Laudatio auf Georges-Arthur Goldschmidt
von Adrian La Salvia
„Nicht wahr, am Rand des Walds die vielen Früchte, die in die Mitte locken, wo dann nichts ist!?“
Georges-Arthur Goldschmidt, zit. nach Peter Handke: Nachmittag eines Schriftstellers
Georges-Arthur Goldschmidt ist Autor, Übersetzer und zweisprachig. Zum Übersetzen kam Goldschmidt durch Zufall. Als er die Fahnen seiner – bis heute nicht ins Deutsche übertragenen – Erzählung Un corps dérisoire („Le Fidibus“) erhielt, bat ihn sein Verleger Christian Bourgeois, etwas für ihn zu übersetzen, ein kleines Büchlein mit dem Titel Begrüßung des Aufsichtsrats von Peter Handke. „Aber Übersetzen, was sollte ich denn damit, ich hatte doch beide Sprachen in mir, …. Zu meinem Glück erwies sich dann der Text als einer, den ich selber gern geschrieben hätte. Er hat mich so überwältigt, weil es mir schien, als bräuchte ich nur noch einen eigenen Text in einer anderen Sprache abzuschreiben.“
Das Übersetzen ist für Goldschmidt mit seiner eigenen Schreibpraxis untrennbar verbunden, die doch nur aus einem stummen Vortext, der immer schon da war, die Unmittelbarkeit des Erlebten (das leibliche Empfinden) übersetzt. Die Sprache stellt sich in den Dienst der reinen Beschreibung, der Schreibvorgang ist eine andere Art der Welterfahrung und ein Übersetzen dieser Erfahrung in Sprache. So ist der Autor immer auch ein Übersetzer.
In seiner Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers (1987) beschreibt Peter Handke die Begegnung mit einem Übersetzer, „der, angereist aus dem Ausland, seit Tagen in der Gegend für sich die Wege eines da spielenden Buches abging und am Schluss den Autor noch zu ein paar Sachen und Wörtern befragen wollte“. Unschwer ist der Übersetzer an seiner Rede und an seinen Bewegungen als Georges-Arthur Goldschmidt zu erkennen. Es sei ihm, sagt der Übersetzer, der auch selber schreibt, in seinem Innersten ein „Urtext“ mitgegeben,
der … dort ständig zugleich dasei und geschehe, und von mir … kurzerhand zu übertragen sei auf das Papier. [Ich dachte mir] das Schreiben als ein reines Abhören und Mitschreiben, als ein Übersetzen, bei welchem statt einer unsichtbaren Vorlage ein insgeheimes Ursprechen galt.
Goldschmidt stellt an seine Übersetzungen denselben hohen Anspruch wie an seine Romane und Erzählungen. Das Übersetzen ist für ihn ein sprachschöpferischer Vorgang, der nach Eingebung, Lust und Traum verlangt. Mitunter wartet Goldschmidt zwei Jahre oder länger auf das erlösende Wort. Doch gerade diese Mischung aus Unruhe und Geduld verleiht Goldschmidts Übersetzungen eine „kieselartige Vollkommenheit“.
Goldschmidt unterscheidet zwischen seiner Muttersprache Deutsch und seiner Lebenssprache Französisch. Er schreibt in beiden Sprachen und übersetzt gelegentlich sich selbst ins Deutsche (die Autobiografie Über die Flüsse), aber auch Erzählungen von Pierre Herbart, darunter eine unveröffentlichte (L’age d’or → Das goldene Zeitalter). Ins Französische übersetzte er Werke von Georg Büchner (Lenz), Peter Handke (insgesamt 27 Titel in den Jahren 1971-2006), Franz Kafka (Der Prozeß, Das Schloß), Friedrich Nietzsche (Also sprach Zarathustra), Adalbert Stifter (Der Hagestolz) und anderen.
Bleibt anzumerken, dass der Autor-Übersetzer Goldschmidt wiederum von Peter Handke ins Deutsche übertragen wurde: Der Spiegeltag (1981), Der unterbrochene Wald (1992). Novalis nannte einst den Übersetzer den Dichter des Dichters. Goldschmidt ist gleichermaßen auch der Dichter seines eigenen Übersetzers.
Einen weiteren bedeutenden Übersetzer aus dem Französischen fand Goldschmidt in Eugen Helmlé: Ein Garten in Deutschland (1988).
Auch die genannten autofiktionalen Romane und Erzählungen, in denen sich individuelle und historische Erfahrung durchkreuzen, sind Ausdruck einer komplexen Übertragung im Sinn der Psychoanalyse. Ein Garten in Deutschland etwa hatte Goldschmidt nur auf Französisch schreiben können.
Erst die Übertragung (… im Freudschen Sinn des Wortes) in eine Sprache, in welcher die Erinnerung alles erfinden musste, ohne es erlebt zu haben, machte das Schreiben an diesem Buch möglich.
Die Übersetzung von Eugen Helmlé legt bruchstückweise einen anderen – einen verdrängten, unbewältigten, ungeschriebenen – deutschen Urtext frei: „denn … die erlittene Geschichte hat es unmöglich gemacht, sie in deutscher Sprache zu erzählen“. Umgekehrt erzählt Goldschmidt in deutscher Sprache, „was sich nach der Emigration in Frankreich an Einfällen, Wahrnehmungen, inneren oder äußeren Begebenheiten und Erinnerungen angesammelt hat“.
Damit sind wir an dem biografischen Schmerzpunkt seiner Schriftsteller- und Übersetzertätigkeit angelangt. Goldschmidt verließ Deutschland 1938 auf der Flucht vor den Nazis. Seine Eltern hat er nie wieder gesehen. Über seine Rettung hat er eindrucksvoll Zeugnis abgelegt.
Goldschmidt gehört mit Julien Green, Samuel Beckett, Vladimir Nabokov und einigen anderen Autoren in einen illustren Kreis zweisprachiger Selbst-Übersetzer.
Zweisprachigkeit – und damit meine ich die Fähigkeit, in einer anderen Sprache zu träumen – verändert fundamental mein Bewusstsein von Sprache. Den blinden Fleck auf der Sprach-Netzhaut, den Balken der Blickverstellung, sehe ich immer nur von außen. Er entzieht sich meinem Blick. Anders der zweisprachige Autor. Er sieht gewissermaßen im Spiegelraum der anderen Sprache den eigenen Augenhintergrund. Mit dem distanzierenden Blick der Zweisprachigkeit legt Goldschmidt, der Augenmensch, den Sehnerv der Sprache frei. Anschaulich beschreibt er, was der Sprechende durch die Sprache sieht und was die Sprache verbirgt oder unbewusst verdrängt – oft mehr als sie aussagt. Die Unzulänglichkeit der Sprache kann aber nur im Medium der Sprache selbst analysiert werden.
Der zweisprachige Autor ist also einer und abgesondert, einer, der von sich selber „absteht“. So heißt es in Die Absonderung: „Im Tunnel [auf der Zugfahrt nach Italien] hatte er zum ersten Mal das Gefühl, von sich selber abzustehen.“ Das kurze Zitat zeigt deutlich, wie eigen – und wie genau – Goldschmidt mit der deutschen Sprache umgeht. Man sagt im Deutschen: Jemand hat abstehende Ohren. Es gibt auch Übersetzer mit abstehenden Ohren. Kafka hatte abstehende Ohren („oreilles decollées“, wörtl.: abgelöste Ohren, im Französischen führen die abstehenden Ohren ein merkwürdiges Eigenleben). Aber abstehende Übersetzer? Goldschmidt geht auf die älteste sinnliche Bedeutung des Wortes zurück: von einer Sache abstehen = sich ihrer entäußern. Der abstehende Übersetzer entäußert sich seiner selbst, er löst sich von sich selber ab. Jean-Luc Tiesset übersetzt: „se détacher de lui-même“.
In der Sprache der Traumatherapie würde man sagen, dass Goldschmidt hier sein inneres Kind von sich abspaltet, um den Schmerz nicht fühlen zu müssen. Nicht zufällig geht diese Abspaltung (Die Absonderung) mit dem Überschreiten einer Sprach- und Ländergrenze einher. Goldschmidt ummantelt seinen Schmerz mit einer neuen Sprache, zuerst mit dem Italienischen, das er rasch erlernt und wieder vergisst, später dann mit dem Französischen, das seine Lebens- und Überlebenssprache bleibt.
Der Übergang zum Französischen wird nicht bewusst erinnert, wohl aber die Epiphanie (die Selbstoffenbarung) der Sprache:
Mehr als fünfzig Jahre später ist jener Tag noch Gegenwart: die Farben dunkelten auf, wurden grell und scharf unter auf einmal indigoblau gewordenem Himmel. Ein Schüler rief: „les premiers flocons“, die ersten Schneeflocken.
Mit einem einzigen Wort legte sich die Welt um ihn herum zurecht. Die Schneeflocken verglühten auf dem schwarzen Asphalt, als gingen sie darin unter. Ein flüchtiges Wort, eine ruckartige Erfahrung: Auf einmal wurde alles sonnenklar.
Mit einem Schlag merkte er, dass er, ohne es zu wissen, schon seit Wochen Französisch konnte. Es war, als ströme alles bisher Gehörte in dieses einzige Wort „flocons“ ein, als verwirkliche sich auf einmal die ganze Sprache, es hatte sich die neue Raumbeschaffenheit um ihn entwickelt. Alles schien mit der Sprache im Einklang, es war, als wären die Häuser der Sprache nachgebaut, als wären ihr die Straßen nachgezogen worden.
Auch das Übersetzen ist eine Art der Schmerzummantelung: „So, indem ich deine Wunde möglichst schön zeige, verberge ich die meine.“ Läßt Handke seinen Übersetzer in „Nachmittag eines Schriftstellers“ sagen. Und: „Das Übersetzen bringt mich zu tiefer Ruhe.“
Georges-Arthur Goldschmidt im Gespräch
Foto: Erich Malter
Der Fall K.
1983 übersetzte Goldschmidt, zur gleichen Zeit wie Bernard Lortholary, Der Prozeß, 1984 Das Schloß. Während Lortholary sich an der Zielsprache Französisch orientiert, versucht Goldschmidt, die Sprachbewegung des Deutschen im Französischen nachzuahmen, ohne den Text mehr als nötig an die Zielsprache anzupassen. Goldschmidt übersetzt mit gemischten Sprachgefühlen. Der Text soll im Französischen die „Gangart“ („Allure“) und die „leibliche Empfindung“ des Deutschen bewahren. Die Sprachen verhalten sich in seinem Inneren wie kommunizierende Röhren. Original und Übersetzung haben dasselbe spezifische Gewicht. Goldschmidt gibt dem Französischen die Körperlichkeit und die Raumbeschaffenheit des Deutschen. Es geht hier nicht um eine Rohübersetzung („Wort für Wort“), sondern um die „Gesten“, die „Angstblöcke“, das „Bewusstseinsaufkommen“ eines Textes, der in seiner physischen Realität den Leser übermannt, ungeachtet seiner grammatikalischen Erscheinung.
Der abstehende Übersetzer ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Außenseiter, einer, der Sprache von ihrer Außenseite her betrachtet, während er ihre Ränder bewohnt. Eigentümlich dezentriert (aus der Mitte heraus verschoben) erscheint auch sein Deutsch, ein aus der Zeit gefallenes Traumdeutsch, die Sprache der verlorenen Kindheit, die er auf dem Umweg über das Französische wieder entdeckt. „Das Poetische beginnt da, wo man der Sprache so, wie sie benutzt wird, nicht länger Glauben schenken darf“ – im Echoraum der Zweisprachigkeit. Narziss hascht nach seinem ewig unerreichbaren Spiegelbild. Der Spiegel der Übersetzung entdeckt und entfremdet zugleich, als ob ein anderes Ich mich zurückspiegelte, ein anderer, der mich sähe, zu sein, wie sinngemäß Jacques Lacan in Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion (1936) schreibt.
Freud und die deutsche Sprache
Am Beispiel und mit dem Instrumentarium der Psychoanalyse erhellt Goldschmidt die unterschiedlichen Sprachwelten des Deutschen und des Französischen. Goldschmidt sieht im Unbewussten den invariablen Urgrund aller Sprachen. „In ihren Tiefen haben alle Sprachen eine ähnliche Beziehung zum Unbewussten, wäre es anders, könnten sie einander nicht verstehen.“ Das Unbewusste kann nur innerhalb der Sprache gelesen werden. ES spricht sich dort aus, wo der feste Buchstabe entgleitet und abhanden kommt: in den Bruchund Leerstellen der bewussten Rede, in ihren sprachlichen Fehlleistungen (jenem „Garten
der Missverständnisse“), im Traum – und in der Übersetzung, die Spuren des Unbewussten trägt, die sich als Verschiebung und Verdichtung beschreiben lassen. „Wo das Übertragen also stockt, zeigt sich die Realität der Begriffe, wie sehr sie schon in ihrer bloßen Formulierung die Gegenwart der anderen Sprache benötigen, um sich als solche abgrenzen zu können.“ Goldschmidt entwickelt sein Denken im doppelten Wortsinn aus der Sprache heraus.
Der Unterschied von Original und Übersetzung entspricht der Freudschen Unterscheidung zwischen latentem und manifestem Trauminhalt. Die Traumarbeit, die Freud eine andere Art der „Übersetzung“ nannte, beginnt schon im Titel der beiden Essays über Freud und die deutsche Sprache: Quand Freud voit la mer → Als Freud das Meer sah. Doch was sah Freud wirklich? Sah er das „Meer“ („la mer“), oder sah er, wie man im Französischen auch hören kann, die „Mutter“ („la mère“)? Der französische Titel lässt alles offen. Hintersinnig-doppeldeutig ist auch der Titel der zweiten Abhandlung: „Quand Freud attend le verbe“ → Freud wartet auf das Wort. Doch worauf wartet Freud wirklich? Wartet er auf das „Wort“, das aus den dunklen Fluten des Unbewussten an sein Ohr dringt (wofür das Französische gleich drei Rückübersetzungen – „parole“, „mot“, „verbe“ – anbietet), oder wartet er auf das „Zeitwort“ im deutschen Titel? Die Übersetzung als Sprachbewegung beginnt bei der gegenläufigen Wortstellung im Deutschen und im Französischen. Das Deutsche ist, seiner Struktur nach, eine „Klammersprache“.
Hier lauert der Gemeinplatz, Übersetzen sei nun einmal eine Sisyphos-Arbeit, der Übersetzer – wen wundert’s – immer schon zum Scheitern verurteilt. Doch Goldschmidt wendet das Skandalon zum Positiven. Die Übersetzung ist nicht als solche unzulänglich, sie deckt nur das Unbewusste in der Sprache auf. Wo die Begriffe changieren, tauchen wir ein in das Fluten der Sprache, das Oskar Pastior das „Würde“ der Sprache nannte. Die Sprache „würde“ viel, wenn sie könnte. Aber sie kann Vieles nicht, weil sie sich dem Zugriff der Übersetzung verweigert. Es bleibt immer ein Rest, der nicht aufgeht (wie 100 geteilt durch 9), eine „Unpässlichkeit“, und dieser kleine Haken ist es, der nach Übersetzung drängt. Die sinnund lustvollste Arbeit: „zu sehen, wie im Inneren der Sprache widerhallt, was sie zum Sprechen bringt“.
Ein Zitat von Georges-Arthur Goldschmidt liefert das Motto zur Dokumentation der Übersetzergespräche 2004-2006 (Halbe Sachen):
Würde eine Übersetzung perfekt gelingen, so gäbe es nur noch eine Sprache auf der Welt, aus der man nicht mehr herauskommt, und wir wären keine Menschen mehr. Das wäre das Ende der Welt.
Kehrt man diesen Gedanken um, so folgt daraus: Solange es Übersetzungen gibt, kann die Welt nicht untergehen. Übersetzungen schaffen halbe Wahrheiten. Es gibt keine ganzen, nur die Sehnsucht nach Sprachergänzung und die Hoffnung, dass die Übersetzung die bessere Hälfte des Originals sei.
Hier muss nun auch der besseren Hälfte unseres Preisträgers gedacht werden. Denn ohne die Hilfe seiner Frau Lucienne Geoffroy, die kein Deutsch spricht, wären viele Übersetzungen nicht entstanden.
Goldschmidts Romane und Erzählungen, wie auch seine Essays und Übersetzungen, provozieren eine intensive, rauschhaft beglückende Lektüre-Erfahrung. Das Beglückende verdankt sich einer tiefen Einsicht in das Wesen der Sprache:
Der Reichtum liegt in der Differenz. Das Menschliche ist der kleine Rest, der nach Übersetzung drängt.