Über die Arbeit an Mark Z. Danielewskis „Only Revolutions

von Gerhard Falkner

Die wirklich gelungenen Übersetzungen sehr schwieriger Bücher dürfen nicht mehr den Schweiß zeigen, den sie gekostet haben. Er muss sich unter den gestrengen Augen der Vorlage verflüchtigt haben.

Für den oder in diesem Falle die Übersetzer ist das bedrückend, weil die Tortur unbezeugt bleibt, die zu diesem Ergebnis geführt hat. Die Übersetzung von Mark Danielewskis Only Revolutions, in deren Schwierigkeiten ich hier ein paar Einblicke geben möchte, verhält sich zu einer „normalen“ Übersetzung wie Extremsport, etwa Freeclimbing, Rotpunkt oder Deep Water Soloing zur Bergwanderung. Ich habe die kleine, leise Hölle, die ich ebenso wie Nora Matocza in dieser Übersetzung durchwandert habe, über zwei Jahre hinweg meinen Übersetzungs-Gulag genannt. Meine Frau hat gemeinhin nicht so gefällige Ausdrücke dafür verwendet. Für diese lange Zeit wurden alle meine und gelegentlich auch unsere gemeinsamen Aufenthaltsorte zu Straflagern und Verbannungsorten, in der Schweiz erfrischenderweise sogar mit Gipfelblick.

Jener berühmte Schmetterling, der Henri Charrière als „Papillon“ in der Strafkolonie von Französisch-Guayana zum Heldenabzeichen geriet, schlug als Tattoo seine Flügel in meinem Gehirn auf, – und er prangt da noch immer. Den Vergleich mit Kafkas berühmtem, aber viel düstererem Beispiel einer solchen Kolonie, wo der Bezug zu Schrift und Folter auch näher läge, scheue ich nur wegen des exemplarischen Vorwurfs, der Kafka bei Erscheinen seiner Erzählung gemacht wurde: er wäre ein „Lüstling des Entsetzens“.

Einen solchen Vorwurf möchte ich natürlich nicht riskieren.

Für Personen, die das Buch auf allen neun Kreisen betreten und durchlesen möchten, also einigermaßen „diskursvertraut“ sind, habe ich den ausführlichen Essay: „Mon Dieuleuze! Translating Danielewskis Only Revolutions für gehobene, meta-inhaltliche Kreise“ geschrieben, der in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift Schreibheft erscheinen wird. Für die Menschen, die in ihrem Leben nicht die Zeit oder den Nerv hatten, tiefer in den sogenannten Diskurs einzudringen, weil die Vita activa und die Zerstreuung an der Kommunikationsfront ein zu erdrückendes, aber natürlich auch viel „lohnenderes“ Gewicht in ihrem Leben besitzt, möchte ich einige der Schwierigkeiten kurz erklären, ohne auf ihre Multiplikationen durch poststrukturalistische Prozeduren einzugehen.

Weißhaariger Mann mit Brille sitzt auf dem Podium

Gerhard Falkner auf dem Podium beim Poetenfest 2012

Foto: Erich Malter

Vorweg gesagt, das Buch ist ein Zwei-Kolumnen-Text, der eben nicht zufällig an Zettels Traum erinnert, sondern eine Verbeugung vor Arno Schmidt darstellt, ebenso wie die große Initiale S, die ganzseitig in gleicher Typografie dem Ulysses in der Everyman’s Library vorangestellt ist und das Buch auf der Seite von Sam einleitet, die Verbeugung vor Joyce signalisiert.

Auf der Seite von Sam heißt in diesem Falle, dass es auch eine andere Seite gibt, nämlich die von Hailey, und man daher nicht weiß, was hinten und vorne ist, denn das Geheimnis dieses Buches ist der Kreis. Der Kreis, und alles was man mit ihm machen kann: ihn teilen, drehen oder sich in ihm im Kreis bewegen. Die „revolutionibus“ beziehen sich daher nicht auf politische Umwälzungen, sondern im kopernikanischen Sinne auf die Umschwünge, wie sie Himmelskörper vollführen. Planetenbahnen. Glücks- und Feuerräder.

Hiermit kennen wir die gesuchte Umgebung und den gewünschten Wirkungskreis.

Und da es in diesem Buch angeblich um Autofahren stellvertretend für Mobilität, Geschlechtsverkehr und stepptanzende Swing-, Pop- und Punk-Teenager geht, gibt es zu der Autobahn, auf der Sam und Hailey troubatourend dahinbrettern, auch einen Seitenstreifen, eine von 1863 bis 2063 reichende Zeitleiste, von MZD Chronomosaik genannt, die enorme Mengen an Information verschlungen hat und sie in stark reduzierter und fast mit allen Mitteln verbergender Technik nicht wiedergibt, sondern widergibt.

Damit erfüllt Danielewski, nicht zu verwechseln mit Dostojewski, denn das Spiel der Verwechslungen gilt nur im postmodernen Binnengelände, er erfüllt also, wie sein Vorbild Arno Schmidt ebenfalls mit Zettelkästen arbeitend, dessen Anspruch auf universale Komplexität ebenso wie Ezra Pounds Forderung: Moderne Literatur hätte eine bis an seine Grenze mit Bedeutung geladene Sprache zu sein. Ich persönlich stehe heute beiden Positionen skeptisch gegenüber, obgleich ich ihnen früher mal sehr zugetan war.

Durch Arno Schmidt vorgewarnt habe ich von Anfang an darauf bestanden, eine von mir so genannte „fette Fassung“ dieses Seitenstreifens zu erstellen, die dann in einer abschließenden „schlanken Fassung“ dem Original wieder angeglichen werden sollte. Nach einigen Monaten Arbeit war klar, dass die Recherche durch eine einzige Person nicht zu bewältigen war, denn es ist ein zermürbender Unterschied, ob man im Internet etwas sucht, was man braucht, oder etwas, von dem man nichts weiß, außer dass es verwendet wurde.

Will ich 1900 ein Pferd in die Welt setzen, kann ich mir in fünf Minuten auf einer entsprechenden Timeline eines suchen und es ausstatten mit allen Begleiterscheinungen seiner Siege und zeitgleichen Ereignisse, suche ich nach einem „in die Welt gesetzten“, also verwendeten Pferd, zu dem alle Zugänge kryptisch sind, wird das zu einer Gleichung mit drei Unbekannten und kann Stunden in Anspruch nehmen.

Für sechs Monate arbeitete ich mit zwei Assistenten, die ausschließlich mit der Recherche der verwendeten Daten befasst waren. Am Schluss hatte ich von meinem Assistenten Constantin Lieb 580 Normseiten Zeitleiste Sam, von meiner Assistentin Caitlin Hahn 280 Seiten, von mir selbst 360 Seiten. Also gute 1200 Seiten Datei „fette Fassung“, die ich Wort für Wort zweimal durcharbeitete, nachrecherchierte und korrigierte, bis sie schlussendlich an meine Frau ging, die sie wieder auf Danielewskisches Originalformat herunterarbeitete.

Ich verwende hier ein fingiertes Beispiel für die Darstellung eines Bruchteils der Schwierigkeiten, die uns bis ans Kinn reichten, und sobald wir uns nach ihrer Lösung streckten, um den Sinn zu pflücken, wirbelte ihn ein Sturm von gegensätzlichen Bedeutungen empor zu den schattigen Wolken und sobald wir uns nach ihnen bückten, um die Zunge zu kühlen, schwand der in Mehrdeutigkeit versiegende Sinn dahin. Wie bekannt waren das die Qualen, die Tantalos zu ertragen hatte. Nehmen wir als Beispiel das Jahr 1900 und bleiben wir beim Pferd. Da steht dann kursiv am Anfang der Leiste: … for a horse. Der kursiven Schreibweise entnehmen wir, dass es sich (vermutlich) um ein Zitat handelt. Da wir bereits vertraut sind mit einer Fülle von Verbergungsstrategien des Autors wissen wir, dass die Fragmentierung von Zitaten, oder deren Unkenntlichmachung durch Vermeidung von Eindeutigkeit, häufig angewandt wird. Also liegt Shakespeare’s: „A kingdom for a Horse“ aus Richard III in räsonabler Nähe.

Wer weiß?

In der zweiten Zeile steht dann: 451 Soldaten. Gibt man 451 Soldaten bei Google ein, kommen 12 Millionen Einträge. Der letzte aus dem Jahre 2011, wo bei 451 Soldaten der Bundeswehr eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt wurde. Verbindet man die 451 Soldaten mit dem Jahr 1900, kommen verstärkt Hinweise auf den Boxeraufstand in China, aber zum Beispiel auch auf die 451 ertrunkenen Soldaten bei einer der großen Schiffsversenkungen, die unserer scheinbar unmilitanteren Welt in Vergessenheit gerieten. Die nächste Zeile: Diplomaten, Missionare, chinesische Christen (500.000 Einträge) unterstreicht die Wahrscheinlichkeit, dass es um den Boxeraufstand geht, also liest man sich wieder ein bisschen ein in die damaligen Geschehnisse und verfolgt entsprechende Links. Das kann sehr oft fast so viel Zeit wie Nerven kosten.

Jede Recherche eines Begriffs, die nach zwei Stunden zu keinem brauchbaren Ergebnis führte, wurde daher abgebrochen. Auf mancher Seite gab es bis zu sechs bis acht anschließend rot markierter Begriffe, die (vorläufig) aufgegeben wurden, 12 Stunden Arbeit nebenbei und nur auf dem „Seitenstreifen“ einer einzigen Seite in einem einzigen Korrekturdurchgang. Das nächste Wort heißt dann vielleicht: Sultan (170 Millionen Einträge). Irgendeiner von diesen führt zu Sultan Abdul Hamid II., der für den deutschen Kaiser Wilhelm II. bei den Chinesischen Muslimen interveniert, die den deutschen Truppen in China während der Bekämpfung des Boxeraufstands heftig zu schaffen machen. Aber wo bleibt das Pferd oder wo bleibt Shakespeare?

Vorläufig ungelöst ist man einige Seiten später siebzehn Jahre weiter. Im Jahre 1917. Dann steht da an einer Stelle nur Omar Khayyam, über neun Millionen Einträge. Nach 25 Minuten Recherche stößt man zufällig auf den Link: Gewinner des Kentucky Derby. Mit dem Gewinner des Derbys ist immer das Pferd gemeint, nie der Jockey. Man geht zu den Ergebnislisten des Kentucky Derby und entdeckt ebenso zufällig siebzehn Spalten über Omar Khayyam, dass der Gewinner des Derby’s 1900 der dreijährige Vollblüter Sultan war. Man recherchiert anschließend den Hengst Sultan und findet heraus, dass das Pferd aus dem Gestüt des ägyptischen Königs Fuad kommt, der bis 1922 ägyptischer Sultan war, und ab dann ägyptischer König. Ein Königreich für ein Pferd ist gefunden.

Die vertikale Zeitleiste des Kentucky Derby gehört mit den Zeitleisten der so genannten Major League, also der Amerikanischen Baseball-Liga und des Americas Cup, der vielleicht berühmtesten Regatta der Welt, zusammen mit den Zeitleisten und Daten zum Amerikanischen Bürgerkrieg zu den am häufigsten besuchten und benutzten Quellen Danielewskis. Nicht nur interessant, sondern auch eine wesentliche Grundlage des Buches konstituierend ist die Tatsache, dass alle diese „Amerikanischen Institutionen“ an den Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen, wo der eigentliche gewaltige Aufschwung der Grand Nation begann und dieses „Heil Amerika“ begründet, das als die versteckte Botschaft, wie ich später zeigen werde, von Hailey und Sam besungen wird. Sie gehören zusammen mit der Sklavenbefreiung und den Amendments zu den Grundmythen des modernen Amerika.

Soweit zum Seitenstreifen, und jetzt zur Autobahn und zur Übersetzung in Pfahlbauweise.

Only Revolutions wurde vom amerikanischen Verleger als Road-Novel angepriesen. Das wurde vom deutschen Verlag Klett-Cotta ebenso wie von vielen Kritikern als vermeintlich „sichere“ Leitplanke übernommen.

Es handelt sich dabei aber um eine Falschmeldung!

Ganz abgesehen davon, dass es sich um keine Novel, also um keinen Roman handelt, ist auch die Road nicht mit dem zu verwechseln, was die Literatur (besonders der Beats) oder der Autofahrer sonst darunter verstehen. Das Buch funktioniert eher wie ein textueller, transnarrativer Rotationsroman für das, was Paul Virilio mit dem Begriff: Rasender Stillstand bezeichnet hat oder als textliche Auskleidung eines weiteren postmodernen Fundamentalbegriffs: dem der „Verjetztzeitlichung“! Die Straße ist da, allein ihr fehlt der Weg. Sie ist in sich schwingende Hypermotorik, aber keine Bewegung, die sich durch den Verbrauch von Zeit für das Zurücklegen von Weg definieren lässt.

Als ich vor einem Jahr während der Danielewski Konferenz an der LMU in München meine Ansicht vertrat, es handle sich bei Only Revolutions um
zwei mal dreihundertsechzig gegeneinander rotierende, negativ gespiegelte Cantos, stieß ich auf die überlegene Skepsis der dort versammelten Poststrukturalisten, die für außerschulische Anwandlungen wenig Verständnis aufbringen und vor allem Fragen des Inhalts mit Verachtung entgegentreten. Aber gerade durch diesen von Sam und Hailey gesungenen und getanzten Liederkranz der Cantos, vorgetragen in einer Tonlage zwischen Hip-Hop, Rap und vorsichtig ornamentierter surrealistischer Metapher, erreicht Danielewski sein Ziel, den Leser tranceartig im Dunklen tappen zu lassen.

Gäbe es einen Roman, im Sinne einer entwickelten und am Subjekt fixierbaren Erzählung, egal wie experimentell auch immer, ließe sich mit dem Mittel der „assoziativen Stringenz“, die selbst im Finnegans Wake noch zur Erschließung von Sinn einsetzbar ist, in einer Übersetzung immer noch leichter vorwärts kommen als bei dieser. Danielewskis Only Revolutions aber funktioniert wie ein Vaudeville- oder Revue-Theater, wo ein Nummerngirl mit einem Schild über die Bühne geht, auf dem nichts draufsteht.

Bei jedem neuen Canto steht man zunächst wieder wie der Ochs vorm Tor, weil man nicht weiß, geht es um den Fernsehturm, ein Bordell, die Flappergirls, ein Basketballspiel oder ein Veteranentreffen in Ohio.

Ein amerikanischer Kritiker schrieb: „Figuring out what’s happening is a big part of the book!“ oder ein Blogger der New York Times Notable Book Challenge am Beispiel von Canto 26 von Sam: „I’ll give a cookie to anyone who can make any sense of it.“ Mein ebenfalls zeitweiliger Assistent Donald Scott Peterson mailte immer wieder zu besonders schwierigen Stellen: „I have no clue what the FUCK he is talking about“ und meine Frau drückte ihre Verzweiflung aus mit den Worten: „Ich weiß fast nie, wovon er spricht und worauf er hinaus will, und wenn da zum Beispiel ‚lime‘ steht, dann weiß ich nicht, ob Linde, Limette, hellgrün, Kalk oder sonst was gemeint ist. Das macht mich rasend. Ich verabscheue ihn.“

Adventures in Homonyms eben!

Das Problem war, dass für eine durchgängig drei- bis fünfspurige Autobahn in der Übersetzung nur ein einziges deutsches Fahrzeug zur Verfügung steht, eigentlich nur ein halbes, weil das Englische von Haus aus viel knapper ist als das Deutsche und die Knappheit erhalten bleiben muss. Für kaum ein englisches Homonym lässt sich auch nur im Entferntesten ein deutsches finden, in dem wenigstens der Zweitsinn annähernd enthalten bleibt. Das bringt in einem Buch, das gleichzeitig über Techniken von Autoverkehr, Geschlechtsverkehr, Drogenkonsum, Baseball und Swing berichtet fast unüberwindliche Schwierigkeiten, zumal für Worte wie hit, ball, push, bang, bat, crash, die dem Text einen scharfen, schlagzeugartigen Rhythmus mit hart pornographischer Unterströmung geben, meist nur zweisilbige Übersetzungen zur Verfügung stehen, die bedeutend schwerfälliger sind und in ihrem Bedeutungsradius gar nicht vergleichbar.

Da sich bei kaum einem Canto auf Anhieb auf den Grund schauen ließ, entwickelten wir das Übersetzen in Pfahlbauweise. Wir trieben zuerst die einigermaßen gesicherten Wörter in die Undurchsichtigkeit des Texts. Auf diesen Pfählen einigermaßen gesicherter Begriffe errichteten wir unsere Arbeitsplattform, und auf dieser schließlich so eine Art Bauhütte, von der aus wir jedes einzelne Canto aufbauten. Einerseits durch den phänomenologischen Vorgang des Erschließens, andererseits durch das rückschlüssige Material, das bei unserer Vorwärtsbohrung bis Canto 360 anfiel.

Als nach über einem Jahr eine erste grobe Version der Übersetzung fertig war, machte ich mich an meinen Hauptrecherchedurchgang, bei dem sich herausstellte, dass gut die Hälfte alles bisher Übersetzten falsch war oder nicht den Standards des inzwischen erreichten Niveaus entsprach. Dies leitete auf meinem Gulag der Übersetzung die Phase der schweren Einzelhaft ein.

In diesem Hauptübersetzungsdurchgang schwollen die Cantos auf das vier- bis achtfache ihres ursprünglich auf 90 Worte beschränkten Naturzustands an, weil ich halbe Doktorarbeiten einbaute, warum es sich da oder dort um Heroin, und nicht um Haschisch handelt oder an anderer Stelle weder ein Fahrzeug repariert wird, noch ein Saxophon gespielt, noch bei den Hippies am Mississippi eine Bong kreist, sondern im Hauptsinn um die nächste Runde des obligatorischen Dauersex. Bei diesem Durchgang wurden dann mehr und mehr auch die Tonhöhen der Übersetzung beachtet, da es von ausschlaggebender Bedeutung für eine Übersetzung ist, den richtigen Ton zu treffen und nicht: „Nimm Dein Bett und wandle“ zu übersetzen mit: „Pack Deine Sachen und geh!“

Als Beispiel für die speziellen Schwierigkeiten bei den Cantos die Seite eins von Sam und Hailey, der Auftakt. Sehr schnell wird dem konzisen Leser (oder Übersetzer) klar, dass eine Vielzahl von Symmetrien diesem Buch zugrunde liegen. Sie sind Danielewskis Geschenk an die weltweite akademische Postmoderne Nachlassverwaltung.

Man muss also unbedingt im Auge behalten, dass das, was dasteht, auch das repräsentiert, was nicht dasteht, Präsenz versus Sinn. Genau in der Mitte des Buches, das die dreihundertsechzig Grade des Kreises ebenso wie die dreihundertsechzig Tage des Jahres repräsentiert, verläuft die erzählerische Mittelachse wie eine Wasserscheide, auf der das Prinzip der graduellen Steigerung vom Prinzip der graduellen Minderung abgelöst wird, das Textlabyrinth in seine beiden Hälften zerfällt und das Möbiusband seine unorientierbare Verdrehung erfährt, zur großen Freude der Post-Poststrukturalisten.

Seite eins beginnt auf beiden Seiten mit Ausrufen, die jubelnd hervorgebracht werden und den Namen der Jubelnden in sich tragen. Das ist aber bei Weitem nicht alles. So beginnt bei Sam das Buch mit den beiden Worten: Samsara, Samarra! Samsara bedeutet „beständiges Wandern“ und wird im Hinduismus und im tibetanischen Buddhismus als Lebensrad dargestellt mit in zunehmender Peripherie wachsender Leidensbetontheit. Dies zu wissen oder herauszufinden ist relativ einfach und der Sinn erschließt sich hier sofort, wenn man begriffen hat, dass Only Revolutions im Sinne der Kopernikanischen Umschwünge seines „de revolutionibus“ zu verstehen ist. Die schematischen Darstellungen beider Bezüge gleichen sich frappierend. Was aber hat Samarra zu bedeuten? Eine Stadt im alten Mesopotamien und heutigen Irak, eine Gründung der Sassaniden, außer dass es den Namen Sam verbirgt. Wie fügt sich das ein?

Dies erschließt sich erst, wenn man die berühmte Schale von Samarra kennt, die sich im Pergamon Museum befindet, und auf die ich zufällig stieß, als ich im letzten Viertel unserer Übersetzung an meinen Pergamon Poems zu arbeiten begann. Diese Schale trägt in der Mitte die Swastika, ein uraltes, linksdrehendes Glücksrad und Sonnenrad. Die Schale ist an ihrem Rand verziert mit einer extremen gegenläufigen Rotationsornamentik und somit ist die Einbindung in die Charakteristik des namentlichen Jubelrufs geglückt und sinnvoll. Kopernikus, das tibetanische Lebensrad, das: jetzt geht es los mit dem Dahinrollen und der Name des Fahrers ist endlich unter einen Hut gebracht. „I can walk away from anything!“ unterstreicht den Jubel, sich endlich von allem gelöst zu haben, vor allem von den Banden des Ortes und den Ketten der Zeit. Welches der Traum ist, den Sam killen will, ist leicht zu erraten, wenn wir erfahren, dass und warum es um Amerika geht, die Grand Nation. Es ist aber nicht nur dieser Traum, sondern auch jener andere, der die Erfüllung des Lebens in der Liebe sucht.
Schauen wir rüber zu Hailey. Hier ist die Einbindung des Namens in die Botschaft etwas schwieriger. Haloes! Haleskarth! steht da. Halos sind die Lichtringe bei Sonne und Mond, der Kreis und die Kreisbewegung rollen das Buch auch von dieser Seite an und schließen nahtlos an die Jubelrufe Sams an. Der Name Haileys verbirgt sich auch ein bisschen hinter einem: Hallo!

Bei Haleskarth, einem ausgestorbenen Wort, das „free of injury“ bedeutet, ist es schon etwas schwieriger, bis man es an die Sphären der Verletztheit im Samsara, dem Rad der Wiedergeburt anbindet. Haleskarth bedeutet aber auch ein gefahrenes Fahrrad, das Lichterketten in die Speichen geflochten hat, und das damit eine erneute Verbildlichung der Swastika und des sich drehenden Feuerrads darstellt, denn schließlich bedeutet Hailey ja die Heldin der Lichtung.
Aber dann kommt Contraband, das mich, irregeführt durch die fast ausnahmslose Bedeutung von „Schmuggelware“, eineinhalb Jahre gekostet hat, bis ich es endlich knacken konnte, und dadurch auch der folgende Satz: „I can walk away from anything“ Sinn bekam. Angespielt wird auf die Contraband Houses, in die sich die entflohenen Sklaven aus den Südstaaten während des Bürgerkriegs in den Nordstaaten flüchten konnten. Also: die Entsprungenen. Sie waren damit ebenso wie Sam und Hailey der Sklaverei durch Zeit und Gesellschaft entsprungen.

Daher der Jubel! Aber das wird ja wohl nicht schon alles sein? Keineswegs.

Was ist die Botschaft, außer dass wir wissen, dass sich alles dreht und das Rad in Bewegung kommt? Und wie behilft man sich für diese vielen rätselhaften Worte mit ihrem komplexen Bedeutungsradius im Deutschen mit einem Wort? Die Botschaft verbirgt sich in den Namen selbst. Im Namen Sam verbirgt sich natürlich Uncle Sam, die Nationalallegorie Amerikas, in Hailey steckt: Heil, die Botschaft lautet: Heil, Amerika und das gemeinsame UnS der beiden Sänger und Tänzer, sowohl us als auch US im Englischen, meint sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Vereinigten Liebenden: deswegen Samsationel!, deswegen Haileylujah!

Appendix

Viele Bücher sind in Gefängnissen entstanden. Der Ort diktiert durch seine Haftbedingungen ein anderes Arbeiten, der Fluchtimpuls wird unterdrückt, die Resultate jeglicher Art entstehen unter Hochdruck.

Mitten im letzten Viertel der Übersetzung, als der Druck von allen Seiten sein Höchstmaß erreichte, weil der Verlag auch immer mehr drängte, kam die Anfrage, ob ich für das Pergamon Museum Gedichte zum Fries schreiben würde, die anschließend verfilmt werden sollten. Ich konnte das unmöglich ablehnen. Sowohl wegen des Altars als auch wegen des Auftraggebers. Gar nicht viele Monate zuvor war ich im Pergamon Museum lange vor dem Fries gestanden und war wieder überwältigt.

Ich sagte zu im Affekt.

Wenige Tage nach meiner Zusage erlebte ich einen Absturz, eine Denkstörung, die viel von ihrer Erscheinung mit den Symptomen während einer bipolaren Erkrankung gemein hatte. Ich war euphorisch, aber ich konnte nichts fassen oder festhalten. Seit Monaten saß ich ab morgens sechs Uhr am Schreibtisch und recherchierte in diese ganze Bodenlosigkeit des Netzes hinein, bereits über sechzig Dateien existierten, die oft sogar in abweichenden Fassungen auf PC und Notebook abgespeichert waren und den Komplex immer schwerer beherrschbar machten.

Da es völlig ausgeschlossen war, Gedichte neben dieser ganz andere geistige Bewegungen fordernden Arbeit zu schreiben, eben nicht streng zielorientierte, hatte ich beschlossen, ab vier Uhr morgens, im Schutz des nächtlichen Berliner Hinterhofs, bis sechs Uhr morgens an den Pergamon Poems zu arbeiten, ab sechs Uhr begann dann Danielewski, open end!

Anfangs beging ich den Irrtum, mich nach langer Pause erst einmal wieder in die Götter einlesen zu wollen. Ich nahm meinen zweibändigen Ranke Graves, einst eines meiner Lieblingsbücher, und eine alte Ausgabe von Hesiod zur Hand. Das Ergebnis war, wie oben angedeutet, verheerend, denn es verursachte, zusammen mit den Danielewski Recherchen, einen totalen Overkill an Information. Irgendwann kam mir dann in der Badewanne der berühmte „rettende Gedanke“, denn ich sagte mir auf einmal: Ich muss diese Gedichte aus dem entwickeln, was ich kann, – nicht aus dem, was ich weiß! Ich legte also alle Bücher beiseite und betrachtete nur noch die Bilder und sie verweigerten lange und hartnäckig jegliche Auskunft abseits der ausgetretenen Wege.

Irgendwann aber sickerte das, was ich sah, auf das, was ich suchte, durch.
Ein berauschender Moment. Ab da waren die Schleusen geöffnet!

Ein paar Wochen in der Endphase zu Danielewski blieben die zwei Stunden von vier bis sechs den Pergamon Poems reserviert, dann war das Schlimmste geschafft, und das Schönste.