Der Alltag des Dazwischenseins

von Anne Weber

Es gibt eine Sprache, die man nicht findet, und die man auch nicht sucht, sondern die man einatmet, sobald man auf die Welt kommt, die man trinkt und ißt. Diese Babynahrung nimmt man unwillkürlich auf, man öffnet den Schnabel und schluckt herunter ohne nachzudenken. Weist uns die Muttersprache einen Platz zu, womöglich « unseren » Platz auf der Welt ?

Tatsächlich weist sie uns einen Platz in einer Gemeinschaft zu, oder wenigstens in einer Gruppe von Menschen, die alle an der gleichen Brust genährt wurden. Wir können noch so laut protestieren und mit all diesen Leuten nichts gemein haben wollen, wir sind ihnen vereint über ein Band, das stärker ist als Blut. Dieselbe Sprache sprechen bedeutet, dieselbe Welt bewohnen, in demselben Territorium gefangen sein, denn die Sprachen, legte man sie übereinander, überschnitten sich nur an einigen Stellen. Wer seine eigene, seine Muttersprache spricht, hat nicht nur andere Worte als ein Fremder, um dieselben Dinge zu benennen, er hat auch andere Dinge zu benennen. Der Platz, den uns die Muttersprache zuweist, ist ziemlich genau abgesteckt. Indem wir sie in uns aufnehmen, sperren wir uns darin ein ; von nun an werden wir die Welt durch sie hindurch betrachten, sie wird zu einem festen Bestandteil unserer selbst, zu einer zweiten Haut werden. Versuchen Sie nur einmal, Ihre Muttersprache loszuwerden ! Ebenso gut könnten Sie sich ein Bein ausreißen wollen.

Aber nicht nur unseren Zeitgenossen gegenüber haben wir einen Platz einzunehmen. Aus ihrer Nacht, aus der belebten Nacht der Bücher heraus sprechen die Dichter zu uns, die in unserer Sprache geschrieben haben. An uns wenden sie sich, an uns, die wir allein imstande sind, sie zu hören, denn die Legierung, die aus ihrer Feder fließt, ist einzigartig, Sinn und Klang sind darin verschmolzen, und jeder Übersetzungsversuch stößt sich an der Unmöglichkeit, die verschiedenen Komponenten dieser glühenden Lava voneinander zu trennen.

Sie allein sind es, die lebendigen und toten Dichter unserer Sprache, die uns zu verstehen geben, die uns erahnen, erspüren lassen, was Dichtung ist, was sie sein kann. Uns haben sie ihr Werk vermacht, uns haben sie es bestimmt, und was immer wir auch tun mögen, wir, die wir unsererseits Worte aneinanderzufügen versuchen, sie werden immer hinter uns stehen, ein Volk von Lebenden und Toten, das uns bald stützt, bald erdrückt — das uns im Blick hat.

Frau mit langen braunen Haaren sitzt am Podium und schreibt auf ein Blatt Papier

Anne Weber

Foto: Georg Pöhlein

Daneben gibt es die Sprache, die man sucht, und die man mit viel Mühe und Beharrlichkeit auch findet, die « Fremdsprache ». Diese ist zunächst nur Musik, sie singt, pfeift, rollt, hackt, klackt, zischt, ohne es trotz aller Bemühungen zu schaffen, den geringsten Sinn zu produzieren. Je mehr es ihr gelingt, etwas wie eine Botschaft zu übermitteln, den Worten einen Sinn aufzupacken, umso mehr verliert sie an Musik. Wir sind dann derart damit beschäftigt, zu erfassen, was sie uns zu sagen hat, daß wir sie nicht mehr hören können.

Das Französische ist die Sprache, die ich gesucht und ersehnt habe, und die sich mir immer wieder entzogen hat. Jedesmal, wenn ich sie zu halten glaubte, hat sie mir zu verstehen gegeben, daß ich ein Parvenü bin, der sie nie wird handhaben können, wie sie es verdient, und wie es nur einem geborenen Franzosen gelingt. Mit meinen grobschlächtigen germanischen Stiefeln zertrampele ich die wie mit der Schnur gezogenen Blumenbeete ihres französischen Gartens. « Aber Sie sprechen besser als viele Franzosen ! » sagt man freundlich zu mir, um mich zu trösten. Ich weiß das. Aber nichts davon ist für mich selbstverständlich oder gar natürlich, nichts kommt mir über die Lippen aus Reflex oder Instinkt. Das Französische und ich, das sind zwei getrennte Wesen, und es gibt keine Hoffnung auf eine späte Verschmelzung. Ich brauche mich bloß für eine Weile zu entfernen, um nicht ohne Bitterkeit zu merken, wie wenig ernst es dieser Sprache mit mir ist : kaum habe ich ihr den Rücken gekehrt, läßt sie mich fallen. Weit davon entfernt, wie eine zweite Haut an mir zu kleben, hängt sie als ein Produkt der Haute Couture an mir, als ein nicht auf meine Maße zugeschnittener Mantel, der viel zu elegant und zu groß für mich ist, und mir bei jeder Bewegung von den Schultern rutscht.

Wenn ich an meine ersten Schreibschritte denke — in meiner deutschen Muttersprache —, so ist mir, als hätte ich das Papier direkt mit meiner Hand geschwärzt, ohne die Hilfe eines Bleistifts oder Füllfederhalters, als seien die Worte mir aus den Fingerspitzen geflossen. Dabei wollten sie nicht zum Vorschein kommen ; ich entsinne mich, lange auf sie gewartet zu haben. Aber wenn sie dann kamen, konnte ich sie nicht von außen betrachten, oder nur, wie einem manchmal die eigenen Knie oder Arme ins Blickfeld geraten. Später, als ich nach dem Umweg über das Französische wieder zum Deutschen zurückkehrte, waren zwei verschiedene Wesen aus uns geworden. Die Entfernung zwischen meiner Muttersprache und mir mag nur einen oder zwei Millimeter betragen, so daß wir von weitem immer noch wie ein einziges Geschöpf wirken mögen, aber ich, die ich uns vorher gekannt habe, weiß es besser.

Der Platz, an dem ich stehe, ist unsicher, er ist in einem Dazwischen angesiedelt, und dieses Dazwischen — zwischen zwei Sprachen, zwischen zwei Stühlen, zwischen zwei Literaturen, zwischen zwei Geschichten — ist mir recht. Ich bin mir bewußt, weder der einen noch der anderen Welt ganz anzugehören, mich nirgendwo zu Hause zu fühlen. Es ist der Platz, von dem aus mir das Schreiben möglich ist.