Dichtung im Widerspruch zum Geist der Zeit

von Alla Paslawska und Alois Woldan

Gott hat die Menschen für ihren Hochmut bestraft und sie gezwungen, in verschiedenen Sprachen zu reden.
Zum Glück ist die Übersetzung von diesem Verbot nicht betroffen.

Zu allen Zeiten wurde die Bedeutung der Übersetzung und der Übersetzer unterschätzt. Es schien selbstverständlich und ganz logisch, dass irgendjemand ein Mittler zwischen fremden Sprachen und Kulturen sein musste. Und nur die, die sich der Übersetzung, vor allem von literarischen Texten, verschrieben haben, wissen, wie kompliziert, verantwortungsvoll und wichtig diese Tätigkeit ist.

Nur durch das Prisma der Übersetzung lässt sich die Idee einer Nationalliteratur formulieren. Glück hatten die Länder, die über eine reiche und alte Tradition der literarischen Übersetzung verfügen, denn durch sie wurde ihre Literatur weltbekannt.

In der Ukraine standen die Prozesse des literarischen Schaffens und der literarischen Übersetzung zu einem großen Teil im Schatten einer kolonialen Vergangenheit. Über eine lange Zeit hinweg war die Entwicklung der ukrainischen Literatur Zwängen und einer Zensur ausgesetzt, und nur die Übersetzung bot eine Möglichkeit aus dem reinen Quell fremder Literaturen zu schöpfen, die viel weniger von solchen Restriktionen betroffen waren.

Es versteht sich von selbst, dass die Situation der Unterdrückung nicht gerade zur Verbreitung der ukrainischen Literatur im Ausland beitrug. Nur ukrainische Volksmärchen und historische Prosa konnten problemlos die Zensur passieren, nicht aber die Werke ukrainischer Künstler, die nicht mit dem sowjetischen Regime zusammenarbeiteten.

Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, wandte sich die Lage zum Besseren. Die ukrainischen Revolutionen, der Widerstand auf dem Majdan belebten das Interesse an der Ukraine, ihrer Kultur und Literatur. Gegenwärtig erscheinen englische Übersetzungen von Andrij Kurkow, Serhij Schadan, Oksana Sabuschko. In deutschen und österreichischen Verlagen werden neben den erwähnten Autoren auch Bücher von Jurij Andruchowytsch, Ljubko Deresch, Mykola Rjabtschuk und Taras Prochasko verlegt, und auch Anthologien zeitgenössischer ukrainischer Literatur. Allerdings ist das alles nur ein Tropfen im Meer der „weltunbekannten“ (Lina Kostenko) und nicht im Ausland gedruckten ukrainischen Literatur.

Der russische Überfall auf die Ukraine am 24.02.2022 hat plötzlich das Land in die Mitte der Weltereignisse gerückt. Die Auseinandersetzung mit Fragen „Warum?“, „Wie ist das möglich?“, „Was bedeutet dieser Krieg für den Rest der Welt?“ hat Fachleute aus verschiedenen Wissensbereichen gezwungen, einen tieferen Blick in die Geschichte der Ukraine zu werfen, sich mit ihrer Kultur und Literatur neu oder gründlicher zu beschäftigen. In den meisten Geisteswissenschaften stellte sich aber heraus, dass man von diesem Staat viel zu wenig weiß, und wenn schon, dann über das Prisma der russischen Propaganda, die aus der Ukraine das Bild eines in jeder Hinsicht unterentwickelten, vom Nationalismus beherrschten Landes in allen möglichen Medien verschafft hat.

Auch in der Slawistik stellt man fest, dass sie sich im Wesentlichen auf die Russistik konzentriert und der russischen Literatur (nicht ohne massive Unterstützung der russischen Regierung) eine zu Unrecht übertriebene Bedeutung zugewiesen hat, was noch spezieller Untersuchungen bedarf. Gleichzeitig wächst das Interesse für ukrainische Literatur und ihre Autoren. Jedenfalls ist die Anzahl der Übersetzer aus dem Ukrainischen sehr gering.

Die Wege der Übersetzung sind nicht immer logisch nachvollziehbar. Übersetzer erhalten Aufträge und fertigen Übersetzungen an. Und nicht immer handelt es sich dabei um bedeutende Werke der nationalen Literatur. Manchmal spielt hier der Zufall mit, manchmal auch eine laute Mode. Und manchmal hat der Übersetzer einfach nicht den Mut, an Texte heranzugehen, die die Seele der Nation ausmachen, deren Herzschlag und Atemluft.

Eine solche Gestalt ist für die Ukrainer Lina Wasyliwna Kostenko – unabhängig, einzigartig und kompromisslos, die sich niemals „von den Knien erheben“ musste, denn unter absolut keinen Lebensumständen hatte sie das Knie gebeugt, obwohl ihre „Seele alle Zustände der Trauer“ erlebt hatte. Ihre Dichtung – das ist „ein unsterblicher Griff nach der Seele.“ Sie schreibt nur über das, was sie wirklich denkt und fühlt – ob es um ihre ersten Gedichtbände „Erdstrahlen“ (1957), „Windmühlen“ (1958), „Herzenswanderung“ (1961) geht, oder auch um die folgenden, von der Zensur bereits zurückgehaltenen „Sternenintegral“ (1963) und „Fürstenberg“ (1972). Das trifft auch auf den Band „An den Ufern des ewigen Flusses“ (1977) zu, der nach sechzehn Jahren eines erzwungenen Schweigens erschien, sowie auf den historischen Roman in Versen“ Marusja Tschuraj“ (1979), aber auch auf ihre Sammlungen „Unwiederholbarkeit“ (1980), „Garten der nichtgeschmolzenen Skulpturen“ (1987), den Gedichtband für Kinder „Fliederkönig“ (1987) und den Band „Ausgewähltes“ (1989).

Lina Kostenko vor Kraftwerksblock in Tschernobyl

Foto: Encyclopedia of Ukraine

Für den Versroman „Marusja Tschuraj“ und den Gedichtband „Unwiederholbarkeit“ erhielt Lina Kostenko den staatlichen Schewtschenko-Preis, 1994 wurde sie für einen Band in italienischer Sprache, „Intarsi“ (Intarsien), mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet. Darauf folgte eine ganze Serie von Preisen und Auszeichnungen. Gedichte werden jedoch nicht um der Preise willen geschrieben. Der Großteil der Dichtung Kostenkos entstand nicht im Einklang mit, sondern im Widerspruch zu den Umständen, dem Geist der Zeit, dem grauen Alltag, der Lüge und dem Hang zum Primitiven. Ihre Worte sind „nicht beschuht“, sie „brennen und stürzen ein, wie Türme.“

1999 erschien in Buchform als Ergebnis einer fast dreißigjährigen Arbeit der Roman in Versen „Berestetschko.“ Darauf folgte der Lyrikband „Hyazinthenmeer“ (2010) und der Roman „Aufzeichnungen eines ukrainischen Verrückten“ (2010), die Sammlungen „Fluss des Heraklith“ (2011), „Madonna der Wegkreuzungen“ (2011) und „Dreihundert Gedichte. Ausgewählte Verse“ (2012). Hinter dieser nüchternen Aufzählung von Titeln verbirgt sich das ganze Leben der Dichterin, ihr „Beitrag zu des Kummers Kapital. Vollständig einbezahlt – ein für alle Mal.“ Das scheint sie aber nicht zu bereuen, auch wenn „der Seele holder Traum das Kunstwerk nicht befördert.“

Lina Kostenko trachtet nie danach, dem Leser zu gefallen, im Gegenteil, sie ist ironisch, spottet über dessen Schwächen: „Weltweit will die Menschheit nur die Wurst“, sie belehrt ihn nicht, aber lässt ihn teilhaben an ihren Lebensprinzipien: „des Menschen Seele zu betrügen, hüte dich“, „den Zensor suche in dir selbst“, „und alles auf der Welt muss man durchstehen.“ Vielleicht findet sie gerade deshalb so großen Anklang beim Leser? Wer aber ist das, Lina Kostenkos Leser? Die Bandbreite ihrer Leserschaft ist groß, von verliebten Teenagern bis zu ergrauten Liebhabern des lyrischen Wortes. Deshalb kommt ihre Dichtung auch dem Gewissen des ukrainischen Volkes gleich, das einen jeden anspricht; es ist die von Hungerkatastrophen, Kriegen und nuklearen Katastrophen gepeinigte und bis heute nicht ausgeheilte Seele der Nation, aber auch jene unbezwingbare skythische Frauengestalt, die alle Schreckensjahre überdauert hat und keinen Kompromiss eingegangen ist.

Um die Ukraine zu verstehen, sollte man die Texte von Lina Kostenko verstehen. Deshalb ist es so wichtig, dass ihre Gedichte in verschiedenen Sprachen erklingen und ihre Leser auch außerhalb der Ukraine finden. Kostenkos Wort ist heute in die verschiedensten Sprachen übersetzt – bulgarisch, deutsch, englisch, estnisch, französisch, italienisch, kroatisch, polnisch, portugiesisch, rumänisch, russisch, schwedisch, serbisch, slowakisch, spanisch, tschechisch ungarisch und weißrussisch. Es wäre schön, wenn die Stimme von Lina Kostenko möglichst gut in alle Sprachen übersetzt wird, weil man durch sie die Ukraine am besten kennenlernt („Aus der Seele in die Seele – das ist die kürzeste Distanz“), ihre komplexe Geschichte und Gegenwart verstehen und ihre Werte und Widersprüche, die Ursachen zahlloser Niederlagen, aber auch ihre unbezwingbare Freiheitsliebe spüren kann.

Lang schon wäre es an der Zeit für Werkausgaben von Lina Kostenko in Fremdsprachen, vor allem in den Sprachen der europäischen Nachbarn der Ukraine. Es ist sehr erfreulich, dass diese Auswahl der Gedichte Kostenkos in deutscher Sprache erschienen ist. Ihr erster Gedichtband in Deutsch, „Grenzsteine des Lebens. Gedichte“ (1998) wurde von Anna-Halja Horbatsch übersetzt und im Brodina-Verlag herausgegeben. Dazu kamen Gedichte in mehreren Anthologien: „Reich mir die steinerne Laute. Ukrainische Lyrik des 20. Jahrhunderts“ (1996), „Stimmen aus Tschernobyl: Eine Anthologie“ (1996), „Die ukrainische Literatur entdecken: Ein deutsch-ukrainisches Lesebuch mit kultur- und literaturhistorischen Prosatexten“ (2001), „Kerben der Zeit: Ukrainische Lyrik der Gegenwart“ (2003), „Alles kann wie in Gebeten sein: Ukrainische Lyrik mit christlichen Motiven“ (2005) immer in der Übersetzung von Anna-Halja Horbatsch.
Der Übersetzer Alois Woldan bietet eine neue Interpretation der Gedichte von Lina Kostenko in deutscher Sprache. Das ist bei weitem nicht seine erste Übersetzung ukrainischer Lyrik (vgl. die von ihm zusammengestellte und übersetzte Anthologie Zweiter Anlauf /Druha sproba, 2004). Seine Übersetzungen von Gedichten Lina Kostenkos finden sich auch in der Anthologie ukrainischer Frauenliteratur „Schwester, leg die Flügel an“! Frauenstimmen aus der Ukraine“ (2019).

Die Lyrik von Lina Kostenko ist auf den ersten Blick betont einfach, aber diese Einfachheit resultiert aus der Perfektionierung vieler poetischer Verfahren – der Lakonizität, mit der Gedanken formuliert werden, dem aphoristischen Stil von deren Wiedergabe, den makellosen Reimen, der semantischen Kondensiertheit eines jeden Wortes, der Vielfalt der Rhythmen. Es gibt hier keine Wörter um des Reimes willen, alles ist natürlich, logisch und nicht überhastet. Der Mensch, der eigentliche Held ihres Schaffens, ist immer auch Teil der Natur, des Universums. Wenn er seine Würde verliert, die innere Harmonie, das Einverständnis mit der Welt um ihn herum, dann geht auch die Welt verloren oder entartet zur „schwarzen atomaren Kerze“ von Tschernobyl, zu „vertrockneten Weiden, ausgebleichten Gräben“ und „toten Bächen.“ Die bewahrende Einstellung zur heimatlichen Erde kommt nicht von selbst; wenn sie nicht von Kindheit an eingepflanzt, von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, dann werden wir auch nicht bemerken, dass wir „verschwinden, wie die Etrusker und Azteken.“