10 Thesen zu Fremdheit und Mut beim Übersetzen

von Wolfgang Kubin

Das Übersetzen, so scheint’s, steht noch immer unter keinem guten Stern. Thesen und Theorien der inzwischen so reichen Übersetzungswissenschaft haben mitunter noch nicht einmal in Fachdisziplinen wie die Sinologie hinreichend Einzug gehalten. Nicht selten werden weiter vermeintlich mögliche wörtliche Übersetzungen verlangt, wird der Übersetzer als ein Automat angesehen, in den A, die Ausgangssprache, einzugeben ist, um blitzschnell Z, die Zielsprache, erhalten zu können. Der Kampf gegen Mißverständnisse dieser Art ist ein Kampf gegen Mühlen. Sollte sich der Übersetzer daher nicht besser beizeiten ein interessanteres Kampffeld suchen? Gleichwohl mag im folgenden das eine oder andere hinlänglich Bekannte nochmals aufgegriffen werden, um meine Hauptthese zu untermauern. Diese lautet: der Übersetzer ist dem Autoren überlegen, milder formuliert, er hat diesem (mitunter) überlegen zu sein.

These 1: Der Übersetzer ist sich fremd in zwei Sprachen

Lassen Sie mich mit einem Beispiel aus dem täglichen Elend des Übersetzers beginnen, um zu meiner ersten These zu kommen, die da lautet: Der Übersetzer wird sich fremd in zwei Sprachen, d.h. in der Ausgangssprache und in der Zielsprache.

Am 28. Mai 2006 wohnte ich anläßlich des alljährlichen Poesiefestivals von Berlin der Veranstaltung „Mein Weg in die Welt. Wenn Dichtung international wird“ in den Räumlichkeiten der bekannten Literaturwerkstatt als Zuhörer bei. Auf dem Podium saß u. a. der von mir übersetzte chinesische Dichter mit amerikanischem Paß Bei Dao (geb. 1949). Der Moderator Bernhard Robben beginnt das Gespräch mit ihm, indem er die englische und die deutsche Fassung des Gedichtes Lied von unterwegs (Lu ge) miteinander vergleicht und sich den Vers „Du öffnest die Fächer der Geschichte“ herausklaubt. Im Englischen ist von „the fan of history“ die Rede. Er faßt meine Übersetzung „die Fächer der Geschichte“ im Sinne von „die Schubfächer der Geschichte“ auf und fragt mit Blick auf die englische Fassung Bei Dao, wie es zu solchen Fehlern kommen könne, und was er, Bei Dao, zu solchen Fehlern sagen würde. Der Dichter verweist auf mich im Publikum. Man könne mich befragen. Befragt werde ich aber nicht. Stattdessen kann ich, der ich als Falschübersetzer entlarvt wurde, mir nur meinen Teil denken. Daß nämlich das deutsche Wort Fach bzw. Fächer im Plural ununterscheidbar ist und im Plural vor jedem Blick ins Lexikon zumindest dreierlei bedeuten kann: a) die Schulfächer, b) die Schubfächer und c) die chinesischen bzw. japanischen Fächer, die man zur Kühlung vor dem Gesicht wedelt. Doch welcher der drei Fächer war im Chinesischen gemeint? Ich hatte kein Original bei mir und meine Erinnerung war auch überfragt. Ich konnte also nur über das Englische auf einen Sandelholzfächer o. ä. schließen.

Nun ist es eine Tatsache, daß das Chinesische einen Plural oder Singular selten eindeutig zu erkennen gibt. Dies gilt insbesondere für die Poesie. Im Fall von Bei Dao lassen sich einzelne Nomen, da sie im Deutschen einen bestimmten oder unbestimmten Artikel haben sollten, bis zu fünf Mal variieren: Pferd, ein Pferd, das Pferd, die Pferde, Pferde. Der Übersetzer hat im Deutschen eine Entscheidung zu treffen, ob er will oder nicht. Er kann sich nicht entziehen. Wo der Dichter unbestimmt bleiben möchte, sieht er sich gezwungen, konkret zu werden.

Vom Moderator zum Schweigen verdammt, war die Sache mit dem vermeintlichen Fehler nicht mein eigentliches Problem an diesem Abend. Der Moderator, der über keine Chinesischkenntnisse verfügt, hat sich blind dem Englischen gebeugt. Bekanntlich ist Englisch die Weltsprache Nr. 1, obwohl sie sehr viel weniger als das Chinesische gesprochen wird. Als Nr. 1 scheint ihr automatisch jegliche Wahrheit zuzufallen. Der Hintergrund der englischen Übersetzung stand an besagtem Abend gar nicht erst zur Debatte. Bei Daos amerikanischer Übersetzer, der Schriftsteller Eliot Weinberger, hat in seiner Studienzeit zwar ein Jahr lang das moderne Chinesisch erlernt, hat aber, wie er mir letzten Herbst während einer Reise durch Xinjiang gestand, in den etwa 40 vergangenen Jahren so gut wie alles wieder vergessen. Was nicht verwunderlich ist. Überdies, ein Jahr moderner Chinesischunterricht befähigt niemals zur Übersetzung chinesischer Dichter, ja nicht einmal zur Lektüre einer chinesischen Tageszeitung.

Wie übersetzt der gemeinsame Freund Eliot Weinberger aber dann? Bei Dao, der nach mehr als zehn Jahren Aufenthalt in den USA, weiterhin nur broken English spricht, bereitet eine sogenannte wörtliche bzw. vermeintlich lineare Übersetzung im Englischen vor, die der Amerikaner glättet und dabei ständig Rücksprache mit dem Dichter hält. Das Ergebnis kann sich allerdings sehen lassen. Kein Wunder, denn Weinberger hat mir gegenüber den Vorteil, daß Bei Dao ihm alles, was eigentlich unbestimmt ist (Nomen, Tempus), konkretisieren hilft. Ich dagegen frage selten bei Bei Dao nach. Dies hat einen einfachen Grund. Auch ich bin Schriftsteller und lasse beim Schreiben gern das eine oder andere offen. Fragt man mich nach der Lektüre meiner Werke, was hast du hier eigentlich gemeint, reagiere ich oftmals wie Bei Dao: Man kann die fragliche Stelle auffassen, wie man will. Alles sei möglich. So oder ähnlich fällt nicht selten die Antwort aus. Ich gebe jedoch gern zu, daß mich Aussagen wie diese als Übersetzer oftmals beunruhigen, besonders dann, wenn es mir nicht gelingt, das „Auge des Gedichtes“, wie man im Chinesischen sagt, zu treffen. Ich beginne dann zu verzweifeln, vielleicht eher an meinen Deutsch- als an meinen Chinesischkenntnissen. Ich bin mir dann ein Fremder in der deutschen Sprache, die so vieldeutig sein kann, in der chinesischen, die so vage bleiben möchte.

Zu guter Letzt ein launiger Blick in den heimischen Duden (6. Auflage des Universalwörterbuches, 2007) bestätigt meine Befürchtungen. Für das Wort „Fächer“ werden drei verschiedene Bedeutungen angeführt, für das Wort „Fach“ vier, mehr Bedeutungen also, als ich an fraglichem Abend ahnen konnte. „Fächer“, ob nun als Singular oder als Plural zu verstehen, erlaubt insgesamt zumindest sieben verschiedene Deutungen. Etwas ähnliches läßt sich vom chinesischen Pendant auch sagen, was hier aber nicht weiter ausgeführt werden muß.

These 2: Die Übersetzung ist weder Kopie noch Schatten

In China gilt der Übersetzer nichts. Er wird nicht nur schlecht bezahlt, er wird auch scheel angesehen. Das war im Reich der Mitte vielleicht nicht immer so. Alle großen Literaten der Republik-Zeit (1912-1949) sind auch Übersetzer gewesen. Daß China heute kaum einen Vertreter von Weltliteratur mit chinesischem Paß aufzuweisen hat, verdankt sich vielleicht dem Vorurteil gegenüber dem Übersetzen und den Fremdsprachen. Chinesische Autoren übersetzen in der Regel nicht, schlimmer noch, sie beherrschen keine fremden Sprachen und lehnen mitunter das Erlernen einer anderen Sprache ostentativ mit der Begründung ab, eine Zweitsprache verderbe nur die Muttersprache. Wir müssen auf den Unsinn solcher Ansichten hier nicht eingehen.

Ist der Übersetzer also eine unliebsame, eine gelittene Notwendigkeit? Auch in Deutschland wurde er lange Zeit alles andere als hofiert. Daher habe ich es viele Jahre abgelehnt, als Übersetzer bezeichnet zu werden bzw. mich als einen solchen zu verstehen. Erst in letzter Zeit habe ich umzudenken begonnen. Ich habe lange für die Erkenntnis gebraucht, daß ich nicht einfach eine billige Kopie schaffe und auch nicht lediglich der dünne Schatten eines sich aufplusternden Meisters bin. Gleichwohl habe ich es zu erdulden, daß mein Name weiterhin kleingedruckt und wie im Falle der Literaturzeitschrift Akzente viele Seiten später erst an das Ende meiner Übertragungen gesetzt wird. Bis zur letzten Zeile hat die werte Leserschaft, zu der ich als Leser der Akzente in vergleichbaren Fällen auch gehöre, den subjektiven Eindruck, ein deutsches Original vor Augen zu haben. Erst zum Schluß scheint sich diese Illusion aufzuheben und in mögliche Enttäuschung umzuschlagen. Doch ist der Leser wirklich einer Illusion aufgesessen? Kommen wir daher zur dritten These. Sie mag zunächst überheblich klingen.

These 3: Die Übersetzung ist das Original

Sie lautet: die Übersetzung ist das Original. Zwei einfache Beispiele: 1. Das Neue Testament ist uns in griechischer Sprache überliefert. Es hat nur wenige authentische Worte von Jesus, der kein griechisch, sondern aramäisch sprach, bewahrt. Wir lernen daher Christus nur über die Zweitsprache kennen, die für Nichttheologen die Erstsprache zu sein scheint. 2. Viele chinesische Literaten der Republik-Zeit, die in zwei Sprachen schrieben, haben sich selber übersetzt wie zum Beispiel Zhang Ailing (1920-1995), Bian Zhilin (1910-2000) oder Lin Yutang (1895-1976). Doch was wie eine Übersetzung aussieht, ist alles andere als eine reine Übersetzung. Die vermeintlichen Abweichungen sind zu stark. Nicht selten wirkt das Werk im Englischen poetischer als im Chinesischen. Die vermeintliche Übersetzung ist ein Werk von eigenem Recht. Und damit komme ich zu meiner vierten These.

These 4: Die Übersetzung ist Teil der Nationalliteratur

Die Übersetzung schafft als Original einen Beitrag zur Literatur der Zielsprache bzw. sie hat dergleichen zu tun. Dies ist eine von dem heute in London lebenden Dichter Yang Lian (geb. 1955) vor vielen Jahren bereits erhobene Forderung an den Übersetzer. Der deutsche Übersetzer habe im Akt der Übertragung ein Werk zu schaffen, das der deutschen Literatur zuzurechnen sei und nicht mehr der chinesischen. Auch wenn unser Poet recht haben mag, so bleibt dennoch die Frage offen, ob denn das werte Publikum einer solchen Sicht der Dinge überhaupt zustimmen mag. Im Falle von Klabund (1890-1920) oder Hans Bethge (1876-1946), denke ich, ist das längst erfolgt. Beider Übertragungen haben mit dem chinesischen Original nicht viel zu tun, und wenn ihnen überhaupt ein Wert zukommt, dann nur als deutscher Entwurf eines gefühlten China.

Älterer Mann mit Hemd und Krawatte im Gespräch mit einer asiatiscehn Frau in Schwarz und kurzen Haaren.

Wolfgang Kubin und Helen Zhang 2007

Foto: Erich Malter

These 5: Die Übersetzung ist das bessere Original

Die Praxis der Übertragung aus dem Chinesischen bestätigt meine vielleicht anmaßend erscheinende These. Die Kulturpolitik der Volksrepublik China, vor allem zwischen 1949 und 1979, hat u. a. zu einer Zerstörung der modernen chinesischen Hochsprache als Sprache des Individuums geführt. Die Nachwehen der offiziell verordneten „maoistischen Schreibe“ (Mao ti) sind heute noch zu spüren. Ein übriges tut die landläufige Auffassung im Reich der Mitte, Sprache sei lediglich ein Transportmittel für Inhalte. Und so lieben es chinesische Gegenwartsautoren, mitunter heiße Eisen lediglich als publikumswirksame Inhalte anzugehen und darüber die sprachliche Gestaltung ihrer manchmal brisanten Ausführungen zu vernachlässigen. Die Vermarktungsstrategie von Autor, Agent und ausländischem Verlag setzt nicht selten auf ein vermeintlich inländisches Verbot. Man liest also immer wieder von einem Bücherverbot, geschickt auf Umschläge plaziert oder reißerisch in Klappentexten angeführt. Man liest nie von großem Stil oder gedanklicher Tiefe.

Nun ist es eine Tatsache, daß viele Autoren trotz aller Öffnung und Reform seit 1979 die chinesische Sprache nur sehr ungenügend beherrschen. Soll, darf, muß der Übersetzer folglich bei der Übertragung aus dem Chinesischen unter seinem Niveau bleiben? Wer sich lange mit Literatur beschäftigt hat, wer lange genug übersetzt hat, ahnt nicht selten, was ein chinesischer Autor eigentlich hat schreiben wollen. Und so überrascht es wenig, daß sich das chinesische Fräuleinwunder (Mian Mian, Wei Hui, Hong Ying) auf deutsch oft besser liest als im Original. Ein Übersetzer, der sich auf die oft arme Sprache seiner Vorlagen einläßt, riskiert Kopf und Kragen. Er wird nie wieder einen Übersetzerauftrag bekommen und denjenigen den Weg ebnen, die die chinesische Literatur nur aus dem Englischen (eines Howard Goldblatt) übersetzen (können).

These 6: Der Übersetzer weiß mehr als der Autor, als der Leser

Was aber rechtfertigt ansonsten die Verbesserung eines Ausgangstextes? Kein Text ist in sich jemals abgeschlossen. Gäbe es dennoch einen solchen Text, bedürfte es keiner zweiten Übersetzung oder Interpretation. Die Freiheit des Übersetzers basiert auf der Mehrdeutigkeit seiner Vorlage und mitunter auf einem Archiv bzw. seiner Erinnerung. Autoren machen Fehler oder erinnern sich nicht mehr an Worte und Taten. Leser haben ihre gute Schule vergessen. In einem Text können sich also Dinge verbergen, von denen der Autor nichts (mehr) weiß oder wissen will. Der Übersetzer wird diese bergen und dem Publikum durch eine scheinbare Mehrübersetzung bzw. durch einen Kommentar zugänglich machen. Dazu gehört auch die Korrektur von offensichtlichen Fehlern. Als Übersetzer darf man davon ausgehen, daß ein Autor nicht absichtlich falsch schreibt und sich auch keine ungelenke Übertragung wünscht. Da ich viele Kinder habe und ich bei ihren ersten Laufübungen stets dabei war, verzeihe man mir den folgenden Vergleich: Wer übersetzt wird, hat in einer fremden Sprache gehen zu lernen. Der Übersetzer ist bei diesen Gehversuchen liebevoll beteiligt. So wie ein Vater niemals später seinem Kind vorhalten wird, nur durch ihn jegliche Fortbewegung erlernt zu haben, so wenig wird ein Übersetzer einem erfolgreichen Autor später unter die Nase reiben, dieser oder jener Preis verdanke sich einzig und allein seinen übersetzerischen Bemühungen.

These 7: Es gibt keine wortwörtliche, keine falsche Übersetzung

Jedem Satz geht ein anderer Satz voraus, sowohl in der fremden wie in der eigenen Sprache. Daher läßt sich nichts wortwörtlich übersetzen, denn niemand kann den vorausgehenden Satz gleichzeitig auch wörtlich mitübersetzen. Da Spaniens hermetische Dichter der Vorkriegszeit dem chinesischen Hermetismus Ende der 70er Jahre Pate standen, läuft ein Übersetzen von Bei Dao zum Beispiel auf ein gefühltes Mitübersetzen seines großen Vorbildes, nämlich von Federico Garcia Lorca (1898-1936), hinaus.

Jedem Satz geht auch eine Geste voraus. Diese Geste mag das Gegenteil von dem meinen, was sich sprachlich artikuliert. Und das bedeutet, es gibt keinen einzigen eindeutigen Satz! Eine simple Aussage wie „Schön!“ oder „Toll!“ kann tatsächlich „schön“ oder „toll“ bedeuten, doch im täglichen Leben machen wir oft die gegenteilige Erfahrung. Eine entsprechende Geste oder Miene deuten ein gehöriges Maß an Unmut an: Das ist aber gar nicht schön bzw. toll! Und damit komme ich zu meiner nächsten These.

These 8: Jede Übersetzung ist eine Interpretation

Wer Rücksicht auf die Geschichte oder Gestik eines Textes nimmt, kann nur interpretieren, aber nicht endgültig übertragen. Alles Übersetzen erfolgt daher nur in und aus einem scheinbar leeren Raum, tatsächlich ist der Raum gefüllt mit Geschichte und Geschichten. Der Übersetzer wird somit zum Erinnernden von Texten, aber er kann nur soviel erinnern, wie es dem Text gut tut. So gesehen ist eine Übersetzung nie abgeschlossen, sondern immer nur eine mögliche Deutung unter vielen möglichen Deutungen. Und darum übersetzen und interpretieren wir gern weiter, ohne je zu einem Abschluß zu kommen. Gelangen wir dennoch zu einem Abschluß, spricht das für die Armut eines Textes und das Ende eines Interesses an ihm.

These 9: Übersetzen meint Mut zur Geschichte

Der Satz, der jedem Satz vorausgeht, kann (der Erinnerung) verlorengegangen sein oder darf aus politischen Gründen nicht mitbedacht werden. Der Übersetzer, der nicht nur durch seine, das heißt durch eine andere Sprache, sondern auch durch einen anderen Paß geschützt ist, erinnert einen fraglichen Satz vielleicht nicht einmal als einziger, wagt es aber, ihn als einziger in einer anderen Sprache auszudrücken und damit zur Sprache zu bringen. Deswegen wird die Übersetzung nicht selten zum Ort der Wahrheit, wenn sich das Original zuvor zu kleineren Fälschungen gezwungen sah. Beispiele gibt es in Hülle und Fülle. Da sind einmal Umdatierungen, welche Dichter vorzunehmen hatten, um ihre Gedichte in den 80er Jahren publizieren zu können. Zum Beispiel Bei Dao. Da stimmen Dissidenten, die im Ausland leben, der Streichung von bestimmten Passagen vor der Drucklegung ihrer Werke auf dem Festland zu. Zum Beispiel Yang Lian. Da unterschlagen Herausgeber wichtige Details wie im Falle der sogenannten Gesamtausgabe von Gu Cheng (1956-1993), so daß ein Zyklus wie „Peking – Ich“ (Cheng) ohne den Untertitel 4. Juni 1989 nichts mehr mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung zu tun zu haben scheint. Da publizieren chinesische Literaturwissenschaftler ihre vollen Arbeitsergebnisse auf koreanisch oder japanisch, so daß eine Lektüre bzw. Übersetzung ihrer chinesischsprachigen Arbeiten wenig Sinn ergibt. In allen genannten Fällen wird Übersetzen zu einem Akt der Rekonstruktion nicht nur von Texten, sondern auch von Geschichte.

These 10: Übersetzen ist keine Sache des Elfenbeinturms, sondern als politische eine Frage von Leben und Tod

Mein Beitrag The Perspective of Chinese Literature in the 21st Century für eine Shanghaier Konferenz (2004) ist längst ins Chinesische übersetzt und wandert auf dem Festland seit zwei Jahren von einer Redaktion zur nächsten. Eigentlich hätten meine Thesen der Kommunistischen Partei Chinas, aus welchen Gründen auch immer, gut gefallen und in deren Sicht bestimmter Dinge passen müssen, doch hat sie ausgegeben, welche Personen, Begriffe, Daten in den Medien erwünscht seien und welche nicht. Die Publikation der chinesischen Übersetzung meines an sich nicht sonderlich politischen Beitrages würde die Schließung einer Redaktionsstube, die Entlassung von Redakteuren und vielleicht auch die Maßregelung des Übersetzers nach sich ziehen. Ähnliche Dinge lassen sich im übrigen auch für Hongkong anführen, wo unlängst ebenfalls eine chinesische Übersetzung meines deutschen Beitrages „Pekinger Reflexionen“ der (freiwilligen) Zensur zum Opfer gefallen ist.

Weil Übersetzen eine Sache auf Leben und Tod sein kann, deshalb veröffentlichen nicht wenige chinesische Übersetzer ihre Übersetzungen unter einem Pseudonym. Früher habe ich dies als Kriechen vor der Macht bezeichnet, heute bin ich vorsichtiger. Das Übersetzen an sich ist schon Herausforderung genug. Man braucht keine zusätzliche Front.