Anlässlich der Verleihung des 8. Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung

von Ann Cotten

Junge Frau mit Schal und schwarzem Abendkleid hinter dem Podium

Ann Cotten

Foto: Erich Malter

In mir war ein Dämon,‘ übersetzt Theresia Prammer die Worte Pasolinis, eines der Dichternnnie, den sie und der sie schon über Jahrzehnte begleitet. ‚Ein Dämon, der sein infernalisches Vaterland vergessen hatte und sich in mir wiedererkannte, ich war es, „extremistischer Schwätzer“-‚

Nun, wenn ich die zu Ehrende, verehrtes Publikum, eine extremistische Schwätzerin nenne, dann werden Sie hüsteln. Zu recht. Aber eines der extrem guten Eigenschaften der Kritikerin, Essayistin, Übersetzerin, Denkerin, Leserin, Beobachterin, auch Freundin Theresia Prammer ist, dass sie vor solchen Phänomenen wie „extremistischer Schwätzerei“ nicht zurückschreckt, sondern bereit ist, ein Stück mitzugehen – mit anderen und das heißt auch immer mit sich selbst – und zum Beispiel mit einer gewissen nicht identifikatorischen Freude an Bezeichnung wie an Bezeichnetem zu übersetzen. Animistisch formuliert: Kenntnis der verschiedenen Dämonen. Und diese nicht-identifikatorische Freude an Sachen ist etwas verdammt seltenes im deutschen oder europäischen Beurteilungswahn.

Saß ich nicht gestern im Zug gegenüber zwei Freundinnen, die die Bewertung ihrer Ferienunterkunft besprachen, und verblüffte mich nicht in aller Unschuld deren Geiz und Selbstgerechtigkeit dabei – wie wichtig sie es fanden, da kein Lob, kein Danke zu verschwenden, „so außerordentlich war es nicht“, korrigierten sie jeden solchen Impuls – und so sehr ich inflationäre Hyperbole scheue (weil du drinhockst, weil du drinhockst) : Dieser Geiz mit Liebe, da würde mir Theresia zustimmen, ist das Letzte. Wenn man sich schon mit etwas beschäftigt, lasse man sich darauf ein, Wahrnehmung trifft Sein, und heraus kommt eine Formulierung, aus Spaß wurde Ernst, Ernst ist jetzt 5 Jahre alt. Ein Stapel Bücher, wo Ernst und Spaß in reine Energie, die Energie in Buchform übersetzt wurde. Eine Art Batterie also, dann.

Solche Verwandlungsarbeit erfordert freilich eine gewisse Unerschrockenheit, Unängstlichkeit, die allerdings weniger überrascht, wenn man erfährt, dass Prammer selbst auch die ganze Zeit künstlerisch tätig ist und wahrscheinlich in der Primärproduktion ebensoviel Erfahrung hat wie bei Kritik, Übersetzung und Beschreibung anderer Autoren. Schon darum muss es ihr eine Selbstverständlichkeit sein, dass man ja beim Lesen, beim Besprechen, beim Übersetzen etwas tut und darin in Erscheinung tritt: in der Art, zum Beispiel, wie man die doofen Momente einfach mitnimmt, weil sie auch zum Gescheitsein dazugehören, weil ohne sie das Gescheitsein eine verdorrte Fiktion wäre. Man sieht es an anderen Leuten und weiß, dass es auch einen selbst treffen wird. Und wenn man kein bissiges Herz hat, sieht man auch, wie schön das ist. Also Toleranz, und statt dem Verurteilen ein Beschreiben, ein sanftes Einordnen, sagen wie es ist, sagen, was die Leute machen. Der Literaturbetrieb als Wimmelbild. I love it.

Ich kenne niemanden, die so gut, so präzise, verständig und auch trocken die vielen Anwandlungen von Dichternnnie benennen kann und ihnen ohne Verächtlichkeit einen angemessenen Platz finden, ohne dem Impuls nachzugeben, sie wegzuretuschieren, zu verbessern, umzubiegen oder zu vernichten. Pikant, aber auch bewegend, wenn Theresia Prammer dann etwa Armand Robin einen ausführlichen Aufsatz widmet und verständig, verständnisvoll beschreibt, wie seine enthusiastische Hast sein Schaffen gewissermaßen deformierte. Durch diese klare, nichts beschönigen müssende, weil auch nichts verurteilende Beschreibung nur kann einer wie Robin angemessen besprochen, mit Aufmerksamkeit gewürdigt werden, auf den viele wegen idiosynkratischer Übersetzungstätigkeit böse sind, während ihn viele andere aus vielleicht den falschen Gründen loben – in jener Diskursfigur, bei anderen die Fehler zu entschuldigen, die man bei sich selber auch entschuldigt sehen möchte. Dieses „Modell Kavaliersdelikt“ ist ja ebenso verbreitet wie die andere Reaktion auf das Phänomen, dass man die Wesen möglichst umgehend vernichten möchte, die einem mit ähnlichen Fehlern den Spiegel vorhalten. In solchen Fällen ist die Kritikerin Theresia Prammer einfach schlicht ein Lichtschwert der Aufklärung. LEUCHTET ins Gebüsch, anstatt darin rumzudreschen.

Übersetzernnnie im Publikum werden hier nun freilich die Augen rollen: ist das nicht 70% des Berufsalltags, die verbohrte Verve, den fehlgeleiteten Enthusiasmus anderer Leute zu…ähm… begleiten?
Ja eh, aber. Ich hoffe, Sie verstehen da, was ich meine: solche Figuren des Denkens oder Empfindens wie „ja eh“ oder „no na“, oder das in Deutschland so beliebte „geh bitte“ oder besser „geh hearst“ (dt. in etwa: Meinen Sie das ernst?) stellt uns das Wienerische ja zur Verfügung und wir machen von ihnen guten Gebrauch, im Leben wie im Denken, um die Umwelt zu schonen. Diese Ausdrücke sind sozusagen in ihrem Mangel an Begradigungseifer sehr bio. Zum Beispiel diese Art tatenlose oder ineffektive Genervtheit, die beim Umgang mit älteren dichtenden Herren – oder genereller mit der passiven Aggression von Leuten, die in einer (erhöhten) Lage sind, durch Unterlassung von Eifer effektiv Arschheit stattfinden zu lassen – einem sehr gute Dienste leistet; ohne die man längst den Beruf gewechselt hätte. Ja eben, ja eh. (Ach ja, ihr sagt ja in ähnlichen Fällen einfach sarkastisch: genau.) Im Hintergrund von Prammers gelassener Deskriptivität steckt – meine ich – genau diese donaumäßige, unbeeindruckte Verführbarkeit. Das Leben ist nicht ein Reformprozess, bei dem alles ausgemerzt werden muss, was eine schlechte Praxis ist. Das Leben ist eine wiederkehrende Aktualisierung von Bekanntem in neuen Flavours, sanfte Neigungsveränderungen, neue Strömungswinkel, die nach und nach neue Sandbänke entstehen lassen. Ein Neues schichtet sich aufs andere und fließt vorbei, und nun sieht man in ihm, was die Eltern in etwas anderes sahen, und auch das verlagert sich und wird vergehen, und es ist tödlich und schön.

Wenn, einem Wort Robert Walsers folgend, Poesie Genauigkeit, Genauigkeit Poesie ist, dann hätte Prammer umgerechnet ungefähr 300 000 Gedichtbände. Aber leider ist Poesie nicht Genauigkeit. Meistens nicht. Meistens so etwas wie Tausend Mikro-Übertreibung, verwirrt Schillerndes, ein ausgiebig verzierter Punkt, Sätze, oder in Wirklichkeit meist Halbsätze und Phrasen, die in der Nacht den Aschenbecher umgeworfen haben und somit einen Platz im Pantheon der Halbsätze und Phrasen errungen – errangen – ich kann es grad nicht gut beschreiben. Aber eben diese verschiedenen Sachen kann Theresia Prammer sehr gut beschreiben: Sachen… nicht etwa Gemütszustände oder Krankheiten, sondern in Prammers respektvoll distanzierter Ausdrucksweise vielmehr so etwas wie Arten zu agieren. Denn in ihrem oft narrativ fließenden, von Beobachtung zu Beobachtung scheinbar mühelos spazierenden Schreiben über Literatur verliert Prammer nie die wichtigen aufklärerischen Gebote der Philologie aus dem Blick. Nie schablonenhaft oder steif, immer mit höchstem Skrupel fürs Vokabular, das lebhaft und anschaulich ebenso wie präzise und anschlussfähig sein muss, und schön schön schön sind die Sätze über die Materie geführt wie Straßen durch eine abwechslungsreiche Landschaft. Sie erfüllen zugleich den Anspruch, die Vernetzungsdichte zu erhöhen, und, den Eigenheiten der Landschaft gerecht zu werden. Wenn es vielleicht Ansätze von Tragik hat, dass Theresia Prammer die eigenen Texte und künstlerischen Arbeiten bis jetzt großteils nicht zur Veröffentlichung gebracht hat, so könnte man indessen doch beobachten, dass ein gewisser Antrieb zur Produktion von vollendet Schönem in die Essays eingeflossen ist, das auch bei der Kunstproduktion neben Analytik und Witz nie fehlt. Als Zeichnerin wäre Theresia Prammer gewiss eine extrem charmante, mit subtilem Strich arbeitende Karikaturistin. Als Essayistin agiert sie so stilsicher, dass man oft vergisst, dass es überhaupt so etwas gibt wie grelle apodiktische Meinungsschleuderer in der NY-Times-Tradition oder, noch schlimmer, der Tradition des westdeutschen Feuilletons. Macht also so schnell wie möglich Theresia Prammer zur Welt-Feuilletonchefin, und alles wird gut. – Oder wenigstens gut getroffen.

Wenn man sich mit ihr, wie ich, öfters dem Vergnügen einer nostalgischen Schwärmerei hingibt, etwa in obskuren Floridsdorfer Weinwirtschaften oder bei der Erinnerung an vergangene, vergessene Moden in Sprache und außerhalb, und so ihre Kenntnis des Vergangenen und ihren starken Sinn dafür im Kopf hat, ist man von Theresias gegenwärtigem und futuristischem Bewusstsein gelegentlich überrascht: es zeichnet sich bei aller Aufgeschlossenheit für Vergangenes in ihrer Sichtweise auch eine gelassene, lebhafte und zugleich coole Moderne ab. Ob sie fasziniert Ulf Stolterfohts Interaktionen mit Peter Dittmers anarchischem Konversationsroboter „Die Amme“ bespricht, oder einfach, vielleicht auch dank ihrer Kinder, wie selbstverständlich auf dem Schirm hat, was die Jugend von heute hört, mag, verachtet, und wie sie spricht – wieder ist sie eine Nasenlänge voraus den ganzen neurotischen alternden Singles wie mir, die wir wochenlang im Internet rumhängen, ohne mitzubekommen, worum es dort überhaupt geht, behindert nämlich vom Anspruch, selbst alles zu sein, was man anschaut – schon wieder der doofe Dämon der Identifikation. Fast schade, dass Theresia gelegentlichem Drängen, als Influencer die sozialen Medien zu bespielen, nicht nachgibt. Aber dazu ist sie doch zu ernsthafte Intellektuelle, mehr an den Texten – und vielleicht der Anthropologie der Gesten, die in diesen Texten gespeichert sind – interessiert als an der Selbstdarstellung als Kritikerin.

Dem Exzerpieren und zitieren möchte ich nun auch ein Lob singen. Es ist eine Kunst und eine Praxis, die Theresia Prammer beherrscht, weil sie seinen vielfältigen Wert kennt. Während – oder kurz nachdem – sich der Kärntner Videokünstler Josef Dobernik einen Monat lang, an Verdauungsproblemen leidend, auf einen harten Stein am Flussrand setzte, um ein Buch über Diätätik mit der Hand in ein Heft abzuschreiben, hat Theresia Prammer liebevoll eine Zitatensammlung ihrer Lektüren gepflegt. Die Notizbücher, die wir auf dem Berliner Fußboden in der Morgensonne auskippten, schienen den Duft langer Teenager-Nachmittage auszuatmen, meine Träumerei, aber ich sehe das trockene Gras vom Retzer Altweibersommer ungesehen im Wind wehen, draußen unter einem gnadenlos blauen Himmel die Füchse durchs Gebüsch pirschen, während eine junge Theresia Prammer Teile ihrer Lektüre abschreibt, oder ausschneidet und in ein Sammelheft oder auf die Buchdeckel ihrer Notizbücher klebt: Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann, Arthur Rimbaud, Paul Celan, Ilse Aichinger, Kafka, Alfred Kubin, sogar Max Frisch („Selbsterkenntnis als lebenslange Melancholie“, hat sie da z.B. gewählt, „ein geistreicher Umgang mit unserer früheren Resigntion ist sehr häufig, und Menschen dieser Art sind für uns oft die nettesten Tischgenossen, aber was ist es für sie?“). Sie legt eine Sammlung an. Bilder und Texte werden ausgeschnitten und in oder auf Notizbücher geklebt. Es ist der Beginn einer Art, Methode, Gewohnheit, sich durch die Literatur zu bewegen – von dem sonnigen Nachmittag in Retz in merkwürdige und immer merkwürdigere Situationen hinein. Und ihr Wählen hat bereits den Anspruch, die mühelos vernünftige Verantwortlichkeit einer Kanonbildung.

Später ist sie ja dann auch veritabel kanongestaltend tätig. Mit der eher an heißer und aufmerksamer Liebe als an persönlicher Seelenerkundung interessierten gelernten Zweisprachigkeit brachte sie zugleich deutschsprachige Dichternnnie in die italienischsprachige Welt und machte italienische Dichternnnie auf Deutsch bekannt. Die italientische Anthologie Berliner Gegenwartslyrik „Ricostruzioni“ sollte man sich noch einmal in seiner ungewöhnlichen Qualität vor Augen führen. Nicht nur würde die Auswahl zu jederm einzelnen Dichterni allein schon zu einem schönen Chapbook reichen. Sie enthalten auch als Einleitungen oder zwischen den Autoren monographische Essays, die man (ich jedenfalls, die ich das Italienische immer nur wie durch einen Schleier lese) gerne einmal auf deutsch lesen würde. Nicht genug feiern kann man die Umsicht oder vielmehr das Setzen der Vielfalt und zutreffenden Einschätzung vor einer selbstbekränzenden, sehr effektiven Zirkelschlusspolitik, die von anderen in entsprechenden Rollen praktiziert wird. Statt dem üblichen Anthologiengestus „Weil ich die wichtigsten Dichternnnie ausgewählt habe, sind es die wichtigsten“ beschließt Theresia Prammer die Einleitung zu „Ricostruzioni“ mit einer Liste der nicht enthaltenen, auch interessanten Dichternnnie. Ich verschone uns mit einer Blütenlese dieser Anthologie – wir kennen ja die Herrschaften – aber aus der Anthologie italienischer Dichternnnie „Die Erschließung des Lichts“ (Hg. Italiano/Krüger) kann ich mir nicht verkneifen, die Prammer-Übersetzungen einmal durchzuzappen, um uns auch vor Augen zu führen, was für vielfältige Töne immer durch ihre Feder fließen, und wie sich Spaß und Sorgfalt mischen. Da schreiben sie alle, die italienischen Gegenwartsdichternnnie,
Magrelli (der Propeller des Geldes),
Pusterla (Glühwürmchen? Glühwürmchen nein),
Frasca (den weg des irrtums der begangen werden muß / ohne nachdrücklich auf dem ende zu bestehen),
Anedda (Siehst du, nichts verliert sich hier zum ersten Mal.),
Pagnanelli (fett und ausgestreckt … Sintflut von Blüten),
Valduga (Mit Silber beschichte mich.) (Wie viele trübe Stunden hast du hinter dir),
D’Elia (Den Höllenvorhof gibt es),
De Angelis (Wir bilden den altvertrauten Reim und sinken zu Boden),
Benzoni (mit der Miene eines gealterten Jünglings)(Diese Boucherie aus Forsythien und Seelen)(Benn lesend),
Sovente (voll Liebreiz und gewissenhaft),
Buffoni (Hin zu den Hügeln aus Schrott und Verrottung),
Cucci (Denk nicht, ich sei ein Muttersöhnchen),
Conte (Glaub mir: es sind Eichhörnchen),
Sanguinetti (die ganze Wahrheit, in ein Beicht-Séparée aus Sperrholz verbannt),
Rosselli (in den Fluten / verbluten), Loi (alles was lebt macht mir angst),
Giudici (Sanfte Sonne eures Morgenrosarots),
Pasolini (zwischen Kontiguität und Similarität)(Warum sollte man es nicht aussprechen?),
Zanzotto (Glieder um Glieder),
Orelli (immer bin ich der, / der zuerst grüßt) –

Was für eine Spazierfahrt muss es gewesen sein, all diese Herren und Damen mitzuübersetzen! Nur, Obacht! Wieder einmal stehen die Übersetzernnnie nicht auf dem Cover, (es sind wohl etwa 10), stattdessen sehen wir ein Photo von einem menschenleeren Terrazzo und die Namen der beiden Herausgeber, von denen einer ein einziges, der andere kein einziges Gedicht im Buch übersetzt hat, wenn ich mich nicht verzählt habe. „Die Erschliessung des Lichts“ heißt der Band – irgendwie ein sehr deutscher Titel – es erschließt sich also dann im Inneren, und bleibt eine Vorlage für Insiderdiskussionen. Da kommt schon ein bisschen Sehnsucht nach den Bambambam-protzenden Namenlisten der Technoszene und der bildenden Kunst auf. Wenn man es so pflegte, würde die Übersetzernnnie zu Stars, stelle ich mir vor, ist ihr Geschmack und ihr Geschick doch ebenso partyfördernd wie partytötend wie von DJs. Man würde Bücher kaufen wegen der Übersetzernnnie. (also, noch in größerem Maß als jetzt). So – wen kennt das breite Publikum – das Büchern, nicht vollkommen unbegründet, tendentiell misstraut und daher immer nur ihre Deckel anschaut – nicht mehr als Harry Rowohlt.

Es gibt Autorennni, die ich alleine kaum lesen kann. Zuwenig Geduld, um sich in ihre Badewannen einzulassen. Auch blendet mich der Fluss der Buchstaben. Zum Beispiel bei Paulus Böhmer. Theresia Prammer lese ich aber. Und in ihren Exzerpten leuchten mir plötzlich Witzigkeiten entgegen, die mir im Rahmen so einer Böhmer-Säule nicht einmal aufgefallen wären. Nach einer Seite Prammer-Aufsatz habe ich mehr Einsicht in Böhmers Werk bekommen als durch 3 Stunden „Durchlesen“ seines Werks. Ich möchte hier Theresia nicht zur Pädagogin, zur Interface-Designerin oder dergleichen missdeuten oder missbrauchen, ich will nur anschaulich machen, wie anziehend, verlockend, und effektiv ihre Praxis ist, zu lesen, zu beschreiben, das Denken mit dem Beschreiben und dem Wirkenlassen verquickt sein zu lassen.

Hast du von Literatur die Schnauze voll,
lies Prammer und es wird wieder toll.

Ann Cotten auf dem Podium vor einer grünen Leinwand welche mit 'Erlanger Poetenfest 2019' beschriftet ist

Ann Cotten

Foto: Erich Malter

Durch ihre „schöne Kritik“ wird ein Verhältnis zu Texten und Werken viel klarer und unverstümmelter informiert als durch, etwa, das Anwenden starrer formaler Bestecke, die auf ganz andere Tätigkeitsarten modelliert sind als das Lesen, wie es in letzter Zeit immer stärker im Wissenschaftsbetrieb gefordert wird. Dort wird scheinbar die Hoffnung gehegt, die Befolgung bestimmter Schemata würde die Qualität oder Lesbarkeit fördern, so wie Naturwissenschaftler dank formaler Konformität mit einem Blick das Wesentliche und das Neue an einer Publikation erfassen können sollen. Es ist nicht ganz verkehrt gedacht, nur sind die Ereignisse, die einen Text signifikant machen, zu vielfältig. Es braucht sozusagen eine innere Klarheit, also Wahrnehmungsbereitschaft, Mustererkennung, Ablage, aber da hilft keine Anwendung vorentschiedener Einteilungsprinzipien und Formulierschablonen, sie hindert eher. Linear sind die Texte schon selber; informativ sind die knotenartigen Strukturen, die sie in ihrem eigentümlichen Verlauf speichern. Die Tatsache, dass diese Linearität eine Täuschung ist, ist genau der Gegenstand der Literatur und ihrer Wissenschaft.

Wenn die Geisteswissenschaft ein Sumpf ist, wie Karl Popper in Bezug auf Adorno sagte, sodass, wer anfängt, über die Begriffe des Sumpfs mit den Sumpfbewohnernnnie zu streiten, selbst mit fuchtelndem Schwert hineinfällt, oder von mir aus ein Knoten komplexer Interdependenzen, Referenzen und Bezüglichkeiten, so kommt man darin eben mit der simplen Doppelklinge des ungeduldigen „Verstehen-Wollens“ nicht weit. Man hat einen zerhauenen Sumpf, oder einen entwässerten Knoten, verstanden hat man aber weiterhin nichts von dem, was zerstört wurde. Um Knoten zu verstehen, muss man ja akzeptieren, dass ein Knoten ein Knoten ist, die Selbstverknüpfungswege des Knotens lernen, und sich so eigentlich vom Knoten, dessen Lösbarkeit einen interessiert, die Zeit, das Bewusstsein, das Leben total deformieren lassen.
Wie Prammer in der Huchelpreis-Laudatio auf Steffen Popp schreibt, „Das Knäuel hat keinen Anfang, das Dickicht hat keinen Ausgang; dafür aber Richtungen und Lichtungen, Wurzeln, Knoten und Nester. Und Augen.“

Ein selbst-bewusstes Dickicht also, ist das Verstehen? Es wäre falsch, es mit so etwas wie Ein- oder Nachfühlen unbedingt kontrastieren zu wollen. Verstehen tun wir ja, sagt man, mit dem Kopf – und ((nicht aber)) er ist verbunden über Nerven und chemische Botensysteme mit dem ganzen Körper. Mittlerweile ist auch im Feld der menschenanalogen Robotik „embodied cognition“ common sense oder state of the art. Unter „Verstehen“ kann man nur verstehen, dass man ein Wort oder eine Idee mithilfe der mit ihnen auf verschiedene Arten verbundenen anderen Worten und Ideen kennt. Das heißt, man kennt die relativen Verhältnisse, welche Figuren zwischen ihm und anderen Ideen als Beziehung stehen. Lässt man den Fokus von den begrifflichen „Knotenpunkten“ – wie den als Tautropfen in Indras Netz hängenden Spiegelungen aller anderen Tautropfen – auf die Wege schlüpfen, dann dienen die nomenförmig definierten Begriffe nur als Markierungen, als Formulierungsform für die Figuren, aus deren Ausführung der ganze Sinn besteht. (Bemerkbar daran, dass der Sinn verschwindet, wenn man stirbt.) Und so ein Verstehen kann man naturgemäß nicht „besitzen“; „erwerben“ nur im Sinn von erwandern, eben dem Kenntniserwerb durch wiederholte Verwendung dieser Kenntnisse.

Prammer: „Das lyrische Ich ist das diskursive Subjekt zwischen Welt und Sprache, das deren objektives Dasein in Frage stellt,“ schreibt Prammer im KLfG-Eintrag zu Andrea Zanzotto.

Lässt sich mittels Sprache die Welt überhaupt ansprechen, lässt sich mittels Speache eine Welt konzipieren, die außerhalb der Sprache liegt? Sprache erschließt Welt im selben Maße wie sie sie verdeckt, und der Rekurs auf Metasprache führt zwar zu wichtigen Reflexion, ist aber kein Ausweg aus dem Dilemma, solange Gegenstand und Instrument der Untersuchung ein und dieselbe Sache sind. Das macht die Sprache ‚korrupt‘, oder zumindest korrumpierbar (…). Was bleibt, sind die kontradiktorischen Relationen zwischen Sprache, Welt, Wirklichkeit und Individuum: Sowohl die Konditionen der Welt (Wirklichkeit) als auch jene des Dichters gestattet also Analogien zu jener des Barons Münchhausen, der sich am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf zu ziehen sucht.

Oder mit Neuraths Bild die Besatzung eines Schiffs, das auf hoher See umgebaut werden soll. In diesem Sinn bleibt Verstehen freilich vor dem Übersetzen, das oft wie eine Prüfung des Verstehens wirkt, derart, dass die Fähigkeit gefordert wird, das Erlebte „in eigenen Worten wiederzugeben“ – in diesem Fall – aber nicht nur in diesem – sind es nicht so sehr eigene Worte als gut gewählte – aber wie kommt man nur auf die Idee, dass es so etwas wie eigene Worte überhaupt geben kann? Ist das Eigene nicht immer das, wofür man sich entscheidet – also ein Abschlag des Geschmacks? In Sprache schon. Und hier verschwindet tatsächlich der Unterschied zwischen Dichten und Übersetzen. Je mehr ein Unterschied betont wird, erinnert Adorno, kann man vermuten, dass er durchaus ein wenig in Frage steht.

Prammer: „Jedes Schreiben ist auch ein wenig Abschreiben, jedes Dichten ein wenig Nachdichten, jedes Sprachschöpfen auch ein wenig Nachschöpfen.“ (Lesarten der Sprache. Andrea Zanzotto in deutschen Übersetzungen. Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S.11)
Als Herausgeberin von Anthologien, Dossiers und Zeitschriftenausgaben hat Theresia Prammer auch massive, extrem bereichernde Arbeit geleistet, die leider oft nicht weithin sichtbar wurde, zum Beispiel, weil wieder einmal Reihenherausgeber ihre Namen groß hinpflanzten und die, die die eigentliche Arbeit geleistet haben, nur als eine bemerkenswerte Häufung im Heftinneren auffallen: Moment: schon wieder Theresia Prammer? Andererseits gibt es die fatale Tendenz von Leuten, die mehr Energie für die Arbeit selbst aufbringen als für die Kümmerei um den angemessenen Ruhm, ihre besten Werke irgendwo in irgendwelchen ehrenwerten Zeitschriften zu veröffentlichen, wo sie dann … naja, stehen. Insofern ist es eine besondere Freude, dass jetzt endlich ein Band gesammelter Aufsätze von Theresia Prammer erscheinen wird. DETAILS!!

In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist auch das ephemere Genre der Veranstaltung. Nicht nur hat Theresia Prammer jahrelang zusammen mit Christine Vescoli die Kulturtage Lana zu einer Art St Moritz des Geistes gemacht. Sie hat auch von 2013 bis 2018 im „Attico“ in Berlin-Schöneberg eine Art literarischen Salon gepflegt, der interessante Autorennnie und Lesernnnie der Wiener und Berliner Avantgardeszenen in Veranstaltungen zusammenbrachte, wo auf allerhöchstem sowie auch auf anderen Niveaux gehört, geplaudert, geblödelt, getrunken, und sogar geraucht wurde (am Fenster). Im Attico herrschte eine Freude am Diskurs und im Gespräch, an Nuancen, an Momenten, was ja einen guten Salon noch viel mehr ausmacht als alles bürgerliche und elitäre Getue. Tiefgreifende Lesarten von Gegenwartsdichtung und Theorie wurden zur Diskussion gestellt und bereicherten fünf Jahre lang das Berliner Geistesleben. Diese Praxis, so sehr sie jetzt fehlt, war für Theresia Prammer nichts Neues, und geht auch ohne Attico weiter – die Autorin muss somit nicht mehr Kisten voller Wein in den 5. Stock schleppen und den letzten nach Suppe quengelnden Großkritiker um 5 Uhr nachts hinauskomplimentieren, sondern kann sich ganz auf die Vorbereitung eines langerwarteten Essaybands konzentrieren. Prammer teilt schon seit sie arbeitet ihre Lektüren und Entdeckungen immer wieder auf fruchtbare Weise mit der Szene, so lernte das interessierte Publikum 2004 und 2006 den rumänisch-französischen Autor Gherasim Luca kennen; späte oder wenig bekannte Gedichte von Pasolini, Eugenio Montale oder d’Annunzio wurden vorgestellt. Auch wird hin und wieder eine zuwenig beachtete Frau ritterlich ins Licht gezogen, Alda Merini etwa 2005 dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt, Ulrike Draesner 2010 dem italienischen, Ilse Aichinger 2017 und Christine Lavant 2013 jeweils ein Symposion organisiert, und zu beiden auch in Essays wunderschöne Lesarten erläutert, die die Autorinnen in neuem Licht betrachten lassen. Gerade jemanden wie Lavant muss man immer wieder neu erwägen. Im Schillern von Existentialismus, Biographischem und den Erscheinungsformen gehen regelmäßig Gesamtwerke von Frauen einfach unter, da es für weibliche Schriftstellerei nicht die etablierte Berufskleidung gibt, die einem wenigstens den anzugsschulterbreiten Platz in der Literaturgeschichte garantiert. Immer wieder wird bei Frauen geredet, als stünde alles in Frage – und so werden sogenannte Frauenschicksale gemacht. Bei allen Geschlechtern freilich sind immer wieder ineinandergreifende Mehrfachexistenzen zu erwägen. Leider scheint es nach wie vor Leute geradezu zu provozieren, wenn jemand, die aussieht wie deine Mutter, als große Frau gelten muss. Bei manchen Typen wie Bouvoir oder Weil, Stein oder Mayröcker kann eine Art geistige Überhöhung, Solidität oder Jenseitigkeit manchmal für eine eigene Art von Pathos sorgen, verlangt wäre aber stinknormaler Grundrespekt für die Arbeit, auch wenn man den karrieristisch fatalen Fehler macht, Kleider zu tragen, die sich auf die Traditionen der Frauenunfreiheit auf die eine oder andere kokette oder interessante Art beziehen. Das tun bittschön die Anzüge auch. Es gibt keinen Grund, beim Werk von Frauen so vielfach mehr nach Gründen zu suchen, ihren Wert, wie man so fies sagt, zu relativieren.

Das Relativieren, bei aller Wertschätzung von Wissen als Netzwerk von Bezügen und nicht von Immobilien, sei hier fern. Die Beschreibung objektiviert, und in dieser deskriptiven Objektivität liegt der Anker, der uns davor bewahren kann, im Strudel von Meinungen, Quatschblasen, hyperbolischen Eierschaukeleien und Superlativen zum Softeis-Preis unbemerkt ins All davonzudriften. Wir sind da, wenn wir lesen. Was wir lesen, steht konkret da. Die Vokabel beziehen sich auf die Welt, in der wir leben. Auch wenn hier Tricks möglich sind. Prammer übersetzt Pasolini, im schönen Heft, das zu diesem Anlass erschien: ‚Die Anarchie ist die Tür, die zum Garten führt. Im Garten lebte ich, ließ aber ausrichten, ich sei im Haus.
‚WO IST THERESIA PRAMMER?! Ich glaube, sie kriegt einen PREIS!