen, schmurgeln und platzen lässt, wie die Würstchen in der Pfanne …

„Was schreiben Sie denn da alles?“ Er blickt von seinem Telefon auf und knarrt unwirsch mit dem Stuhl.

„Ich schreib“, versuche ich mich wenig überzeugend zu rechtfertigen und verdecke die grauen Bögen mit der Hand.

„Ichschreibichschreib“, äfft er mich nach. „Schreibert mir hier drei Seiten voll. Her damit.“

Resolut reißt er mir die Blätter unter den Händen weg. Er verzieht das Gesicht, als würde er gleich anfangen zu weinen.

„Was ist das? Was ist das, frag ich Sie? Ja, Heilandsack, was soll das jetzt sein? Was soll ich mit dem ganzen Kram, hm? Sind Sie taub? Oder krank im Kopf? Was hab ich denn gesagt? Schreiben Sie, unter welchen Umständen Sie Person xy kennengelernt haben … Und was schreiben Sie? Ksch, ksch, Würstchen, Balg … Mensch, ich versteh ja kein Wort, das kapiert doch keine Sau hier!“

„Ich habe lange nicht von Hand geschrieben …“

Brutal und mit Inbrunst zerknüllt er meine Blätter, und ich empfinde Mitleid für das Geschriebene. Mehr noch als für mich selbst. Ich mag Papier. Es beruhigt mich. Mir ist heiß, himmelangst und heiter zugleich. Er presst das Papier zu einer Kugel und wirft sie irgendwo hinter mich – ich fahre trotzdem zusammen und wende mich ab, als hätte er auf mein Gesicht gezielt.

„Von Hand! Von Hand hat er nicht geschrieben, Himmelarsch! Hand oder Fuß, scheißegal! Thema verfehlt! Thema! Klar? Ich brauch Fakten. Und das hier ist Bockmist. Ich hab Ihnen doch auf gut Russisch gesagt …“

Er greift sich mit beiden Händen an den Kopf und schließt die Augen. Der Mann des Staates leidet Höllenqualen meinetwegen. Der Mann des Staates ist verzweifelt. Der Mann des Staates schweigt. Der Mann des Staates straft mich mit der stickigen Luft seines Büros. Eine Minute vergeht, mag sein auch zwei, und ich kann langsam hören, wie dieses seltsame Gebäude lebt, das auf jeder Etage ein Dutzend Männer des Staates beherbergt. Im Nebenraum schallt nervöses Frauenlachen, irgendwo weit oben rauscht ein Hahn, springt eine Bohrmaschine an – wohl ein Verhörkünstler reinsten Leitungswassers, der sein Gegenüber mit Blicken durchbohrt. Wenn ich jetzt leise aufstünde und in den Korridor entschlüpfte, mein Mann des Staates würde wohl gar nichts mitbekommen. Aber plötzlich gluckert es in seinem Bauch. Und sofort ist er mir sympathisch – als ob da unter seinem Jackett noch ein anderer sitzt, klein, nichtstaatlich, ein ganz normaler Mann, ein Mensch mit all seinen Marotten und Macken, Pickeln und Pusteln, Ecken und Kanten.

Vielleicht hat er sogar ein Kätzchen.

Und das Kätzchen einen Ball.

Einen Moment lang glaube ich tatsächlich, dass sich alles ganz einfach auflösen ließe: Ich geh jetzt hier leise raus und sage zu niemandem ein Wort, und er schlägt die Augen wieder auf, streicht mich lächelnd aus seinen Protokollen hier, geht in die Kantine, schaut auf sein Telefon als wäre nichts gewesen und vergisst mich, und ich vergesse ihn, und wir begegnen uns nie wieder.

Und kaum beginne ich daran zu glauben, dass das möglich sein könnte, da verstummt sein Innenleben, er kommt wieder zu sich und heftet seinen zornigen Blick auf mich.

„Hören Sie mir mal gut zu, Oleg Olegowitsch. Ich werde das nicht wiederholen. Ein Mensch ist zu Tode gekommen, das ist kein Kinderkram. Uns ist bekannt, dass Sie mit diesem Fall unmittelbar zu tun haben. Deshalb habe ich auch zu Ihnen gesagt: Nehmen Sie ein Papier und schreiben Sie, klar und deutlich, wann und unter welchen Umständen Sie …“

Er wühlt in seinen Papieren.

„… hier: Koslowitsch Denis, Bundas Stanislaw, Kaschkan Natalja kennengelernt haben. Verstehen Sie, wovon ich rede? Oleg Olegowitsch? Muss ich Ihnen auf die Sprünge helfen, hm? Was genau passiert ist? Muss ich das, hm?“

Ich antworte nicht. Diese Namen sagen mir wirklich nichts. Sie sind fremd. So habe ich sie nie genannt.

„Gut, dann wollen wir mal …“ Er tastet nach einer unheilvollen Akte. „Hier: Koslowitsch Denis Walerjewitsch, Sie kennen ihn ja, nicht? Hier auf dem Foto, ist er nicht so gut beieinander, aber noch zu erkennen. Schauen Sie sich gerne Leichen an, hm, Oleg Olegowitsch? Und Bücher lesen Sie auch gerne … Doch, doch, das weiß ich. Und hier haben wir Wort und Mord an einem Ort.“

Ich wende mich ab. Er ist zufrieden, denkt, gleich hat er mich soweit. Noch ein bisschen Druck, dann läuft der Saft aus mir raus. Aus den Augen, aus den Fingern, aufs Papier, auf sein Gesicht weint der saure Saft der Schuld, den er, der Winzer, zum kostbaren Trank veredelt – und die Gerechtigkeit nimmt Platz an der üppigen Tafel und schmaust und schlemmt, und wir mögen die Gerechtigkeit ja alle so gern. Aus dem Augenwinkel habe ich das Foto natürlich gesehen. Ich konnte gar nicht anders, ein Mensch des Informationszeitalters wie er, keine Abkehr ohne Rückkehr, es gibt keine überflüssigen Bilder, Buchstaben und Laute mehr, keine fremden Taten und Geheimnisse, überall müssen wir unsere Nase hineinstecken, sonst finden wir nicht in den Schlaf. Den lieben langen Tag sind wir nur am Lesen. Deshalb hatte ich heimlich einen Blick auf das Foto geworfen, und er hatte den Blick bemerkt, musste ihn bemerkt haben.

Der schalkäugige, großmächtige Mann des Staates verfolgt meine Reaktion genau. Er kann ja nicht wissen, dass ich Eidetiker bin, dass mir ein kurzer Blick auf etwas genügt, dieses Etwas in mein Bewusstsein springen und dort auf ewig verankert sein zu lassen. Natürlich ist es besser, wenn dieses Etwas Buchstaben auf Papier oder einem Bildschirm sind und kein nackter junger Bursche, den ich erst kürzlich mit nicht existierenden Schätzen zu verführen suchte. Koźlik, Koźlik, was hast du nur angerichtet. Können wir uns wenigstens jetzt noch darauf verständigen, dass das alles nur ein Spiel war? Steh auf, lösche dich von diesem Asphalt, von dieser Aufnahme, aus meinem Gedächtnis, einigen wir uns darauf, einander nie gekannt zu haben. Dann verschwindet auch der auf der anderen Seite des Tisches. Löst sich in Luft auf, der gestrenge Mann des Staates – und wir gehen alle nach Hause. Können wir nicht einfach alle nach Hause gehen?

„Ich mache mir natürlich nichts aus Fremdsprachen“, sagt er nachdenklich und schiebt das Foto zurück in die Akte. „Aber sogar ich kann klipp und klar sagen: Was da auf seiner Haut geschrieben steht, ist nicht Russisch. Eingeritzt mit einem Messer. Das Messer haben wir gefunden. Aber der Text da … Verstehst du nur Bahnhof. Das ist kein Englisch, kein Deutsch, kein Französisch. Wir zeigen das Leuten vom Fach, logisch, aber dechiffrieren konnten wir es noch nicht. Sehen Sie, Oleg Olegowitsch, ich spreche ganz offen zu Ihnen. Und Sie?“

Und noch ein Blatt Papier. Es legt sich ganz akkurat vor mich hin, als hätte ich einen Vertrag zu unterzeichnen, und als hinge es allein von meinem Federstrich ab, ob wir beide davon profitieren, wir und unser seltsames Unternehmen, das bislang konkurrenzlos ist.

„Interessant, nicht?“ Wieder heftet er seinen Blick auf mich. „Ich habe es selbst abgeschrieben. Von Hand. Direkt von der Haut dieses Koslowitsch. Und ich will mich nicht beklagen. Vielleicht erklären Sie mir, was das ist? Helfen Sie uns? Was steht da? Sie sind doch ein gebildeter Mann, beherrschen viele Sprachen. Ist doch so?“

„Wer hier wen beherrscht, wäre noch zu klären …“

„Was brummeln Sie da? Wieso denn verhören? Wir unterhalten uns einfach. Hier, viel Vergnügen.“

Was ich da sehe, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Er beugt sich ungeduldig über den Tisch, sieht bald den kurzen Text an, bald mich. Sicher, ich weiß, was da auf diesem Blatt steht. Balbuta ist im Grunde ganz einfach – man braucht nicht viel Fantasie, muss nur ein klein wenig Dichter sein. Und sollte natürlich die Wurzeln behandelt haben, aber das ist schnell getan. Wurzelbehandlung – klingt wie beim Zahnarzt. Zweiunddreißig Zähne, hundertdreißig Wörter. Der Neandertaler hatte vierundvierzig Zähne.

„So viel wie Charms Zeisige“, sage ich.

„Was sagen Sie da?“

„Nichts, nur so.“

Zahlen, Zahlen, Zahlen. Zahlen gegen Wörter. Ich habe das alles durchdacht. Wurzelgeflecht versus Strafrecht.

Ich würde zu gerne schreiben. Alles erklären, meine Unschuld beweisen. Es jemandem erzählen, aber richtig, ganz von vorn. Sonst kapiert das ja keiner. Und dieser Rohling hat mir das Papier weggenommen.

Ich wende mich nicht mehr ab. Stumpf starre ich auf den mir untergeschobenen Text. Auf Papier wirken die Wörter solide. Als hätte nicht ich sie erdacht. Als hätte ich nichts mit der Sache zu tun. Lächerlich wird das, falls sie die Wahrheit rauskriegen. Die Abschrift ist natürlich Pfusch, fehlerhaft – aber vielleicht war auch das Original so, Koźlik hat gerne mal Buchstaben ausgelassen, die jungen Leute leiden alle an Dysgraphie, sind überhaupt alles Dyslektiker heutzutage, und schuld ist nur das weltumspannende Netz, das Netz hat die Rechtschreibregeln außer Kraft gesetzt, hat Orthografie und Ethik gleichermaßen aus dem Verzeichnis der Fähigkeiten und Fertigkeiten gestrichen. Und die Empathie.

Was hast du da mit mir gespielt, Koźlik?

„Was denn für Sprachen?“ Ich versuche, mich zusammenzureißen. „Da verwechseln Sie mich, in bin kein Polyglott.“

Er glaubt mir nicht.

„Ach was? Hat man mir aber gesagt.“

Ich habe ganz vergessen, dass es neben Koźlik noch andere gab. Kaštanka, Bunja. Haben die etwa auch so dagesessen, in diesem stickigen Büro, sich abgewandt und so getan, als hätten sie nichts mit der Sache zu tun, die sich erdreistet hat, einfach zu passieren?

„Na ja, vielleicht … Nein, ich weiß nicht. Es hat schon eine Ähnlichkeit, aber womit? Nein, kann ich nicht sagen. Baskisch vielleicht. Aber das beherrsche ich nicht. Ich habe nur gehört, das soll eine sehr schwierige Sprache sein. Ich weiß nicht. Und überhaupt hatte ich in der Schule nur Deutsch!“

Der letzte Satz hat beinah hysterisch geklungen. Und doch empfinde ich einen gewissen Stolz. Weil es richtig ernst ist. Endlich nimmt jemand mich und mein Werk ernst. Und wenn es nur ein kleiner Mensch in einem stickigen Büro ist.

Aber da fängt er plötzlich an laut vorzulesen, was auf dem Blatt geschrieben steht, mit seiner hölzernen Stimme, setzt die Betonungen als wollte er mich beleidigen, liest als reiße er einem schutzlosen Wesen brutal die Kleider vom Leib, und der Leib dieses Wesens tritt allmählich aus dem Dunkel seiner Idiotie hervor, kaum zu erkennen, aber doch noch lebendig. Und er quält ihn, geißelt ihn mit seiner Schandzunge, zerreißt Wort um Wort. Und grinst mich hämisch an dabei. Der Mann des Staates grinst mich an, als lese er von den Zornesfalten auf meiner Stirn und nicht von dem grauen Blatt Papier. Die verstümmelten Worte dröhnen mir in den Ohren. Die Notiz, die Koźlik hinterlassen hat, ist gar nicht lang, aber dieser uninspirierte Vortrag macht mich gleich wahnsinnig.

‚Das muss man ganz anders lesen, melodiös, weich, das ist doch Musik, man muss gar nicht die Bedeutung der Wörter kennen, um sie richtig auszusprechen, Sie haben ja überhaupt kein Gespür!‘, würde ich ihm am liebsten ins Gesicht schleudern.

Aber ich kann mich beherrschen.

Mit zusammengekniffenen Augen sieht mich der Mann des Staates lange an, dann schiebt er alles zurück in die Akte.

„Sie wollen uns nicht helfen, Oleg Olegowitsch. Aber Sie werden müssen. Es gibt Zeugen. Die nach eigenen Angaben mehrfach … Kurzum, die Sie gesehen haben mit Koslowitsch, Kaschkan und diesem, wie heißt er gleich … Bundas Stanislaw. Es gab da eine Verbindung. Eine starke Verbindung.“

„Nichts weiter. Bekannte eben.“

„Bekannte … Na sicher. Allzu bekannte. Sie wurden häufig zusammen beobachtet. An den unterschiedlichsten Orten. Und dann … Dann sind diese drei auch mehrfach bei Ihnen zu Hause gewesen. Beziehungsweise in der widerrechtlich von Ihnen angemieteten Räumlichkeit. Was haben Sie dort getrieben?“

„Nichts. Sprachen gelernt.“

„Und da sagen Sie, kein Polyglott, bloß Deutsch … Was lügen Sie denn ständig, hm? Ich habe Sie doch längst durchschaut. Was für Sprachen?“

„Verschiedene …“

„Welche?“

„Nicht so wichtig.“

„Sie haben sich also zusammengesetzt und gelernt? Und weiter nichts? Weiter haben Sie nichts getrieben? Vielleicht haben Sie ja mit fremden Zungen noch andere Dinge angestellt? Hm?“

„Nein. Wir haben geredet, nichts weiter.“

„In welcher Sprache?“

„Einer, die es nicht gibt.“

„Aber Sie haben sie gesprochen?“

„Ja.“

„Also gibt es sie?“

„Nein. Das heißt, ja, schon, aber … Niemand weiß davon.“

„Also gibt es sie jetzt? Ja oder nein?“

„Nein.“

„Klar. Wunderbar. Ich frage mich wirklich, weshalb ich Sie so auf dem Kieker habe. Ist doch alles prima. Ich bin einfach zu argwöhnisch. Und Sie sind ein Unschuldslamm und Opfer des Polizeistaats. Ein vierzigjähriger Junggeselle lädt zwei junge Burschen und eine Minderjährige zu sich nach Hause ein, redet mit ihnen in einer Sprache, die es verdammt noch mal nicht gibt, und dann ritzt sich einer der Burschen mit dem Messer irgendwelche Wörter in die Haut und stürzt sich nackt aus dem Fenster. Großartig. Keine weiteren Fragen. Kein Kriminalfall. Eine ganz normale Geschichte, weiteres Nachdenken überflüssig. Alles so simpel wie das Muhen einer Kuh. Wahrscheinlich sollte ich mich bei Ihnen entschuldigen und Sie gehen lassen, wohin es Ihnen beliebt. Dass Sie bei sich zu Hause weiter Sprachen sprechen können, die es gar nicht gibt, sich die nächste Charge Minderjähriger ranholen und sie lehren können, mit dem Messer auf der Haut zu schreiben. Von Hand.“

„Das habe ich nicht gelehrt … mit dem Messer. Sehen Sie … Wir haben geredet. Es ist eine Kunstsprache. Ich habe sie erfunden.“

„Weshalb?“

Ich wende den Blick ab. Ich bin hilflos wie ein Kind. Dieses Tempo macht mir Angst, da fühlen sich meine Hände an wie aus Papier. Deshalb fällt mir auch nichts Besseres ein, als mit einem schmierigen Lächeln zu fragen: „Wie meinen Sie das?“

„Ich habe gefragt: Weshalb?“

Auf diese Frage war ich wirklich nicht vorbereitet. Wahrscheinlich bin ich sogar erbleicht. Mit finsterer Miene, die Brauen verständnislos vorgeschoben, sieht er mich an, als hätte er mich eben der Lüge überführt. Ich befürchte schon, dass ich ihm jetzt ein Vorlesung über Esperanto und andere Conlangs halten muss, ihm erzählen, dass ich nicht der einzige Perverse weltweit bin, der sich für Kunstsprachen interessiert. Und beiläufig erwähnen, dass der Ausdruck „Kunstsprache“ im vorliegenden Fall terminologisch nicht korrekt ist, constructed languages müsste es heißen. Künstlichkeit ist der Totzustand, die Illusion. Aber wir waren vier lebendige Sprecher, ohne jegliche Illusionen. Irgendwie sollte sein formaljuristischer, bürokratiegeiler Kleinverstand doch in der Lage sein das zu begreifen, sein herrschaftlicher Schrumpfgrips, sein Kleinsthirn, in dem für Fantasie und Schönheit kein Platz ist. Aber irgendwelche Bücher wird er doch gelesen haben. Er hat doch ein Kätzchen zu Hause! Und das Kätzchen einen Ball! Er ist ja nicht doof. Simpel wie das Muhen einer Kuh – das kriegt nicht jeder in diesem hohen Haus so formuliert. Nein, ich empfinde keinen Hass gegen ihn. Gerade haben wir miteinander geredet, mit Müh und Not zwar, aber es war ein Gespräch, und wo immer es uns hinführen mag, ich habe versucht ihn zu verstehen und er mich. Und dann auf einmal dieses unerbittliche, unpassende, ärgerliche „Weshalb?“.

Ja, weshalb eigentlich? Menschen erfinden Conlangs, um andere Menschen glücklich zu machen. Um Menschen die Chance auf Verständigung zu geben. Oder um sich an Gott zu rächen. Oder als intellektuelle Spielerei, um ein künstlerisches Problem zu lösen, als Denksportaufgabe. Abends leere Kästchen füllen bis alles aufgeht und man in Ruhe Tee trinken und über das Ewige nachsinnen kann. Darüber, womit man Geld verdient und am Leben bleibt. Und dann erschaffen Menschen noch Sprachen, weil sie wissen wollen, was drin ist in ihnen, den Sprachen.

Aber weshalb musste ich das tun?

„Geben Sie mir Papier“, bitte ich ihn mit bebender Stimme. „Bitte. Ich habe Angst zu sprechen, ich muss schreiben.“

„Nein.“ Er schüttelt den Kopf. „Sonst fangen Sie wieder mit ihren Würstchen an, mit den Zukunftskoffern. Wir machen das folgendermaßen: Es gibt da noch einen Raum … Der steht gerade leer. Frisch renoviert. Ich gebe Ihnen ein Diktiergerät und schließe Sie da für ein, zwei Stündchen ein. Und Sie setzen sich hin und erzählen. Alles, wie es ist. Stellen Sie sich vor, Sie würden schreiben. Und dann reden Sie. Ohne dabei zu vergessen, dass Sie die Aufgabe haben, alle meine Fragen zu beantworten. Dann hängt alles nur noch von Ihnen ab. Und keine Schöngeisterei, haben wir uns verstanden?“

Ich nicke. Eine interessante Wendung. Kaum spricht er so geschäftsmäßig und unaufgeregt, schon ist er mir ganz nah. Ich würde ihm am liebsten die Hand drücken, oder ihn sogar umarmen.

Mein Leben lang träume ich davon zu sprechen als schriebe ich. Ich habe gehört, für diese Verrichtungen seien unterschiedliche Gehirnhälften verantwortlich. Das Problem ist nur, das mir alles Gehörte immer verlogen vorkommt. Ich weiß, dass das Unmögliche möglich ist. Sonst bräuchte man ja gar nicht zu leben.
Er bringt mich in den leeren Raum, in dem es nichts gibt außer Tisch und Stuhl und schaltet das Gerät an.

Ich nenne meinen Namen und entsinne mich mühsam, welches Datum heute ist.

„Keine Belletristik! Nur Fakten, Namen und Zahlen“, erinnert er mich noch einmal streng, bevor er die Tür zuzieht.

„Ja, ja, sicher, verstanden“, antworte ich und wedle eifrig mit den Armen. Ich will, dass er möglichst schnell verschwindet.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Durch ein vergittertes Fenster schaut die Sonne herein und breitet ihr chinesisches Spielbrett auf dem Tisch aus. Jetzt bin ich allein, sitze da und weiß nicht, wo anfangen. Das Gerät auf dem Tisch zeichnet meinen Atem auf, meinen Herzschlag, die fernen Geräusche von Bohrern und Hähnen, Fingertrommeln. Minutenlang starre ich es schweigend an, und irgendwann kommt es mir vor, als hätte ich bereits alles gesagt. Die ganze Geschichte ist schon da, in diesem Teufelskästchen. Draußen rüttelt jemand an der Klinke und stapft verärgert durch den Korridor davon. Ich rücke den Stuhl näher an den Tisch, das Atmen fällt mir immer schwerer, ich bekomme kein Wort mehr heraus. Da bemerke ich ein Fädchen. Sein Ende lugt aus der leicht geöffneten Schublade des leeren Tisches. Gott allein weiß, wie es hierher geraten ist, das blaue Fädchen, das sich an einem Nagel in der Holzschublade verhakt hat. Behutsam, damit das unscheinbare blaue Schwänzchen nicht abreißt, befreie ich es, ziehe es ab und wickle es mir um den Zeigefinger. Dann wickle ich es wieder ab. Und wieder auf. Es ist so lang wie meine Hand.

Das Spiel fesselt mich. Ich denke nun nicht mehr an Wörter. Ich spiele mit meinem Fadenfreund, und ein anderer, der uns nicht länger zusehen möchte, räuspert sich und beginnt zu sprechen. Ich höre seinem Gerede nur mit halbem Ohr zu. Manchmal würde ich ihm am liebsten ins Wort fallen und ihn korrigieren, aber das Fädchen ist wichtiger. Überhaupt schlägt dieser Andere von Beginn an den falschen Ton an, vergreift sich in der Wortwahl, manchmal lügt er schamlos und gibt sich viel klüger als er ist. Wenn man ihm zuhört, ist alles ganz einfach. Wie in Büchern. Aber ich will ihn ausreden lassen.

Einfach zuhören, was er so redet … Nur Stümper fangen Erzählungen mit einem Kaffee an. Kaffee … Nach dem Motto: Schaut her, was ich für ein Bohemien, Romantiker und Europäer bin, wie koffein, wie aromatisch, eine harte Nuss, nie ohne meinen Kaffee, ohne Kaffee bin ich ein Krüppel, kein Anfang und kein Ende. Kaffee …

Aber, wenn ich ehrlich bin, ist es genauso gewesen.