Eine Symbiose von Übersetzer und Schriftsteller

von Stefan Moster

Ich hatte den tausendseitigen Roman Im Saal von Alastalo des finnischen Autors Volter Kilpi übersetzt, ein Buch, das in Finnland ein Klassiker, überall sonst auf der Welt jedoch unbekannt ist, weil sich vor mir lediglich ein schwedischer Kollege getraut hat, sich das als extrem schwer zu übersetzen geltende Werk vorzunehmen. Seitenlange Sätze, intensiver Rhythmus, Wortklang und Wortbedeutung nicht zu trennen, extrem individueller Sprachgebrauch mit jeder Menge Neologismen, dazu dialektales Vokabular und detaillierte Terminologie aus Landwirtschaft, Fischerei und Seefahrt, alles vorgetragen mit den modernen Mitteln des inneren Monologs und des stream of consciousness, alles in einem unverwechselbaren Ton. Ein großartiges, abgefahrenes, aber auch liebenswertes und witziges Buch, das innerhalb von sechs Stunden und in einem einzigen Raum spielt und dabei doch Wesentliches über den Menschen sagt, vor allem aber verdeutlicht, welche Bedeutung die Sprache für uns hat.

Neun Jahre lang hatte der Autor an diesem Epos gearbeitet, in der Absicht, in einer Schilderung über seine Heimat, die Welt der südwestfinnischen Schären, die universal gültige „kosmische Dichte des Lebens“ einzufangen, bis es 1933 erschien und sich zwischen die großen Eintagesromane der Moderne einreihte. Ich hatte mich immerhin drei Jahre damit befasst, bis die Übersetzung in gedruckter Form vorlag (Hamburg: mareverlag 2021), und war von der Aufgabe so in Anspruch genommen worden, dass an die Ausübung meines zweiten Berufs, den des Schriftstellers, gar nicht zu denken gewesen wäre. Trotzdem fragte mich ausgerechnet im Zusammenhang mit der größten Herausforderung, die ich als Übersetzer je zu bewältigen hatte, ein Journalist in einem Interview, welche Bedeutung die Arbeit mit Volter Kilpis Schreibweise für meine Tätigkeit als Schriftsteller habe. Er dachte wohl, es könne nicht ohne Folgen bleiben, wenn ein so intensives und einzigartiges Spracherlebnis durch einen hindurchgegangen ist.

Wenn ich über das Verhältnis von Schreiben und Übersetzen nachdenken, begebe ich mich auf sehr persönliches Terrain. Als junger Mensch wollte ich Schriftsteller werden, wagte es aber nicht, weil es mir zu anmaßend erschien. Es widersprach dem Demutsgebot, mit dem ich aufgewachsen war. Also wurde ich Übersetzer, konnte meine Ganztagsarbeitskraft somit der Literatur widmen, aber in der dienenden Rolle bleiben, sozusagen ohne Anmaßung sprachschöpferisch tätig sein. Meine ersten Übersetzungen fertigte ich 1993 an, meine erste Übersetzung in Buchform erschien 1995, seitdem sind ca. 120 Bücher und Theaterstücke und zahllose Gedichte, Erzählungen, Essays, Liedtexte und wer weiß was noch alles in meiner Übersetzung erschienen, allesamt aus dem Finnischen. Ich bin ein erfahrener Übersetzer und mit meinem Beruf einverstanden.

Im Jahr 2001 zog ich nach Finnland. Nach einigen Jahren beschlich mich dort die Angst, mein Deutsch, mein wichtigstes Arbeitsinstrument, könne in der finnischsprachigen Umgebung Schaden nehmen. Dann wäre ich kein guter Übersetzer mehr und könnte womöglich nicht mehr genug zum Familieneinkommen beitragen. Natürlich bemühte ich mich, meine Muttersprache durch vielfältige Lektüre geschmeidig zu halten, aber ich spürte, dass dies eventuell nicht reichen könnte. Da kam ich auf die Idee, es mit dem Schreiben zu versuchen. Immerhin hatte ich 1999 und 2000 meine Skrupel schon einmal überwunden und ein paar kleine Sachen in der Zeitschrift ndl veröffentlicht (sie sei hier in memoriam erwähnt). Außerdem hatte ich inzwischen gelernt, dass es nichts mit Größenwahn zu tun haben muss, wenn man seiner Neigung und Begabung folgt. Trotzdem fiel es mir leichter, ernsthaft mit dem Schreiben anzufangen, weil es damit rechtfertigen konnte, es im Dienste des Übersetzens zu tun. Ich fing an, deutsche Romane zu schreiben, damit ich in der Lage blieb, finnische Romane ins Deutsche zu übersetzen.

Auch wenn das Motiv ein vorgeschobenes oder gar fragwürdiges gewesen sein mag, bin ich glücklich, mit dem Schreiben angefangen zu haben. Allerdings tat sich dadurch ein neues Problem auf, nämlich das der Aufteilung von Zeit und Kraft. Man kann nicht beides gleichzeitig tun. Wie also setzt man Prioritäten, wann tut man was? Hat man überhaupt die Chance, das selbst zu entscheiden, oder ist man gezwungen, sich an Anforderungen von außen und der Auftragslage zu orientieren? Kann man vormittags die Sprache für einen eigenen Roman zu finden versuchen und nachmittags der Sprache eines Kollegen oder einer Kollegin aus Finnland gerecht werden? Hat man nach einem Vormittag intensiven Übersetzens nachmittags noch die Muße, seinen eigenen Versponnenheiten nachzuhängen? Allein die unterschiedliche Dynamik beider Tätigkeiten scheint der Vereinbarkeit im Weg zu stehen, also die Tatsache, dass zum Übersetzen der Termindruck gehört, wohingegen ein literarischer Text Zeit und Raum benötigt, um Ton und Gestalt zu finden.

Der Modus des Übersetzens ist ein anderer als der Modus des Schreibens.

Es handelt sich um sehr unterschiedliche Tätigkeiten, auch wenn sie sich von außen betrachtet zu ähneln scheinen. Womöglich liegt hierin der Grund, warum es alles in allem relativ wenige Menschen gibt, die sowohl das Schreiben als auch das Übersetzen professionell ausüben. Es gibt sie, manche Kolleg:innen sind sogar ziemlich namhaft, aber viele sind wir nicht. Über die Gründe dafür ließe sich trefflich spekulieren, worauf ich hier allerdings verzichten möchte. Stattdessen stelle ich nur fest, dass man, wenn man beide Tätigkeiten ausübt, ihre Verschiedenheit am eigenen Leib spürt, und zwar buchstäblich. Mein Körper jedenfalls fühlt sich nach einem Tag des Übersetzens anders an als nach einem Tag des Schreibens. In beiden Fällen bin ich müde, aber der müde Übersetzer gleicht einem Schlepper, der alles gegeben hat, um große Frachter sich in den Hafen zu bringen, während der müde Schriftsteller eher an ein Segelboot erinnert, das mit schlaffem Segel vor sich hin dümpelt.

Es stimmt schon: Beim Schreiben verzweifle ich leichter und stelle jeden zweiten Tag mein Existenzrecht in Frage, trotzdem scheint mich die Arbeit des Schreibens physisch nicht so anzustrengen an wie die des Übersetzens. Das Übersetzen beansprucht die Physis mehr, das Schreiben fordert die Psyche mehr heraus. So könnte man die Tendenz beschreiben, ohne dass damit die ganze Wahrheit ausgesprochen wäre, denn auch nach Abschluss eines eigenen Manuskripts meldet sich enormes Schlaf- und Erholungsbedürfnis, und ohne mentale Anforderung geht auch das Übersetzen nicht vonstatten. Zwar halten sich dabei die Selbstzweifel in Grenzen, weil ich weiß, dass ich es kann und dass es gut wird, wenn ich mir Mühe gebe und seriös arbeite, aber die Verantwortung, die Autor:innen, die ich übersetze, sorgt für eine untergründige Spannung, die nicht zu unterschätzen ist. Erst recht nicht, wenn man selbst Autor und schon übersetzt worden ist, also genau weiß, wie viel von der Übersetzerin oder dem Übersetzer abhängt, und was es für einen Unterschied macht, ob eine Übersetzung gelungen ist oder nicht.

Volter Kilpi

Trotzdem: Beim Schreiben kann es zu Blockaden kommen, wohingegen es das Phänomen translator’s block nicht gibt, jedenfalls nicht für mich. Übersetzen kann ich immer, unabhängig von allen Stimmungslagen und Verfassungen. Ich setze mich morgens hin und arbeite so lange, bis ich mein Tagespensum geschafft habe. Nicht immer läuft es wie am Schnürchen, es tauchen Probleme auf, klar, eine Übersetzung wie die von Volter Kilpis Im Saal von Alastalo scheint gar nur aus schwer lösbaren Problemen zu bestehen, aber ganz gleich wie schwierig es im einzelnen Fall sein mag, hat man beim Übersetzen doch immer die Orientierung am Augsgangstext und treibt somit nicht mutterseelenallein auf hoher See.

Das Schreiben hingegen gleicht oft dem Segeln ohne Kompass. Und zwar bei dichtem Nebel. Der Übersetzer missinterpretiert dies gelegentlich als Freiheit und beneidet den Schriftsteller darum. Im Gegenzug schielt der Schriftsteller neidisch auf die Honorare des Übersetzers. Zwar weiß auch er, dass literarische Übersetzungen nicht gerade übermäßig gut honoriert werden, aber er sieht die Tatsache, dass sie überhaupt honoriert werden. Was aus Übersetzersicht ungünstig aussieht, nimmt sich aus Schriftstellerperspektive fast schon attraktiv aus. Meistens ist der Schriftsteller dem Übersetzer daher dankbar dafür, dass er ihn ernährt.

Wofür aber hat der Übersetzer dem Schriftsteller zu danken?

Am ehesten vielleicht dafür, dass ihm die Wertschätzung für die literarische Leistung der zu übersetzenden Autor:innen nicht verloren geht, die Anerkennung ihrer Individualität, das Gefühl für den individuellen Ausdrucks- und Stilwillen.

Alles in allem hat der Schriftsteller jedoch wohl mehr Anlass, dem Übersetzer dankbar zu sein, denn wer übersetzt, lernt, welche Folgen Sätze haben und kann dies berücksichtigen, wenn er eigene Texte schreibt. Wer übersetzt spürt unterschiedliche literarische Strategien am eigenen Leib, weil sie im Übersetzungsvorgang durch ihn oder sie hindurchgehen. Man schmeckt den fremden Sprachgebrauch im Mund, man redet als Übersetzer:in in Zungen und wird Expert:in in Sachen Vielstimmigkeit.

Ich stelle fest, dass ich mich als Schriftsteller traue, in meinen Manuskripten unterschiedliche Stimmen erklingen zu lassen, weil ich als Übersetzer schon so viele verschiedene literarische Stimmen ins Deutsche übertragen habe – auch solche, die in sich wieder mehrstimmig sind. Hätte ich nicht mehrere Romane von Hannu Raittila übersetzt gehabt, in denen immer mehrere Erzähler mit je eigener Sprechweise auftreten, hätte ich wohl nicht den Mut aufgebracht, schon in meinem ersten Roman zwei unterschiedliche Erzählstimmen zu Wort kommen zu lassen.

Aber wie lautete noch die Frage des Journalisten? Er wollte wissen, welche Bedeutung die Arbeit mit Volter Kilpis extremer Schreibweise für meine Tätigkeit als Schriftsteller habe.

Volter Kilpi schrieb die längsten Sätze, die je ein Mensch in finnischer Sprache verfasst hat, er verfügte über ein unfassbar reiches Vokabular, er war ein Sprachneuschöpfer erster Güte, dessen Neologismen so einleuchtend wirken, als hätte sie es schon immer gegeben, sein sprachlicher Reichtum ist so groß, dass man beim Lesen immer wieder in Begeisterung darüber ausbricht, zu der Spezies zu gehören, die über das Privileg der Sprache verfügt. Man könnte also meinen, ein Schriftsteller, der so etwas übersetzt, müsse unbedingt profitieren. Aber hat sich mein Wortschatz seit der Übersetzung tatsächlich erweitert? Während ich das Buch übersetzte, musste er zwangsläufig schlagartig wachsen, eben um dem Originaltext gerecht zu werden, aber ich vermag nicht zu sagen, wie viel mir von dem, was mich während des Übersetzungsprozesses bereicherte, geblieben ist.

Auf keinen Fall geblieben ist mir Volter Kilpis literarische Sprechweise. Ich schreibe weiterhin nicht wie er. Zwar könnte ich ihn jetzt vermutlich imitieren, wenn ich es wollte, aber ich will nicht, denn ich will nicht wie Kilpi schreiben, sondern wie ich. Muss ich die Frage des Journalisten also mit der Feststellung beantworten, dass die Übersetzung des Werks von Volter Kilpi keine Auswirkung auf mich als Schriftsteller gehabt hat?

Nein, das muss ich nicht, denn mir ist schon in dem Augenblick, in dem mir die Frage gestellt wurde, klar gewesen, dass diese exzeptionelle Übersetzungsarbeit von Bedeutung für mein Schreiben ist, auch wenn diese nicht in konkreten literarischen Formen abzulesen sind. Die Bedeutung besteht darin, dass mich die Auseinandersetzung mit dem individuellen Sprachgebrauch und eigenwilligen literarischen Denken des großen Finnen ermutigt, als Schriftsteller auch meinerseits mein Ding zu machen, ohne nach links und rechts zu schauen, ohne auf Moden, Trends oder vermeintliche Erwartungshorizonte zu schielen.

Ermutigung zum Eigensinn – mehr kann der eine Schriftsteller dem anderen nicht geben. Dafür kann es sich durchaus lohnen, tausend Seiten zu übersetzen.