Die Geschichte einer fast 40-jährigen Verlags-Odyssee
von Moshe Kahn
Meine erste Begegnung mit dem monumentalen Roman Horcynus Orca geht auf das Jahr 1975 zurück, dem Jahr seines ersten Erscheinens. Damals lebte ich seit langem in Rom. Als dieser Roman erschien, nahm ich allerdings nur beiläufig wahr, dass die Zeitungen immer wieder Artikel namhafter italienischer Intellektueller jener Zeit über ihn veröffentlichten. So wusste ich zwar, dass es diesen Roman gab, der viel Aufsehen erregte, aber ich kannte ihn nicht.
In all meinen italienischen Jahren verbrachte ich in regelmäßigen Abständen immer wieder einige Tage auf dem Landsitz einer befreundeten Familie, meiner „italienischen“ Familie, oberhalb des Sees von Bracciano. So auch im Frühsommer 1975. Donato Sanminiatelli, mein Freund, war Kunsthistoriker und als solcher ein ausgewiesener Kenner des sienesischen Malers Domenico Beccafumi. Seine zweite große Leidenschaft waren Landschaftsgärten. Das ländliche Anwesen in Hügellage war viele Hektar groß und von einem Maronenwald in ausgreifender Umarmung umschlossen wie ein Amphitheater, dessen weite Öffnung den Blick sanft zum See hinuntergleiten ließ; es bot alle Möglichkeiten, einen Garten der besonderen Art entstehen zu lassen, der am Ende, ab etwa 1965, von dem bedeutenden englischen Landschaftsarchitekten Russell Page entworfen, angelegt und betreut worden ist. Über die Jahre entstand so einer der schönsten und meist beachteten Gärten Italiens, den Donatos Gattin Maria Sanminiatelli-Odescalchi und beider Sohn Andrea bis heute fortgestalten.
Es war daher ganz selbstverständliche Routine, dass Donato und ich uns an den Tagen meiner Aufenthalte dort vormittags im Gewächshaus trafen und Stecklinge von Pflanzen aller Art aus seinem Garten in Blumentöpfe setzten oder sie, sofern sie sich gut entwickelt hatten, umtopften. Bei dieser Arbeit führten wir Gespräche über unsere Entdeckungen oder genauer gesagt über unsere Gewahrwerdungen, und das in der Musik, in der bildenden Kunst, in der Literatur, aber auch in Landschaften und in der Botanik. Was ich an ihm besonders schätzte, war seine lebendige Bildung, seine Brillanz, sein Esprit, die Schärfe seines analytischen Verstands und sein entschiedenes Urteil, wenn er einmal seine Überlegungen zu einer Sache abgeschlossen hatte.
Und so begann er eines Vormittags im späten Frühjahr 1975 während des Ein- und Umtopfens von Stecklingen, mir über viele Tage hinweg im Gewächshaus von seiner neuen Entdeckung zu erzählen, dem Roman Horcynus Orca, den er seit einiger Zeit intensiv las. Eher beiläufig erwähnte er das Grundthema von Heimkehr, Leben, Liebe und Tod als Grundthema dieser modernen Odyssee. Einzelne Episoden, die er erzählte, machten das deutlich. Ihn faszinierte vor allem die Sprache des Romans, von der er sagte, sie sei noch nie vorher so geschrieben worden, eine Sprache von ganz eigener Art und Schönheit, die einem eine Vorstellung davon gebe, wozu das Italienische fähig sei. Diese Vorstellung ließ ihn immer wieder fast bis zur Sprachlosigkeit erstaunen. Und er bestand darauf, dass ich unbedingt einen Blick in das Buch werfen müsse.
Mir fiel sofort die andersartige, nie gehörte Ausdrucksweise der Sätze und der ungewöhnliche Klang der Wörter auf. Schon das Wort Horcynus stach mir ins Auge, eine Abwandlung der zoologischen Benennung Orcinus, um von vornherein deutlich zu machen, dass wir es nicht mit einer realistischen, sondern mit einer mythisch-epischen Meta-Dimension zu tun haben. Das übte eine große Faszination auf mich aus, doch nach fünfzehn Seiten fand ich meine keineswegs geringen Kenntnisse des Italienischen – ich hatte immerhin in den zurückliegenden Jahren die erste umfangreiche Sammlung von Gedichten von Paul Celan zusammengestellt und auf Celans ausdrücklichen Wunsch hin mit Marcella Bagnasco ins Italienische übertragen; diese Sammlung erschien dann im folgenden Jahr, 1976, im selben Verlag wie der Horcynus Orca – ich fand also meine Kenntnisse nicht ausreichend, um das Einmalige und Ungewöhnliche dieser Erzählweise auch nur annähernd erfassen und wertschätzen zu können. Ich erkannte zwar, dass in dieser Prosa mit dem Italienischen etwas geschah, eine Art Verwandlung, aber ich konnte noch nicht sagen, was und wie genau das vor sich ging und in welcher Dimension. Doch die Faszination dieser fremdartigen Prosa hatte ihre tiefe Wirkung auf mich, und ich entschloss mich, das Buch zu kaufen, um es irgendwann einmal mit der Aufmerksamkeit und Gründlichkeit zu lesen, die D’Arrigos Roman forderte, und auch, um mit dem Gedanken umzugehen, es, wer weiß wann, vielleicht einmal ins Deutsche zu übertragen.
In den folgenden Jahren hatten mich mehrere schwere Schicksalsschläge getroffen, und ich fasste den Entschluss, von Rom aufs Land östlich von Rom zu ziehen, an die ersten Ausläufer der Abruzzen, in das überschaubare Leben des Künstlerdorfs Anticoli-Corrado, wo ich, außerhalb des Dorfs, ein großes schlichtes Haus mit einem weiträumigen hohen Maleratelier bewohnte – meine ständige Zuflucht über viele Jahre.
Einer dieser Schicksalsschläge war der Tod Donato Sanminiatellis Anfang 1979. In der Abgeschiedenheit meines Hauses begann ich endlich, den Horcynus Orca zu lesen. Ich tat es unter dem Eindruck, mit diesem Buch, dessen Grundton durchgängig der Tod ist, über dem sich aber die vielen, nahezu unerschöpflichen Facetten des Lebens zeigen, sozusagen das Vermächtnis dieses wichtigen Freundes anzunehmen. Ich las den Horcynus Orca über mehr als zwei Jahre, sehr langsam und das schon Gelesene immer wieder neu lesend, immer wieder nach-lesend. Als ich nach langer Lektüre schließlich ans Ende gelangt war, hatte ich das klare Bewusstsein, hier einen der fünf oder sechs ganz großen, außerordentlichen, nie vergehenden europäischen Romane des 20. Jahrhunderts in Händen zu halten. Und ich habe meine Meinung bis heute nicht geändert.
Das klingt gewagt angesichts der Tatsache, dass dieses Werk bisher, das heißt seit annähernd 40 Jahren nach seinem ersten Erscheinen, in keine fremde Sprache übertragen wurde – abgesehen von dieser jetzt hier vorliegenden Nachgestaltung ins Deutsche. Und beinahe wäre auch diese deutsche Version nicht möglich geworden, weil große Verlage mit italienischem Programm ihn, als ich die Verleger auf ihn aufmerksam machte, aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt hatten. Dabei war die außerordentliche literarische Qualität nicht entscheidend – die kannten sie ja nicht, denn die Lektoren in den Verlagen hatten den Roman nicht vorliegen und daher auch nicht gelesen –, nein, entscheidend war die Tatsache, dass der Autor in Deutschland unbekannt und damit das verlegerische Risiko bei einem so umfangreichen Buch nicht abschätzbar war, oder man verwies einseitig auf die ablehnende Kritik, die, das soll nicht ungesagt bleiben, dieser Roman bei seinem Erscheinen in Italien auch hervorgerufen hatte – wohingegen die begeisterte Aufnahme dieses Romans durch die großen italienischen Geister der damaligen Zeit keine Bedeutung zu haben schien.
In mancher Hinsicht erinnert dieses Schicksal an das des Moby Dick von Herman Melville – ein Roman, den D’Arrigo sehr schätzte und neben Ariost und Dante immer wieder las –, der erst fünfzig Jahre nach seiner Veröffentlichung wirklich berühmt wurde; oder an das der Recherche du temps perdu von Proust, dessen erste vollständige deutsche Übersetzung von Eva Rechel-Mertens auch erst über vierzig Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich für den deutschen Leser zugänglich war; oder an das des Manns ohne Eigenschaften von Robert Musil, der lange brauchte und der Arbeit vieler Entdecker bedurfte, um aus dem übermächtigen Schatten Thomas Manns herauszutreten und die deutsche Romanliteratur zu überstrahlen.
Ich wollte nach beendigter Lektüre den Autor unbedingt kennenlernen, um sicher zu gehen, dass er mir zur Seite stehen würde, wenn ich mich eines Tages an die Übertragung seines monumentalen Romans machen sollte. Der Mondadori Verlag vermittelte mir die Begegnung mit dem Autor, der in einem der neueren Außenbezirke von Rom wohnte. Mit dem Bus machte ich mich an einem Sommernachmittag auf den langen Weg zu unserer Verabredung, vom Stadtzentrum die ganze Via Nomentana hinunter, von der er dann nach links in Richtung Monte Sacro abbog. Von der Haltestelle ging ich dann noch ein paar Schritte zu Fuß in die schattige, von Bäumen bestandene Via dell’Assietta 4, wo D’Arrigos Wohnung lag. Ich drückte den Knopf seiner Hausklingel, fuhr mit dem Aufzug zur dritten Etage, und als ich die Türe des Aufzugs öffnete, stand er vor mir, ein Mann, kleiner als ich, mit weit geöffneten Armen, mit einem von Falten durchfurchten, freundlich lächelnden Gesicht, das mir sofort jede Befangenheit nahm. Und als er mich umarmte, sagte er: „Benvenuto a casa tua.“ [„Willkommen bei dir zu Hause.“] Von da an wuchs zwischen ihm, seiner Frau Jutta und mir eine herzliche Verbundenheit.
Nach dem ersten wenig erfolgreichen Versuch, Verlage für dieses monumentale Werk zu interessieren, dauerte es noch einmal zweiundzwanzig Jahre – inzwischen war D’Arrigo Anfang 1992 verstorben -, bevor es zu der fast schon schicksalhaft zu nennenden Begegnung mit dem Schweizer Verleger Egon Ammann kam, der sich in Ruhe und sehr konzentriert anhörte, was ich ihm über den Horcynus Orca und seinen Autor Stefano D’Arrigo erzählte. Nach einigen Wochen, nach einigen Abklärungen und Überlegungen war er schließlich so überzeugt von allem, dass er sich mutig entschloss, diesen Roman zu seinem Verlagsprojekt zu machen und sich mit mir auf den abenteuerlichen Weg seiner Übertragung ins Deutsche zu wagen.
Wie kommt es aber, dass dieser bedeutende Roman so viel Mühe hat, außerhalb Italiens seinen Verleger und seinen Übersetzer zu finden? Ein Blick auf seine Geschichte lässt die Symptomatik über das Auf und Ab erkennen, das die Entstehung des Romans bei seinem italienischen Verlag Arnoldo Mondadori und dem Piper Verlag in München Mitte der sechziger Jahre erlebte.
Die Geschichte war die: Stefano D’Arrigo schrieb ab 1956 in etwas mehr als einem Jahr einen Roman mit dem Titel La testa del delfino [Der Kopf des Delphins], die Urfassung des späteren Horcynus Orca, gab ihm danach aber noch drei weitere Fassungen. 1958 löste er zwei Episoden von insgesamt 100 Seiten aus dem Gesamtkonvolut heraus und veröffentlichte sie einige Zeit später in der von Elio Vittorini und Italo Calvino herausgegebenen Literaturzeitschrift Il Menabò. Diese Veröffentlichung zog alle Aufmerksamkeit und große Erwartung auf sich. Vittorini empfahl diesen Roman dem Verleger Arnoldo Mondadori, der sich um den Roman und Stefano D’Arrigo sehr bemühte und damit rechnete, das fertige Werk, das inzwischen den Titel I fatti della fera trug [Geschichten um die Fere], bald veröffentlichen zu können. Als 1961 die Fahnen dieser Fassung vorlagen, herrschte allgemein die Vermutung, dass der Roman in Kürze auf dem Büchermarkt erscheinen und das Jahr 1961 das Jahr Stefano D’Arrigos werden würde, und so bot Mondadori die Auslandsrechte bereits international an. Für den deutschsprachigen Raum erwarb der Piper Verlag unter seinem Verleger Klaus Piper diese Rechte, darin bestärkt durch das Urteil des Übersetzers Heinz Riedt.
Bald aber schon sah es so aus, als könnte D’Arrigo die korrigierten Fahnen nicht so schnell wie erwartet an den Verlag zurücksenden, und so versuchte Arnoldo Mondadori, einen schmeichelhaften Köder auszuwerfen, indem er seinem Autor ein monatliches Gehalt aussetzte, damit er ohne größere Sorgen sein Werk bald zum Abschluss bringen könnte, das Epoche zu machen versprach. Er wusste nicht, dass es noch ganze vierzehn Jahre dauern sollte, bis das Buch endlich veröffentlicht werden konnte, und als es dann vorlag, war es ein anderer Roman als der, auf den die italienische Öffentlichkeit und auch die ausländischen Verleger seit Jahren mit Spannung gewartet hatten. Nun hieß der Roman Horcynus Orca. Die in diesen Jahren durchgeführten „Korrekturen“ beließen zwar ganze Passagen, viele Episoden und den Handlungsstrang des ersten Teils nahezu unverändert, doch neue Episoden kamen hinzu, und auch die Textur seiner Prosa war dichter und subtiler, der Erfindungsreichtum seiner Wörter, die aufs feinste ziselierte „Italianisierung“ des Sizilianischen waren von nie gehörter Poesie und Klanglichkeit, die Syntax war ausladender, symphonischer, fast möchte ich sagen: von byzantinischer Opulenz, vor allem in der zweiten Hälfte des Romans. Während man in der alten Version „fünf Seiten brauchte, um von einem Punkt zum anderen zu kommen, waren es jetzt fünfzig Seiten und in einer Episode (kurz vor dem Ende: ein Strudel anstelle eines finalen Rush) sogar mehr als zweihundert“, schreibt Walter Pedullà, der große Kenner des Horcynus Orca und dessen unermüdlicher Vorkämpfer.
Nahezu die gesamte zweite Hälfte ist erst während der Jahre der „Fahnenkorrektur“ entstanden. D’Arrigo und seine Frau Jutta haben mir bei meinen ersten Besuchen erzählt, wie das ausgesehen hat, nämlich nicht unähnlich dem, was wir durch Céleste Albaret, Prousts Haushälterin, von Proust kennen: Wäscheleinen, quer durchs Wohnzimmer gespannt, an denen mit Wäscheklammern befestigt die Fahnen mit ihren an den unteren Rändern angeklebten Ergänzungsseiten herabhingen, gelegentlich bis zu sieben oder acht an der Zahl, „Rollen“ genannt, oder mit Einschüben, die wie Leporellos an die seitlichen Ränder geklebt wurden. Auf diese Weise konnte er immer genau den Verlauf der Handlung nach- oder ablesen.
Als diese letzte Fassung dann mit ihren umfangreichen, förmlich überbordenden Verlängerungen und Einschüben in einem Band von 1257 eng bedruckten Seiten Anfang 1975 veröffentlicht wurde, war die literarische Welt zunächst sprachlos. Und nach der ersten staunenden Stille bildeten sich zwei ungleiche Lager: das eine, das größere und wohl auch überzeugendere, in dem sich Namen wie Pier Paolo Pasolini, Luigi Malerba, Vincenzo Consolo, Primo Levi, Andrea Camilleri, Gianfranco Contini, Claudio Magris, Italo Calvino, Elio Vittorini, später auch George Steiner und viele andere Große versammelten, feierte diesen Roman als Epoche machend, als „1257 Seiten reiner Poesie“, wie Pasolini sagte; das andere Lager, in dem einige im deutschen Sprachraum weniger bekannte Namen vertreten waren, auch wenn so angesehene Persönlichkeiten wie der bedeutende Germanist Cesare Cases oder der Pasolini-Biograph Enzo Siciliano sich unter ihnen fanden, sprach ungünstig, teilweise sogar abwertend und verächtlich über D’Arrigo und seinen Roman … Später entschuldigte sich Enzo Siciliano immerhin persönlich und förmlich bei D’Arrigo für seine früher veröffentlichte unsachliche Kritik und nahm sie nicht in den Band seiner Gesammelten Kritiken auf.
Die ausländischen Verlagshäuser, die Optionsrechte für die Übersetzung dieses Romans erworben hatten, nahmen indessen Abstand, nachdem sie seine „Unlesbarkeit“ und „Unübersetzbarkeit“ konstatiert hatten, und gaben ihre Rechte zurück. Heinz Riedt, der dem Piper Verlag beratend zur Seite stand, empfand den Roman, der auf so fremde Weise italienisch zu sein schien, als unverständlich und machte deutlich, dass dieser Text sich jeder Übersetzung verweigere. Er konnte nicht nachvollziehen, was mit der Sprache, die er aus den sechziger Jahren kannte, jetzt, 1975, geschehen war: sie war weder Dialekt noch Hochsprache; sie war auch kein Gemisch aus beidem. Sie war für ihn einfach nur fremd, schwer oder auch gar nicht verständlich, und damit eben unübersetzbar.
In Wahrheit hatte D’Arrigo über die Jahre seine eigene Sprache geschaffen, um die Geschichte seiner Hauptfigur ‚Ndrja Cambrìa so erzählen zu können, dass sie völlig seiner Wahrheit und seiner Realität entsprach. Diese Sprache entwickelte sich aus langen Sprachtraditionen und Spracheinflüssen: in dieser Kette war das Italienische, wie es am strahlenden Hof von Kaiser Friedrich II. in Palermo zum ersten Mal in der Form von Dichtung hervorgetreten war, das jüngste Glied; die älteren Glieder waren, wenn wir die Reihe zurückverfolgen, das Französische und Normannische, das Arabische, das byzantinische Griechische, das Lateinische, das Griechische der alten Griechen, das Sikulische. Das alles gestaltete sich über annähernd zwei Jahrtausende hinweg allmählich zu den Sprachformen des italienischen Südens. Auch wenn die Entwicklung dieser Formen sich in den verschiedenen Provinzen (Kampanien, Kalabrien, Apulien, Basilikata und Sizilien) unterschiedlich herausbildete, war jede dieser Formen doch vor allem durch mehr als eineinhalb Jahrtausende griechischer Sprachtradition geprägt.
Das alles findet sich auch im Sizilianischen wieder. Zwar klingt diese Sprache als wäre sie mit dem Italienischen eng verwandt, viele Wörter sind gleich oder ähnlich und haben gleiche oder ähnliche Bedeutungen, andere dagegen klingen gleich oder ähnlich, haben aber völlig andere Bedeutungen als im Italienischen. Zur Verdeutlichung dieser letzten Gruppe seien hier nur wenige Beispiele angeführt: „stilare“ bedeutet im Italienischen „aufsetzen“, „abfassen“ – etwa in der Wendung „stilare un contratto„, „einen Vertrag aufsetzen“; im Sizilianischen hat „stilare“ aber eine griechische Färbung, leitet sich von stylos her und bedeutet „etwas (zu tun) pflegen, die Gewohnheit haben“ – wie in der Wendung „stilava alzarsi presto“, „er pflegte früh aufzustehen“. „Spiare“ heißt im Italienischen „spionieren, bespitzeln“, im Sizilianischen dagegen „fragen“. Das Adjektiv „meschino“ bedeutet im Italienischen „kläglich, engstirnig, kleinlich“, im Sizilianischen gibt es das ähnlich klingende „mischino“, das man für eine dialektale Form von „meschino“ halten könnte, doch kommt es aus dem Arabischen und bedeutet „arm, bemitleidenswert“.
Auffälliger sind dagegen die syntaktischen Strukturen. Während sich im Italienischen das Subjekt ziemlich bald sein Prädikat sucht, steht das Prädikat im Sizilianischen in aller Regel am Ende des Hauptsatzes. Dazwischen können sich wahre syntaktische Abenteuer abspielen, wie sie nicht wenige Male auch im Horcynus Orca vorkommen und sich in der hier vorliegenden deutschen Gestaltung des Romans nachgebildet finden. Darin ist das Sizilianische wiederum dem Griechischen enger verwandt als dem Italienischen. Es erinnert an Pindar oder auch die dem Stesichoros zugeschriebene Chorlyrik, mitunter auch an die beiden griechisch gebildeten Horaz und Lukrez: ihr aller Versbau ist kunstvoll verschlungen und bildet sich auf dem Weg der mutigen, schöpferischen Übersetzung sogar im Deutschen ab.
Durch diese Eigentümlichkeit hat das Sizilianische für nicht-sizilianische Ohren durchaus etwas Opernhaftes, wie es in Wortwahl, Zeitform der Verben und Wortstellung in den Libretti der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts vorkommt. Nur dürfen wir dabei nicht außer Acht lassen, dass die Sizilianer das natürlich nicht so empfinden, denn für sie ist es Alltagssprache.
Zu ihr gehört auch die Altertümlichkeit der Anrede von Personen, die noch bis weit in die achtziger Jahre anzutreffen war, nämlich das „Voi“, das „Ihr“ und „Euch“, oder das „Vossìa“ für „Vostra Signorìa“, was eigentlich „Euer Herrschaftlichkeit“ heißt, ich hier aber etwas schlichter mit „werter Herr“ oder gelegentlich mit „hoher Herr“ übersetzt habe, was für moderne deutsche Ohren schon ziemlich pompös klingt, auf Sizilien aber, vor allem bei der einfacheren Bevölkerung, noch heute gelegentlich als respektvolle Anrede anzutreffen ist; dagegen ist es aus der urbanen Sprache Siziliens verschwunden. Hinter solchen Anredeformen stehen natürlich Mentalitäten, und die deuten auf tief verwurzelte Traditionen. Dazu kommt, dass während der Zeit des italienischen Faschismus das damals längst schon übliche moderne „Lei“ für „Sie“ als affektiert verboten und das altmodische „Voi“ als kameradenhaft allgemein verpflichtend war.
Es schien mir wichtig, diese wenigen Elemente zu erwähnen, um verständlich zu machen, aus welchen viel komplexeren Erinnerungen sich D’Arrigos Erzählweise entwickelt, und in welcher Weise die deutsche Übertragung ihr verpflichtet ist. Und doch sind sie nur ein Teil von ihr. Ein anderer Teil dieser Erinnerungen ist natürlich Homers Gestaltung der Odyssee; auch der Joycesche Ulysses, ebenso Melvilles Moby Dick, Dantes Göttliche Komödie und die opulenten, geradezu arabesken Erzählformen, wie sie uns in den häufig mit Binnenreimen in der Prosa ausstaffierten Geschichten von Tausendundeine Nacht begegnen; und nicht zu vergessen: die auf Sizilien verbreitete lange Tradition der Chansons de geste und deren Nachgestaltungen um den großen Kaiser Karl und seinen Paladin Graf Orlando/Roland durch Andrea da Barberino in seinen Reali di Francia und durch Ludovico Ariosto, wie sie uns im sizilianischen Puppentheater begegnen. Das alles in enger Verbindung mit den zeitgenössischen Lebensverhältnissen und Sprechweisen der Fischer, der Pellisquadre D’Arrigos, an der Meerenge von Messina gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, auf beiden Seiten dieser Straße, an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis oder, wie es bei D’Arrigo heißt, sullo scill’e cariddi.
Bei der Nachbildung des monumentalen Horcynus Orca im Deutschen standen mir wegen der vielgestaltigen Elemente der erzählerischen Anlage des Originals keine Vorbilder vor Augen. Ich kenne kein Buch, das in seiner Sprach-, in seiner Klang- und Bilderfülle ähnlich breit gefächert wäre. Daher musste ich eine Herangehensweise für mich entwickeln, die es möglich machen sollte, meine Verpflichtung gegenüber dem Autor und gegenüber seinem Werk einzulösen. Als ich Stefano D’Arrigo Anfang der achtziger Jahre, bald nachdem wir uns kennengelernt hatten, meine Gedanken über einen möglichen Zugang für die Übertragung ins Deutsche erläuterte, waren wir uns schnell einig, dass wir nicht von einer Übersetzung im landläufigen Sinn sprechen wollten. Ich sah meine Arbeit eher als Umgestaltung, als Anverwandlung, als Fährmannstätigkeit zwischen zwei entfernten Ufern. Der Klang, die Satzrhythmen, die alten, mittleren und neuen Sprachebenen des Deutschen verlangten, dass ich mich gelegentlich vom Original entfernen musste, um ähnliche Wirkungen wie im Original hervorzurufen. Damit war D’Arrigo völlig einverstanden. Klangwirkung und Rhythmus spielten für ihn in diesem Roman eine allererste Rolle. Nur müsse ich immer sicher sein, sagte er, dass ich den Gedanken nie verrate.
Den Gedanken habe ich an keiner Stelle verraten. Die Erfordernisse meiner Arbeit machten ein schöpferisches, von Verantwortungsbewusstsein getragenes Nachgestalten notwendig, kein buchhalterisches Umsetzen. Mir kommt der Satz des Fürsten Salina in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Gattopardo in den Sinn: „Wenn wir wollen, das alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles verändern.“ Das war meine Verpflichtung. Dabei waren mir meine sprachlichen Erinnerungen hilfreich, meine sprachlichen Prägungen aus unterschiedlichen Zeiten, die zugleich vergangen und gegenwärtig sind und ein großes, breitgefächertes Instrumentarium darstellen. Vielleicht hat der Leser gelegentlich Jean Paul oder Heinrich von Kleist beim kunstvollen Satzbau in diesem Horcynus Orca am Werk gesehen und einen mitunter eher süddeutschen Gebrauch der Syntax und des Wortbestands beobachtet und ebenso Anflüge von Jiddischem, vielleicht hat er das Wogen verschiedener Odenformen wahrgenommen, den gelegentlich daktylischen oder gelegentlich jambischen Fluss von Satzströmen, den reichen, ganz bewusst eingesetzten Vokalwechsel, um vieles zum Funkeln zu bringen. Hölderlin ist gegenwärtig, über den D’Arrigo 1942 promovierte, seine Lyrik, seine Prosa, ganz sicher auch sein Sophokles, ganz sicher auch Pindar und Paul Celan, Robert Walser und auch Arno Schmidt. Und während der gesamten Arbeit über die acht Jahre von 2006 bis 2014 hat mich immer Gustav Mahlers Musik umgeben, im Ohr, im Kopf, er hat mich bei der Verwandlung des Texts immer wieder aufhorchen lassen und mich dazu gebracht, alles immer wieder neu zu hören.
Aus all dem musste eine Welt entstehen, die archaisch fern und zugleich nahe ist, sich durch Jahrhunderte zieht und zugleich unmittelbar berührbar ist, alte Klänge anschlägt und zugleich eine moderne Vertrautheit vermittelt. Die deutsche Nachgestaltung musste notwendigerweise einen anderen Ton bekommen als das Italienische, was im unterschiedlichen Wesen der beiden Sprachen liegt. Aber der deutsche Ton setzt ebenso auf Fülle und Unverwechselbarkeit wie das italienische Original.
Das Ziel war es, diesen großen Roman auf seinem Weg nach Europa zu begleiten, dorthin, wo er zu Hause ist. Sein Erscheinen im deutschsprachigen Raum ist gewissermaßen nur ein erster Zwischenaufenthalt. Meine Aufgabe war es, sein hilfreicher Gefährte auf diesem Weg zu sein.
Ich danke meinem verehrten Lehrer Arnold Wiebel von Herzen für seinen frühen Rat und seine Fragen bei der Durchsicht der schon vor über dreißig Jahren entstandenen ersten Seiten, und ich erinnere mich voller Dankbarkeit hier gerne auch an seinen Bruder Martin, der damals Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Rom war und mir durch seine Korrekturvorschläge und Beobachtungen half, schon früh eine Orientierung durch dieses Werk zu finden. Unaussprechlich ist mein Dank gegenüber Egon Ammann, der von Anbeginn unserer Bekanntschaft großes Vertrauen in meine Fähigkeiten als „Fährmann“ hatte und dieses Projekt am Ende als Lektor betreut und mitgestaltet hat. Diese Fährmannstätigkeit wäre allerdings so nicht möglich gewesen, wenn ich nicht meinen langjährigen Freund Gianni Galifi in Catania an meiner Seite gehabt hätte und ebenso einen Landsmann von D’Arrigo, den von ihm und mir hochgeschätzten, geduldigen, nimmermüden Stefano Lanuzza in Florenz, einen ausgewiesenen D’Arrigo-Kenner; beide haben mir zu jeder Zeit mit ihrem Wissen und ihrem Rat Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich dem Deutschen Übersetzerfonds, der diese langwierige und umfangreiche Arbeit mit einem Arbeitsstipendium finanziell unterstützt hat. Und schließlich geht mein letzter, stiller, immerwährender Dank hinüber zu Stefano und Jutta D’Arrigo und ebenso zu Donato Sanminiatelli, dessen Andenken ich meine Übersetzung widme, für die tiefe, eindringliche, aufwühlende und leidenschaftliche Bekanntschaft mit diesem großen Werk.
Berlin, im April 2014
Moshe Kahn
Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags.
© Moshe Kahn