8 wesentliche Gesichtspunkte bei der Übertragung von Gedichten

von Monika Fahrenbach-Wachendorff

Prosaübersetzung, metrische Übertragung und Nachdichtung – das Verhältnis dieser Möglichkeiten beim Übersetzen fremdsprachiger Verse, ob es sich nun um Lyrik, Epen oder Dramen handelt, wird von Laien häufig als eine Art Steigerung aufgefasst, so dass eine besonders gelungene Übersetzung den Ehrentitel Nachdichtung erhält, und diese somit vom Übersetzer eigentlich immer angestrebt werden müsste. Mir scheint jedoch, dass die verschiedenen Übertragungsweisen durch unterschiedliche Ziele charakterisiert sind, und dass ihr Gelingen am Erreichen oder Verfehlen ihrer Intention gemessen werden muss. Im Folgenden werde ich eine Abgrenzung und Klärung dieser Begriffe versuchen und dabei meine Auffassung von Übersetzung anhand von Beispielen belegen. Es geht dabei letztlich um die Gewichtung der Bedeutung von Inhalt und Form des sprachlichen Kunstwerkes. Hugo von Hofmannsthal hat dieses Verhältnis prägnant formuliert:

Trennt ihr vom Inhalt die Form,
So seid ihr nicht schaffende Künstler.
Form ist vom Inhalt der Sinn,
Inhalt das Wesen der Form.
[Fußnote 1]Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte und lyrische Dramen. Frankfurt am Main 1946, S. 167.

Dass hier die Form als der Sinn des Inhalts bezeichnet wird, bedeutet offenbar, dass in der Dichtung alle inhaltlichen Elemente erst durch die Weise ihrer Zuordnung, und das heißt durch die Form, ihren Aussagesinn gewinnen. Andererseits ist die Form für sich und getrennt vom Inhalt nichts, sondern wesenhaft dessen Formung und Sinngebung, so dass beides nur in Beziehung aufeinander Bestand haben kann. Für die Praxis der Übersetzung scheint mir jedoch die Klärung formaler Fragen vorrangig zu sein; damit wird der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich der Inhalt entfalten kann. Dass es sich bei dieser Unterscheidung von Form und Inhalt nur um eine methodisch nötige Differenzierung handelt, wird im Verlauf der Ausführungen an den Konsequenzen, die sich aus der Berücksichtigung formaler Elemente ergeben, noch zu zeigen sein.

Die so genannte Nachdichtung muss, um ihrem Anspruch gerecht zu werden, formstreng sein. In ihr wird das fremde Werk nicht nur widergespiegelt, sondern in eigener Sprache erfasst und vom Welt- und Selbstverständnis des Nachdichters geprägt oder sogar seinem dichterischen Universum eingefügt. So muss sie als Neuschöpfung in erster Linie seinem eigenen Werk zugerechnet werden.

Dennoch können solche Nachdichtungen auch für anders angelegte Übertragungen Maßstäbe setzen. Die formale Strenge und sprachliche Dichte, wie sie Stefan Georges Nachdichtungen vor allen anderen auszeichnet – auch wenn sie oft durch Gezwungenes und durch Abstraktionen erkauft wurde – scheint mir für die Übersetzung von Gedichten erstrebenswert zu sein, damit ein Spannungsbogen entsteht, von dem die einzelnen Elemente getragen und zu einem Ganzen zusammengefügt werden.

Gegenüber der Nachdichtung und ihrem sehr freien Umgang mit dem Original bietet die Prosaübersetzung die größtmögliche Texttreue. Sie ist am besten geeignet, als Lesehilfe zum Original zu führen. Der vorschnelle Schluss, sie allein könne für das vermeintlich Wesentliche einer Dichtung stehen – in der Annahme, dies sei der Inhalt – übersieht, dass die Thematik eines Gedichtes, wie eines jeden Kunstwerkes, nur in der Gestaltung bedeutsam wird. Schließlich ist die Form für ein Gedicht konstitutiv. Sie schafft die Dichte von Rhythmus und bedeutungstragenden Wörtern, die Lyrik von Prosa unterscheidet. Um ein Gedicht in angemessener Weise zu übertragen, sollte man es also nicht nur verstehen, sondern auch die formalen Elemente in ihrer Wirkung zu erfassen suchen. Dies kann kein Selbstzweck sein, etwa in der trügerischen Hoffnung, auf diese Weise ein dichterisch vollkommenes oder gar kongeniales Gebilde herzustellen, sondern es dient einzig der Verdichtung der Sprache, um so die poetischen Bilder in ihrer Gestimmtheit plastischer hervortreten zu lassen.

Ich möchte nun einige formale Aspekte, die für mich bei der Übertragung von Gedichten eine wesentliche Rolle spielen, anhand von Beispielen darstellen. Ich beschränke mich auf folgende Gesichtspunkte:

  1. Wörtlichkeit und Bildlichkeit
  2. Lautmalerei und Sprachmelodie
  3. Wahl und Wirkung des Metrums
  4. Bedeutung des Reims
  5. Metrum und Reim in ihren einengenden und konstruktiven Konsequenzen
  6. Rhetorische Formen und rhythmische Spannung
  7. Gewichten und Konzentrieren
  8. Ziel und Sinn aller Erwägungen und Entscheidungen

1. Wörtlichkeit und Bildlichkeit

Der Anlass, mich eingehender mit den Fleurs du Mal zu befassen, war die Lektüre von Carlo Schmids Übertragungen, in denen ich Baudelaires Gedichte unangemessen verändert fand. [Fußnote 2]Carlo Schmid: Die Blumen des Bösen. – Frankfurt am Main : Insel, 1976. Die Irritation rührte zum einen von expressionistisch überhöhten Wendungen her – die man dem Übersetzungsstil seiner Zeit zugute halten mag – und zum andern, und das fand ich ungleich gravierender, von seinem Umgang mit den sprachlichen Bildern Baudelaires. Ich hatte den Eindruck, dass er bei Reimnot, von einzelnen Wörtern ausgehend, frei weiterassoziierte, und das führte manchmal zu Entgleisungen. In dem Gedicht Recueillement übersetzt er den Vers: „Le soleil moribond s′endormir sous une arche“ in das behagliche Bild: „Die Sonne schlummernd auf der Totenbahre“. Das ergibt zwar den gesuchten Reim auf das Wort „Jahre“, aber das Bild ist bis zum Unernst verfälscht und zerstört die wehmütig-getragene Stimmung von Baudelaires Gedicht, wo das Spiegelbild der untergehenden Sonne im Wasser unter dem Brückenbogen langsam verlischt. Baudelaire gebraucht den Ausdruck „moribond„, ein sehr klangvolles Wort. Da ich eine metrische Fassung anstrebte, musste ich die Prosaübersetzung: „Sieh […] die sterbende Sonne unter einem Brückenbogen einschlafen“ um ein Drittel kürzen. Von den deutschen Entsprechungen für „moribond“ schien mir „sterbend“ zu farblos, „siech“ zu archaisierend und „todkrank“ weckte die irrige Assoziation von Krankheit; so habe ich mich für „todwund“ entscheiden, da dieses Wort, entsprechend dem Bild der untergehenden Sonne, die sich, rot und zerfließend, im Wasser spiegelt, die Vorstellung einer verblutenden Sonne evozieren kann. Da in dem Gedicht Harmonie du soir die untergehende Sonne in ihrem Blut ertrinkt („Le soleil sʹest noyé dans son sang qui se fige„) schien mir diese Auffassung gerechtfertigt zu sein.

Ob und wie weit die Anschaulichkeit eines Gedichtes, so wie sie sich beim Lesen des Originals einstellte, erhalten blieb, wurde für mich zum wichtigsten Kriterium bei meinen Übersetzungsversuchen.

2. Lautmalerei und Sprachmelodie

Durch die Wahl des Wortes „todwund“ ergab sich auch die gleiche Häufung von O-Lauten wie im Original. Wenngleich die Wirkung von solchen Klangeffekten unbestreitbar ist, wird sie doch meiner Meinung nach häufig überbewertet, und es erscheint mir keinesfalls angemessen, Laute, unter Vernachlässigung der Wortbedeutung, nachzuahmen, auch wenn sie im Original augenfällig sind. Ich ziehe es vor, sich natürlich bietende Möglichkeiten im Deutschen zu nutzen, um eventuell an anderer Stelle ähnliche Effekte zu erzielen, um so die Summe von Klangwirkungen der des Originals anzunähern. Schließlich korrespondiert der Klang eines Wortes ja nicht unmittelbar mit seiner Bedeutung, aber das Zusammenwirken von Klang und Bedeutung kann die Intensität der Sprache steigern. Der Schlussvers des Gedichtes Le Balcon (S. 108) [Fußnote 3]Die Seitenzahlen beziehen sich auf meine Übersetzung; Monika Fahrenbach-Wachendorff: Die Blumen des Bösen. – Stuttgart : Reclam, 2011. lautet: „O serments! ô parfums! ô baisers infinis!„, was im Deutschen zwangsläufig zu der Assonanz führt: „- O Schwüre! Düfte! Küsse, […]“. Dies ist ein reizvolles Geschenk der Sprache und des Zufalls, der ein nicht unbedeutender Faktor bei dem Sprachspiel der Übersetzung ist.

3. Wahl und Wirkung des Metrums

Das Metrum hat demgegenüber eine sehr zentrale Bedeutung für die Übersetzung. Der klassische Alexandriner ist im französischen Sprachraum der gebräuchlichste Vers für Dramen und Gedichte. Er kann rein formal im Deutschen nur durch sechshebige Jamben mit einer Zäsur in der Versmitte nachgeahmt werden. Sein Charakter wird dabei aber verändert. Trotz gleicher Silbenzahl wirkt der Jambus durch seine sechs Takteinheiten mit sechs festgelegten Betonungen länger und schwerfälliger als der rasch fließende Alexandriner, da dieser nur zwei festliegende Betonungen trägt (in der Versmitte vor der Zäsur und am Versende) während die übrigen Betonungen schwebend bleiben; so ist er in zwei kurze Spannungsbögen aufgeteilt, zu deren Ende jeweils der Sprachduktus hindrängt. Die beiden ersten Verse des Gedichtes Nr. XXIV (S. 80) lauten: „Je tʹadore à lʹégal / De la voûte nocturne / Ô vase de tristesse, / Ô grande taciturne„. Ich habe übersetzt: „Wie vor dem Sterngewölbe will vor dir ich knien,/Gefäß der Traurigkeit, o große Schweigerin“. [Fußnote 4]Folgende Silben werden betont: 1, 4, 6, 8, 10, 12, 14, 16, 18, 20, 22, 24. Hier wird der Sprachduktus von den Impulsen getragen, die von Betonung zu Betonung weitergegeben werden. Das Metrum erhöht nicht nur die sprachliche Dichte und Spannung, es akzentuiert und modelliert auch die inhaltliche Aussage. Die Prosaübersetzung der ersten Verse des Gedichtes: Le Reniement de Saint Pierre (S. 350): „Quʹest-ce que Dieu fait donc de ce flot dʹanathèmes“ lässt das Gedicht mit einer verwunderten Frage anheben: „Was fängt denn Gott nur mit dieser Flut von Verwünschungen an“: Allein durch das Vorziehen der Vorsilbe „an“, die dadurch eine Betonung erhält, wird dieser Satz zu einem metrisch strukturierten Vers, der durch Spannung und Rhythmus die provokative Ungeduld der Frage ausdrückt: „Was fängt denn Gott nur an mit dieser Flut von Flüchen“.

Ich habe in der Regel nur Gedichte, die sich in erzählendem Ton beschaulich entwickeln in sechshebigen Jamben übersetzt und konzentriert formstreng gestaltete Gedichte, vor allem Sonette, in fünfhebigen Jamben, die zumindest, was das Tempo und den Versfluss angeht, eher dem französischen Vers entsprechen. Da sie um zwei Silben kürzer sind als der Alexandriner, zwingt dies allerdings zu besonderer Verknappung der Sprache. Dieser Zwang kann sich aber auch konstruktiv auswirken und unterbindet zumindest die Verwendung von leeren Füllwörtern. Musste ich aus metrischen Gründen oder aus Reimnot ein Wort hinzufügen, habe ich es möglichst so gewählt, dass es das dichterische Bild nicht veränderte, sondern an seiner Anschaulichkeit mitwirkte. Bei dem oben erwähnten Gedicht Nr. XXIV habe ich z.B. aus Reimgründen „Je tʹadore“ durch „will vor dir ich knien“ wiedergegeben, ein Ausdruck, der sich dem Bild anschaulich einfügt.

4. Bedeutung des Reims

Dies führt zu der Frage, ob dem Reim, dem auffallendsten Klangphänomen im Gedicht, ähnliche Bedeutung zukommt wie dem Metrum, und ob es gerechtfertigt ist, ihn oft teuer zu erkaufen. Die französische Sprache ist reimreicher als die Deutsche; der bei uns verpönte so genannte rührende Reim (der völlige Gleichklang der Reimwörter) ist erlaubt und schließlich können auch alle Flexionsendungen gereimt werden (grammatischer Reim). Im Deutschen ist dies nicht möglich, da die Stammsilbe den Reim trägt (lexikalischer Reim), was bedeutet, dass der letzte betonte Vokal mitsamt allen nachfolgenden Konsonanten in den Reimwörtern identisch sein muss. Da der deutsche Vers schon durch den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Silben, durch seine Takteinheiten, deutlich strukturiert ist, hat der Reim dort nicht dieselbe tragende Funktion wie im französischen Vers, der wesentlich von Zäsur und Reim konstituiert wird. Insofern finde ich es durchaus vertretbar, bei einer Übersetzung unter Beibehaltung des Metrums auf Reime zu verzichten, um so einen größeren Spielraum bei der Wortwahl zu gewinnen.

Ich habe jedoch bei meiner Übertragung Reime verwendet, da sie in den sehr langen Satzgefügen von Baudelaires Gedichten als Zäsur und zugleich als Klammer wirken. Sie stellen, wie ein sich wiederholendes Thema in der Musik, einen Verweisungszusammenhang her und erleichtern die Repräsentanz des Gedichtes als eines Ganzen. Und schließlich schreibt Baudelaire selber in einem der Entwürfe zu einem Vorwort der Fleurs du Mal, dass Rhythmus und Reim dem unsterblichen Bedürfnis des Menschen nach Monotonie, Symmetrie und Überraschung entsprechen. [Fußnote 5]Charles Baudelaire: Œuvres complètes (OC) I. Bibliothèque de la Pléiade. – Paris : Gallimard, 1975, S. 182: „que le rythme et la rime répondent dans lʹhomme aux immortels besoins de monotonie, de symétrie et de surprise […].“

5. Metrum und Reim in ihren einengenden und konstruktiven Konsequenzen

Bislang habe ich hauptsächlich von den Schwierigkeiten gesprochen, die sich aus der Beibehaltung von Metrum und Reim für eine Übersetzung ergeben. Jetzt möchte ich die konstruktiven Folgen der Beschränkung darstellen, denn sie bilden zugleich einen Rahmen, der das Ausufern der Sprache verhindert und reizvolle Lösungen provozieren kann. Dies möchte ich an dem Gedicht  Recueillement (S. 402) und an einigen Strophen des Gedichtes Une Charogne (S. 92) näher erläutern.

Recueillement

Sois sage, ô ma Douleur, et tiens-toi plus tranquille
Tu réclamais le Soir; il descend; le voici:
Une atmosphère obscure enveloppe la ville,
Aux uns portant la paix, aux autres le souci.

Pendant que des mortels la multitude vile,
Sous le fouet du Plaisir, ce bourreau sans merci,
Va cueillir des remords dans la fête servile,
Ma Douleur, donne-moi la main; viens par ici,

Loins dʹeux. Vois se pencher les défuntes Années,
Sur les balcons du ciel, en robes surannées;
Surgir du fond des eaux le Regret souriant;

Le Soleil moribond sʹendormir sous une arche,
Et, comme un long linceul traȋnant à lʹOrient,
Entends, ma chère, entends la douce Nuit qui marche.

Besinnung

Sei ruhig, o mein Schmerz, und sei besonnen.
Den Abend wolltest du; sieh her; er kam:
Ein dunkler Lufthauch hat die Stadt umsponnen,
Den einen bringt er Frieden, andern Gram.

Wenn Lust die gnadenlose Geißel schwingt
Über die Sterblichen im Festgedränge,
Was ihnen Reue nur und Scham einbringt,
Gib mir die Hand, mein Schmerz, komm von der Menge

Weit weg. Am Himmel, sieh, von den Balkonen,
Neigen verblichene Jahre sich in alter Tracht;
Vom Wassergrund sieh lächelnd Trauer steigen,

Todwund die Sonne unterm Brückenbogen,
Und wie ein Grabtuch, weil zum Osten hingezogen,
Horch, Lieber, horch, so naht die sanfte Nacht.

Durch den selbst auferlegten Zwang zur Kürze hat die Übersetzung des Gedichtes Recueillement an Anschaulichkeit und Intensität gewonnen. Die beiden Verse: „Vois se pencher les défuntes Années sur les balcons du Ciel en robes surannées“ lauten wörtlich übersetzt: „Sieh die verblichenen Jahre sich neigen über die Balkone des Himmels in veralteten Gewändern.“ Das sind 28 Silben; die Übersetzung in fünfhebige Jamben kommt mit 21 Silben aus: „Am Himmel, sieh, von den Balkonen neigen verblichene Jahre sich in alter Tracht“

Der Standpunkt des Betrachters, des lyrischen Ichs, verschmilzt gleichsam mit dem der „verblichenen Jahre“ in seiner melancholischen Gelassenheit, in seinem rückblickenden Abstandnehmen vom eigenen Leben und von der Lebensgier der Menge. Die Personifizierungen von „Douleur„, „Soir„, „Plaisir„, „Années„, „Regret„, „Soleil“ und „Nuit„, die durch Großschreibung angedeutet werden, erwecken den Eindruck, dass es sich um Mitspieler im Schauspiel des Lebens handelt, denen jeweils eine bestimmte Rolle zugewiesen wird. Das Bild muss schemenhaft bleiben, denn es handelt sich nicht um Allegorien, die eine fest umrissene, allgemeingültige Bedeutung haben, sondern es sich anschaulich aufgerufene Vorstellungen, die durch die Personifizierung auf den für das Gedicht wesentlichen Bedeutungsgehalt spezifiziert werden. Eine ins Detail gehende realistische Interpretation, wo etwa „La Douleur“ als sechs- bis siebenjähriges Mädchen [Fußnote 6]Harald Weinrich: Baudelaire-Lektüre, S. 99 oder „Le soleil moribond“ als Clochard [Fußnote 7]Andreas Wittbrodt: Verfahren der Gedichtübersetzung, S. 140 erscheint, verwandelt das Gedicht gleichsam in ein Filmszenario und zerstört das Eigentliche des Gedichtes: die in ihm dargestellte Erfahrung einer seelischen Befindlichkeit, die gerade in der Durchlässigkeit und Fluoreszenz der Bilder aufscheint. Stehen in den Quartetten die Abkehr vom alltäglichen Leben in seiner Gewöhnlichkeit und Gedankenlosigkeit im Vordergrund, so zeigen die Terzette Bilder der Vergänglichkeit und des Todes. Das lyrische Ich befindet sich in einem Selbst-Gespräch mit „La Douleur„, seinem Alter Ego, die von der Abkehr und der Vergänglichkeit ausgenommen ist und das einzig Halt gebende und Verlässliche zu sein scheint. Dies wird im achten Vers deutlich: „Ma Douleur, donne-moi la main„, der mit einem auffälligen Enjambement zum zweiten Teil des Gedichtes überleitet. Die Bilder der Terzette sollen den Schmerz, der selber nach Besänftigung durch den Abend verlangt hat, stillen. Sie zeigen, dass der vergangene Schmerz zum „Regret souriant“ wird.

Der Grund des Schmerzes wird nicht genannt; er wird bei dieser Selbstbesinnung als Realität eingeführt, die wesentlich zur Verlorenheit des Lebens gehört. Linderung scheint in den ersten Versen der Abend und in den letzten Versen die Nacht zu versprechen, die alles bedeckt und als tröstliche Hoffnung, durch den Vergleich mit einem Grabtuch, den Gedanken an die ewige Nacht nahelegt.

Diese Komplexität mit ihren Verweisungszusammenhängen schien mir die Strenge und Geschlossenheit einer Übersetzung in fünfhebige Jamben zu fordern. Ein Entwurf mit sechshebigen Jamben war zwar etwas detailgetreuer, aber dieser Gewinn konnte den Verlust an sprachlicher Dichte und Spannung nicht ausgleichen.

In dem Gedicht Une Charogne (S. 92) provozierte die Übersetzung des Wortes „ventre“ durch „Därme“ (auf das Wort „Bauch“ ließ sich kein passabler Reim finden) die Verwandlung der „noirs bataillons“ in „schwarze Schwärme“. Durch kleine Umstellungen oder Substantivierung von Verben ergab sich eine Folge von Assonanzen, die das sprachliche Bild untermalten und, im Einklang mit dem Wechsel von langen und kurzen Versen, die Bewegtheit der Bilder evozierte.

Aussschnitt aus Une Charogne

Les mouches bourdonnaient sur ce ventre putride,
Dʹoù sortaient de noirs bataillons
De larves, qui coulaient comme un épais liquide
Le long de ces vivants haillons.

Tout cela descendait, montait comme une vague,
Qu sʹélancait en pétillant;
On eût dit que le corps, enflé dʹun souffle vague,
Vivait en se multipliant.

Et ce monde rendait une étrange musique,
Comme lʹeau courante et le vent,
Ou le grain quʹun vanneur dʹun mouvement rythmique
Agite et tourne dans son van.

Ausschnitt aus Ein Aas

Und Fliegen summten über faulen Därmen
Daraus wie zähe Flüssigkeiten
Die Larven krochen, sich in schwarzen Schwärmen
Über die Fetzen auszubreiten.

Das alles hob und senkte sich in Wellen
Und schillerte und schwebte;
Man meinte, dass der Leib in leichtem Schwellen
Sich mehre und so lebte.

In dieser Welt erklang ein seltsam Singen,
Wie Wasser, wie der Wind, der weht,
Oder wie Korn, das rhythmisch auf den Schwingen
Geworfelt wird und umgedreht. [Fußnote 8]Hervorhebungen M. F.-W.

6. Rhetorische Formen und rhythmische Spannung

Wenn Metrum und Reim vor allem die Struktur des Gedichtes bestimmen, so gestalten die rhetorischen Formen und der Rhythmus wesentlich die sprachliche Dynamik und Bewegung, und damit die Atmosphäre eines Gedichtes. Wiederholungen, Parallelführungen, Inversionen, Temposteigerungen oder Verzögerungen erzeugen gemeinsam mit dem Sprachrhythmus, der sich in Spannung zum Metrum entwickelt, eine Anschaulichkeit der Redebewegung, die unmittelbar Evidenz schafft, über das Begrifflich-Inhaltliche hinaus.

Letzteres kann zwar in einer Prosaübersetzung detaillierter erfasst werden. Was bei diesem Verfahren jedoch verloren geht, ist die subjektiv gestimmte Wahrnehmung des Autors, die durch die Weise der Darstellung dem Leser vermittelt wird. Warum hätte Baudelaire sonst in Versen geschrieben? Warum hätte er sogar (im Salon von 1846) geäußert, dass die beste Würdigung eines Bildes ein Gedicht oder eine Elegie sei? [Fußnote 9]Charles Baudelaire: OC II, S. 418: „Ainsi le meilleur compte rendu dʹun tableau pourra être un sonnet ou une élégie. Die Form ist eben keine beliebige oder konventionelle Zutat, sondern sie ist wesentlich an der Erschaffung und Erschließung des Aussagesinns beteiligt. „Form ist vom Inhalt der Sinn“, um noch einmal auf Hofmannsthal zu verweisen. Für Baudelaire ist der künstlerische Prozess (wie er im Salon von 1859 ausführt) die Schaffung eines völlig Neuen aus der Einbildungskraft, der „imagination„, der „reine des facultés„. [Fußnote 10]Ebd., S. 620.

Sie zerlegt das Geschaffene in seine Bestandteile und erschafft aus den angehäuften Materialien und nach Regeln, deren Ursprung nur im tiefsten Innern der Seele zu finden ist, eine neue Welt; sie produziert die Wahrnehmung des Neuen. [Fußnote 11]Charles Baudelaire: OC II, S. 621: „Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des règles dont on ne peut trouver lʹorigine que dans le plus profond de lʹâme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf. (486) Das Gedicht bedeutet nicht nur etwas, sondern es schafft eine neue sprachliche Wirklichkeit. Die Wortbedeutung ist dabei ganz in den Sinnzusammenhang eingebettet und nur von diesem her zu erschließen. Somit kann die Übersetzung von Versen durch Verse keineswegs als Streben nach artistischer Perfektion oder gar nach der unerreichbaren Kongenialität angesehen werden. Es geht dabei vielmehr um das Bemühen, so weit wie irgend möglich den Sprachgestus des Autors in seiner Intensität zu erfassen, in der Überzeugung, dass die rhetorisch-rhythmische Spannung im Einklang mit weitgehender Bildgenauigkeit einen entscheidenden Faktor darstellt, um die subjektive Gestimmtheit der Verse zu modellieren und zu vermitteln. Dies kann eine Prosaübersetzung, trotz größter Detailgenauigkeit, nicht leisten.

Bezeichnend hierfür ist auch, dass die vielschichtigen Bezüge im Gedicht mit ihren Vor- und Rückverweisen und das Beziehungsgeflecht der Bildfragmente beim Lesen oder Hören Evidenz besitzen und sich oft erst beim Übertragen in Prosa in ihrer Zuordnung als problematisch erweisen. Die „imagination“ ist also auch für die Rezeption von Poesie wesentlich. „La poésie se suffit à elle-même„, sagt Baudelaire. [Fußnote 12]Ebd., S. 143.

Das Gedicht Le Voyage (S. 374), um ein Beispiel zu nennen, besteht aus einer Kette von Bildausschnitten, eigentlich aus lauter kurzen Gedichten, die durch das Thema „Reise – Lebensreise“ verbunden sind. Die Sehnsucht nach Erfüllung und die Enttäuschung der Erwartungen ist überall gegenwärtig. Es sind visionäre Entwürfe, die eine Spannung aufbauen, welche immer wieder in sich zusammenbricht, bis schließlich die Hoffnung auf den Tod eine letzte Verheißung zu sein scheint. Die beiden Schlussstrophen stellen sich der rastlosen Suche der 34 vorangegangenen Strophen in ernstem, getragenem Ton entgegen. Sie vermitteln eine aus der Resignation gewonnene Ruhe, Stärke und äußerste Entschlossenheit, die in einen letzten, kühnen Aufschwung mündet.

VIII

O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons lʹancre!
Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons!
Si le ciel et la mer sont noirs comme de lʹencre,
Nos cœurs que tu connais sont remplis de rayons!

Verse-nous ton poison pour quʹil nous réconforte!
Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau,
Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, quʹimporte?
Au fond de lʹInconnu pour trouver du nouveau!

VIII

Tod, alter Kapitän, Zeit zum Anker lichten!
Uns langweilt dieses Land! Lass Segel setzen! Tod!
Wenn Himmel sich und Meer wie Tinte schwarz verdichten,
sind unsre Herzen, die du kennst, strahlend entbrannt!

Die Gifte flöß uns ein, die wir zur Stärkung brauchen!
Lass uns, indem sie lodernd unser Hirn entzünden,
Ob Himmel oder Hölle, tief in den Abgrund tauchen,
Tief in das Unbekannte, Neues dort zu finden!

Le Squelette laboureur (S. 274) ist ein in sich geschlossenes zweigeteiltes Gedicht, das sich, ausgehend von einer typischen Situation des Pariser Stadtlebens, ganz auf die Betrachtung eines einzigen Bildes ausrichtet. Es geht wieder um die Frage nach dem Tod, aber hier bedingt die Ungewissheit des zu Erwartenden ein angstvolles, sich im Tempo steigerndes, fast atemloses Sprechen, dessen drängendes Fragen offen bleibt.

Le Squelette laboureur

I
Dans les planches dʹanatomie
Qui traînent sur ces quais poudreux
Où maint livre cadavéreux
Dort comme une antique momie,

Dessins auxquels la gravité
Et le savoir dʹun vieil artiste,
Bien que le sujet en soit triste,
Ont communiqué la Beauté,

On voit, ce qui rend plus complètes
Ces mystérieuses horreurs,
Bêchant comme des laboureurs,
Des Ecorchés et des Squellettes.

II
De ce terrain que vous fouillez,
Manants résignés et funèbres,
De tout lʹeffort de vos vertèbres,
Ou de vos muscles dépouillés,

Dites, quelle moisson étrange,
Forçats arrachés au charnier,
Tirez-vous, et de quel fermier
Avez-vous à remplir la grange?

Voulez-vous (dʹun destin trop dur
Epouvantable et clair emblème!)
Montrer qu dans la fosse même
Le sommeil promis nʹest pas sûr;

Quʹenvers nous le Néant est traître;
Que tout, même la Mort, nous ment,
Et que sempiternellement,
Hélas! il nous faudra peut-être

Dans quelque pays inconnu
Ecorcher la terre revêche
Et pousser une lourde bêche
Sous notre pied sanglant et nu?

Das Skelett als Ackermann

I
Auf Tafeln anatomischer Gestalten,
Am Kai beim Trödler in dem Staubgeruch,
Wo noch so manches moderige Buch
Hinschlummert wie die Mumien der Alten,

Zeichnungen, die durch Ernst, der ihnen eigen,
Und Können einer greisen Künstlerhand,
Obwohl er traurig ist, den Gegenstand
In seiner eigenartigen Schönheit zeigen,

Dort sieht man, wodurch sie verdeutlicht haben
Das Unbegreifliche, davor uns graut,
Gerippe, Muskelmänner ohne Haut,
Wie Knechte in dem Ackerboden graben.

II
Von diesem Erdreich, das ihr so durchwühlt,
Ergeben euerm schauerlichen Sein,
Mit aller Kraft, die ihr in dem Gebein
Und in den bloßgelegten Muskeln fühlt,

Sagt, welches ist der seltsame Ertrag,
Ihr Sträflinge, dem Beinhaus abgerungen,
Und welcher Landwirt hat euch wohl gedungen,
Der seine Scheuer derart füllen mag?

Wollt ihr (die von des harten Schicksals List
Ein Sinnbild seid, so grauenhaft und klar!)
Uns zeigen, dass uns in der Grube gar
Der uns verheißene Schlaf nicht sicher ist;

Dass wir vom Nichts uns auch verraten finden;
Dass alles, selbst der Tod, uns noch belügt,
Und er vielleicht zuguterletzt verfügt,
Dass wir uns, ach! in Ewigkeiten schinden

Und irgendwo in unbekannten Weiten
Den Spaten in die Erde stoßen müssen,
Um mit den blutigen und nackten Füßen
Den widerspenstigen Boden zu bereiten?

7. Gewichten und Konzentrieren

Metrische Übertragungen müssen fast immer mit Abstrichen und Einschränkungen erkauft werden. Um der Willkür vorzubeugen, verlangt dies eine eingehende Analyse des zu übersetzenden Gedichtes, die klärt, welche Wörter als bedeutungstragende unbedingt klar wiedergegeben werden müssen und auf welche eher verzichtet werden kann, um die notwendige Konzentration zu erreichen. Diese Gewichtung einzelner Begriffe kann zu Konflikten führen. Zudem gibt es in jedem Gedicht Stellen oder Strophen höchster Verdichtung, Engführungen oder auch Schlussstrophen, in die das Gedicht mündet. Nach ihnen habe ich Metrum, Tonart und manchmal auch Reime eines Gedichtes ausgerichtet. Insofern ist es häufig nicht sinnvoll, beim Übersetzen linear vorzugehen. Das Gedicht Un Voyage à Cythère (S. 342) entwickelt sich auf den Ausruf der beiden letzten Verse hin: „– Ah! Seigneur! donnez-moi la force et le courage / De contempler mon cœur et mon corps sans dégoût!“ – wörtlich übersetzt: „– Ach! Herr! gib mir die Kraft und den Mut, mein Herz und meinem Körper ohne Ekel zu betrachten!“. Dagegen lautet die metrische Fassung: „– Ach! Herr! gib Mut und Kraft, den Anblick zu ertragen / Von Herz und Körper, ohne dass mir graut!“. Diese, trotz des zugefügten Reimwortes „ertragen“, knappere Wiedergabe, hat für mein Empfinden eine stärkere Wirkung als die wörtliche, weil sie die bedeutungstragenden Wörter rhythmisch konzentriert.

8. Ziel und Sinn aller Erwägungen und Entscheidungen

In der Critique littéraire schreibt Baudelaire:

Es ist das wunderbare Vorrecht der Kunst, dass das Schreckliche, kunstvoll ausgedrückt, zur Schönheit wird, und das der rhythmisierte, gegliederte Schmerz den Geist mit einer ruhigen Freude erfüllt. [Fußnote 13]Charles Baudelaire: OC II, S. 123: „Cʹest un des privilèges prodigieux de lʹArt que lʹhorrible, artistement exprimé, devienne beauté, et que la douleur rythmée et cadencée remplisse lʹesprit dʹune joie calme.

Hierzu äußert sich Paul Hoffmann in seinem Symbolismus-Buch:

Den ‚dichterischen Funken‘ schlägt Baudelaire aus der Spannung zwischen dem gemeinen Stoff und dem hohen Stil der poetischen Überlieferung, den er in edlen Gang seiner Verse und Strophen beibehält. Der ‚nouveau frisson‚ seiner Lyrik resultiert wesentlich aus dieser Dissonanz zwischen Stoff und Form. [Fußnote 14]Paul Hoffmann: Symbolismus. – München : Fink Verlag 1987, S. 54.

Hugo Friedrich schließt an das obige Zitat die Erläuterung an:

Der Satz verschleiert noch, was bei Baudelaire schon eingetreten ist, nämlich das Übergewicht des Formwillens über den Willen zum bloßen Ausdruck. Aber er zeigt den hohen Grad seines Verlangens nach Sicherung durch die Form, und fügt an, dass die Konventionen des Reims, der Verssilbenzahl, des Strophenbaus wie Instrumente gehandhabt werden, die in die Sprache schneiden und sie zu Reaktionen reizen, auf die der inhaltliche Entwurf des Gedichts nicht gekommen wäre. [Fußnote 15]Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. – Hamburg : Rowohlt, 1956, S. 29.

Lesen und Interpretieren im Hinblick auf eine Übersetzung ist ein analysierender Vorgang; das Übersetzen selbst verlangt erneute Konzentrierung und Rekonstruktion. Diese ist jedoch nicht dann schon gewonnen, wenn alle als tragend erkannten einzelnen Elemente sich dem Metrum fügen und sich sogar noch Reime gefunden haben. Die so entstandene vorläufige Gestalt habe ich wieder und wieder auf ihre Wirkung hin überprüft, auf das Fehlen oder Vorhandensein von Euphonie, Spannung, Intensität, Emphase, Unmittelbarkeit. Dieser Prüfung, die das Ganze höher wertet als das Einzelne, mussten manchmal lang gesuchte und glücklich gefundene Wörter und Wendungen zum Opfer fallen, wenn sie z.B. die Form oder den Rhythmus zu sprengen drohten. Alle Erwägungen und Entscheidungen fanden ihren Sinn und Zusammenhang in der Aufgabe, auch der Übersetzung eines Gedichtes wieder eine in sich geschlossene sprachliche Gestalt zu geben.

Literatur:

  • Klaus Dirscherl: Zur Typologie der poetischen Sprechweisen bei Baudelaire. – München : Wilhelm Fink Verlag 1975
  • Rainer Kirsch: Das Wort und seine Strahlung. – Berlin / Weimar : Aufbau-Verlag 1976.
  • Hella Tiedemann-Bartels: Versuch über das artistische Gedicht. – München : Rogner und Bernhard 1971.