Anlässlich der Verleihung des 7. Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung

von Uljana Wolf

spring bei steh bei hilf zärtlicher verstoß
wehr dem dichten regeltross
Edward Stachura, deutsch von Dagmara Kraus

Uljana Wolf trägt ihr Laudation für Dagmara Kraus vor, im Hintergrund eine orangene Leinwand welche mit '37. Erlanger Poetenfest 2017' beschriftet ist

Uljana Wolf

Foto: Georg Pöhlein

Szerckaruzelka der Sprachen, aufspringend

Vor einigen Jahren fiel mir ein Satz in die Hand, den ich mit Mitte zwanzig beim Studium in Krakau in einen geborgten Computer in der ulica Kremerowska getippt hatte. In der Küche am Ende des Flures, erinnere ich mich, war das leiernde Murmeln des lektors zu hören gewesen, der alle englischen oder französischen Filmstimmen gleichförmig polnisch übersprach. In der Tonspur darunter ahnte man die Originalfassung, bekam sie aber nie zu greifen. Je lauter das Gerät, desto fester übergrantelte der lektor die Fetzen. „Nur noch reden, wenn es wie eine Übersetzung klingt.“ Das war mein Satz, den ich fand. Warum wollte ich in Krakau, als ich nach Russisch, Englisch, Spanisch auch ein wenig Polnisch lernte und an meinem ersten Gedichtband saß, übersetzerisch klingen? Wie hat man sich eine solche übersetzerische Rede vorzustellen? War es nicht so, dass das Übersetzte das Gesagte in einer anderen Sprache verständlich machen soll? Warum soll man merken, dass es übersetzt wurde, warum soll der Rede Übersetzerisches anhaften, Unverständliches gar? Und wie „klänge“ etwas übersetzerisch?

Während ich mich jetzt durch die vielsprachigen Stränge von Dagmara Kraus’ lyrischem und übersetzerischem Werk lese, die wie Zöpfe einer wundersamen Sprachhelixwelt miteinander verflochten sind, merke ich, dass ich hier, viele Jahre später, die Antwort auf meinen damals geäußerten Wunsch finde. Dieses grandiose Werk, meine Damen und Herren, spricht so, dass alles wie eine hochmelodiöse, präzis ausgearbeitete Übersetzung klingt. Nur eben nicht von einer Sprache in die andere, obwohl auch das vorkommt. Sondern vielmehr: aus allen Sprachen in eine neue, nie gehörte, fatrastisch betörende Ideallingua, die den Raum zwischen den Sprachen zum Klingen bringt. Dagmara Kraus erschafft sozusagen den Gegenpol zum monotonen Fernsehsprecher. Gleichzeitig, das ist das Verblüffende, kann man sich das Fernsehfetzenpalimpsest ohne Weiteres auch als einen Text von ihr vorstellen. Ein solches fließendes Vexierbild von Stimmgeräuschen, Rhythmen und Minimalstrophen ist das Hörspiel „Entstehung dunkel“, das Kraus 2014 zusammen mit dem Klangkünstler Marc Matter realisiert hat. In neunundzwanzig Minuten wird darin fabelhaft flirrend ein Wabern von Wortauren inszeniert, die fortflogen von ihren Wortbedeutungskörpern und uns als selbstständige, ihre eigenen Wirklichkeit einfordernde Klangmaterie wiederbegegnen. Für diese Erkundung poetischer Rede wurde sie 2015 mit dem Förderpreis zum Karl-Sczuka-Preis für avancierte Radiokunst und 2016 mit dem Heimrad-Bäcker-Förderpreis ausgezeichnet.

mein herzkar ein kessel im karlingering mein herzkar ein kessel
kein runder korund fessle mein marrherz so roher korund

warst wunder korund herzkar mein kessel herzkaruzelka
dein resselheer zësst im karlingeringen s airlein es fessle
herzke verkëss i szerckaruzelkę sing z agonami. bin zung’kar.

So singt der Anfang und das Ende des Gedichts „mein herzkar ein kessel“ aus dem band „kleine grammaturgie“ von 2013. Kraus verwebt hier kunstvoll Fachbegriffe, gefundene oder halluzinierte Fremdsprachen und (möglicherweise) erfundene Wörter zu einem hochkomplexen und stringent voranschreitenden lyrischen Ereignis. Die Talform Kar, die Berggipfelform Karling und ein tamilisches Mineral performen und verformen einen Liebesang, in dem in translingualer Traumschärfe das Sprachmaterial verwandelt wird. Hier entdeckt man im „herzkar“ oder „herzkarlein“ vielleicht ein kleines englisches Autoscooterherz, düsend durch das sparsam abgesteckte Viereck des Gedichts. Dort entdeckt man, nach mehreren Schleifen, das kesse luxemburgische Verb „zëssen“, was so viel heißt wie „besänftigen“. Das französische Wort für den Kar (die Talform) ist übrigens cirque, was auch Zirkus heißt und über die lateinische Wurzel circus mit dem cercle, dem Zirkel, verwandt ist. Solch einen Zirkelzirkus betreibt das Gedicht in der Rekombination kleiner Wortpartikel, die auf der Schwelle zwischen den Sprachen tänzelnd eine Behausung finden. Das Gedicht benennt diese kreisende Bewegung: Es ist ein „herzkaruzelka“, halb polnisch, halb deutsch. Und in einer letzten ironischen Schleife springt das Gedicht auf sich selbst auf, fährt im Kreis durch die nun französische Luft („s airlein“) (ach dieser weiße Elefant) und verwandelt das Herzkarussell in ein „szerckaruselka“ mit polnischer Orthographie.

Was sich hier im Kleinen ereignet, meine Damen und Herren, nämlich die ebenso schwungvolle wie radikale Absage an eine Vorstellung von Poesie als Angelegenheit nationaler Einsprachigkeit, das spielt sich in allen Facetten des Werkes von Dagmara Kraus durch. Ein grandioses Forschungsvorhaben ist das, zur Findung einer poetischen, übersetzerischen, grenzüberschreitenden Sprache, ganz im Sinne dieses Preises. Man mag an den großen zweisprachigen Dichter und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt denken, der schrieb: Was den Sprachen fehlt, das passiert zwischen ihnen.

Dagmara Kraus im Publikum sitzend, den Blick zum Podium gerichtet

Dagmara Kraus

Foto: Georg Pöhlein

Dieses Zwischen lotet Dagmara Kraus auf vielerlei Arten aus. Seit ihrem Debüt „kummerang“ (2012) gelingt es der Lyrikerin, das Deutsche in einen surrenden Surroundsound zu verwandeln, der offen für natürliche und nichtnatürliche Sprachen ist. Dabei lässt sich die Lyrikerin von der Übersetzerin oft kaum trennen, geht sie sowohl interlinguistische als auch intralinguistisch wenig betretenen Sprachpfaden nach. Für einen Zyklus in „kummerang“ beispielsweise bedient sich Dagmara Kraus einer kostbaren frühen Sprachmaschine, ich meine den „Fünffachen Denckring der Teutschen Sprache“ von Georg Philipp Harsdörffer aus dem Buch „Philosophische und mathematische Erquickstunden“ von 1651. Mit Hilfe von fünf aus Papier geschnittenen Drehscheiben können unzählige neue Worte im Deutschen gebildet werden, reich an „glarber wausen“ – sprich, die in ihrer erkennbaren Ferne zu bestehenden Material wie eine Übersetzung in ein erquickend Anderdeutsch sind, das uns die emanzipatorische Kraft von Sprache vorführen kann. Ähnlich räubert Kraus für den Band „kleine grammaturgie“ (2013) im verschlafenen Reservoir der Plansprachen, oder geht hellsichtig und lallsüchtig den Spuren ägyptischer Klagemädchen in dem Band „wehbuch. undichte prosagen“ (2016) nach. Der besessenen Kunst, kleinste Formen – Worte und Buchstaben ‒ zu radikalen Neuordnungen zu kombinieren, gibt sich die Anagrammatikerin und traditionswildernde Sammlerin Kraus hin. Ob in eigenen Anagrammen, in Übersetzungen von Anagrammsestinen wie denen des Oulipodichters Frédéric Forte oder im anarchischen Abstauben alter rhetorischer Figuren und Gedichtformen – immer findet sie in der Anwendung der „kleinen Kunstmaschinen“ die Möglichkeit, poetische „schinkenwangen aus polkas“ zu jagen und Traditionalisten sowie Monolingualisten ein Schnippchen zu schlagen.

Als Übersetzerin und Essayistin endlich erweitert sie die Sagensmöglichkeiten des Deutschen bei der Übersetzung von französischen und polnischen Autoren, die ihrerseits die Grenzen der eigenen Sprache erweitern. Dazu gehört die neolinguistische Lyrikerin Joanna Mueller, der Dichter und Sänger Edward Stachura oder der berühmte und hierzulande vor Dagmara Kraus’ Pionierarbeit nahezu unbekannte Lyriker, Theaterautor, Chronist Miron Białoszewski. Neben dem „Geheimen Tagebuch“ legte sie mit „Wir Seesterne“ die erste übersetzte Gedichtauswahl vor und übersah als Herausgeberin die Veröffentlichung einer weiteren Gedichtauswahl, „Vom Eischlupf“ in der bis zu vierzehn zeitgenössische Lyriker unterschiedliche Nachdichtungen desselben kurzen Gedichts anfertigten. Wunderbar lässt sich in beiden Büchern die Pluralisierung der poetischen Rede verfolgen, wenn nämlich ein sprachspielerisch angelegtes Original nur mit potenziertem Sprachspiel übersetzt werden kann – eine auffächernde Erwiderung, die für das Deutsche nicht folgenlos bleiben kann. So findet sich in „Wir Seesterne“ eine rätselhafte Figur namens „Schnäbi“, die auf Polnisch „Siulpet“ heißt und die zureichend verkrauste Leserin an das Gedicht „Schulpbekenntnis“ aus dem Band „kummerang“ erinnert. Mit Białoszewski teilt Kraus das Interesse am Fehler als poetischem Zünder, an der Verschiebung grammatikalischer und orthographischer Grenzen, an Stille und, wie Białoszewski schrieb, der „Ironie, die aus den Stille erzeugenden Wörtern entsteht“. Spürbar ist dies in jeder Zeile in dem Gedicht „Namusowywannie“ oder „Bemusung“:

Bemusung

Muse
Inspiruse

                          so muss
ich dir
endungen
vor unschreibsamkeit

verinhalte
mir
die -keiten
und
das
-use

Um die Gedichte von Dagmara Kraus zu lesen, sollte man sich darum Wörterbücher zur Hand nehmen. Solche von Sprachen, die es gibt, und solche von Sprachen, die es nicht gibt. Man braucht viele Wörterbücher von beiden, aber am meisten die dritte Art, nämlich solche, die sich beim Lesen selber schreiben, zwischen den Seilen vermuteter Zeilen: Ortungsbücher, Entortungsbücher, Bücher möglicher Wörter, Örterns voll. So wie Anagramme das Phantasma des selbstausführenden Textes heraufbeschwören, gilt wohl für die Kraus’sche Sprachsause, dass sich die Gedichte in den Köpfen der Leser – oder besser, ihren Mündern, sind es doch keine schweigsamen Maulwürfe, sondern lachend ins Leben gelallte Lautwürfe –, dass sich also diese Krauswüchse selber hervorbringen, indem sie das Sprachmaterial unbekannter, ähnlicher, anderssprachiger und möglicher Wörter im Kopf forttreiben:

nehmen wir doch mal an / das vogelmot schliche / mit geknickter schnute / vielleicht sogar leicht eingestochen und das noch mit guter vorsichtigkeit halb von auswärts / und in lange schweife verschlungen zum domestizierten mund / verhandelten kräfte / verborgen und eilends / die zeitstellung dieser widrigkeiten

Vermutete Wörter, vermotete also: Man beginnt, ein auf Widrigkeiten durchlässiges Ohrmembran zu entwickeln. Die Welt, gesprochen mit Vogelmot, ist eine Ohsowelt. Das fällt mir ein, als ich meine Kinder bade, obwohl ich kein Französisch spreche. Eher wäre man bei mir mit Falschösisch an der richtigen Adresse, eine Sprache, die meinen „falschen freunden“ verwandt scheint und die Dagmara Kraus in einem alten Deutschlehrbuch für Franzosen fand. Solche Lehrbücher, die Lernende oft über den Mund erreichen wollten, der beim Sprachenlernen immer ein Kindermund und ein entorteter Flüchtlingsmund ist, und die als wichtiges Mittel transkribierte Lautschrift verwenden, sind überhaupt eine gute Quelle für die übersetzende Schwellendichterin. Bei Dagmara Kraus ergibt das Material, ausgeschnitten und collagiert, fabulante Elfzeiler für den Band „das vogelmot schlich mit geknickter schnute“.

Dem Mut zum flüchtigen Vogelwort öffnet Kraus das Mot zur Welt, zur Wut vielleicht auch. Durch polyglottes Aufrütteln von Denkformen und Schreibnormen betreibt sie, die in Polen geboren wurde, 1988 mit sieben Jahren als Kind von Solidarność-Flüchtlingen nach Deutschland kam und jetzt in Berlin und Frankreich lebt, was man mit Deleuze und Guattari eine „Minorisierung” der Sprachen nennen könnte. Sie deterritorialisiert das Deutsche, verwandelt es in eine sogenannte kleine Sprache, nomadisch offen, eine, die man sich nicht aneignet, die sich vielmehr widerständig ereignet. Das ist poetisch und politisch zugleich. Deutschyzna moja heißt ein neues, vierteiliges Gedicht von Dagmara Kraus im aktuellen Jahrbuch der Lyrik 2017, das auf die politische Entwicklung in Polen und auf das Schicksal tausender Geflüchteter in Deutschland 2015 Bezug nimmt. deutschyzna ist ein Portemanteauwort aus Deutsch und ojczyzna, dem polnischen Wort für Vaterland. Die als Motto dem ersten Teil vorangestellte Zeile „liedvoll, ojczyzna moja” ist zum Teil eine homophone Übersetzung, nämlich der ersten Zeile Litwo, ojczyzno moja! des polnischen Nationalepos Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz. Mit minimalster Verschiebung (aus Litwo, dem Wort für „ Litauen”, wird liedvoll), mit einem translingualen Zwinkern geradezu, wird die Grenze zwischen den Ländern und Sprachen durchlässig gemacht und werden Herrschafts- oder Heimatansprüche infrage gestellt. Aus Vaterland wird Anderland, Liedland; Heimatreflex verkleinert zu einem Schunkelbegehren. Der vierte Teil des Gedichts trägt als Bild den deutschen Adler im Titel. Darin entwickelt die Autorin mit kurzen atemlosen Zeilen eine Vogelmotrede gegen die Adlersprache nationalen Denkens. Das Gedicht sagt von sich es „verschockmausre krauses”. Schockmauser, das Abfallen der Federn bei Stress, kann als das Fallenlassen von Sprachkonventionen, linguistischen Normen, monolingualen Ordnungen gelesen werden. Die Autorin verschockmausert allerdings nicht nur die deutsche und die polnische Sprache, sondern auch sich selbst: „Krauses”. Hier greift wieder die Ironie der Stille, man könnte auch sagen: der Sprachschwelle, denn bei dieser Art Krausdichtung oder Crosssprechung ist notwendigerweise auch die sichere Identität der Sprecherposition passé. Was bleibt, ist Gesang, Kreisen des Vogelmots, Wildern im Fehlen, Wrangeln am Mangel der Eindeutigkeit. Oder „antilabe“, wie ein Gedicht, das Dagmara Kraus in der Plansprache „langue bleue“ verfasste und das in der ersten Auflage der „kleinen grammaturgie“ zu finden ist:

antilabe

vol if me spika ate lanku of gev110
– vol if me spika is ate bistu vilted111 is ate vatu ad pfos112
– ate tralbu113
me ia ferka114
– rig ade nomu115
ate vortu re tenka an sinf116
– ate vortu re nu tenka an sinf117
it esmipo en anto118

antilabe

110 spräche ich alle sprachen der erde
111 – spräche ich wie alle wilden tiere
112 wie alle wasser des abgrunds
113 – alle blumensamen
114 würde ich den ursprung
115 – der namen vergessen
116 alle worte, die eine bedeutung haben
117 – alle worte, die keine bedeutung haben
118 und einfach singen

Lassen Sie uns übersetzerisch singen oder antilaben oder unsere Rede mehrsprachig entlabern. Lassen Sie uns kreisen auf dem Szerckaruselka ihrer Sprachen. Herzlichen Glückwunsch zum siebten Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung, liebe Dagmara Kraus.