Eine Shakespearsche Radikalübersetzung
von Ulrike Draesner
Im Frühjahr 1997 legten sich ununterbrochen und geräuschlos auf Satellitenhöhe, geräuschvoll und ununterbrochen auf Menschenhöhe, das Bild eines Lammes und die es kommentierenden Sätze in immer dichteren Schleifen um den Erdball: Dolly stakste im Stall. Dolly, der erste Klon. Erneut eine Geburt „im Stroh“, diesmal als Akteure jedoch nicht Gott und Mensch, sondern Mensch und Schaf.
Reaktionen auf diese Nachricht, Reaktionen auf die Reaktionen etc. drehen sich seither in immer neuen Verknotungen um den Globus, gerade so, als sollte die verlorene natürliche Doppelhelix in den Nachrichtenströmen wieder und wieder beschworen, also als Bild erinnert und dadurch umso effektiver vergessen werden. Während in den Labors der Nahrungs- und Pharmakonzerne die Experimente an genetischem „Material“ pausenlos weitergehen; während wir, zu unserer Beruhigung, an einem Keks knabbern, von dessen genetisch manipuliertem Soja wir nichts wissen, weil es nicht markiert werden muß. Die Welt hat sich seit dem Frühjahr 97 nachhaltig verändert. Manche merken es bereits, andere glauben dem Wirklichkeitsschein zäher Unveränderlichkeit. Doch Dolly lebt und wird es immer tun.
Zufällig zog ich einige Wochen „post Dolly“ meinen Band mit Shakespeare-Sonetten aus dem Regal. Im Licht einer blitzartigen Einsicht funkelte die von den Gedichten entworfene Wort- und Bedeutungslandschaft plötzlich so rätselhaft wie die dunklen Augen des Lammes, das nichts von seiner eigenen Exzeptionalität weiß.
Die Gedichte sprachen vom Klonen.
Manisch, besessen und direkt handeln Shakespeares Sonette von Zeugung. Die Personenkonstellation ist in diesen Liebesversen nicht immer klar. Angesprochen wird ein Mann – von einem Mann; angesprochen wird eine Frau; angesprochen werden eine Frau und ein Mann, von einem Mann, der beider Liebhaber zu sein scheint. Aber erst, wenn man sich von der automatischen Gleichsetzung von Autoren- und Figurengeschlecht löst, wird deutlich, wie sehr die geschlechtliche Zuordnung tatsächlich changiert.
Gesetzt gegen ein scharfes Vergänglichkeitsbewußtsein, sind Shakespeares Gedichte Träume vom Überleben – sowohl im Fleisch als auch in der Schrift, den beiden vorrangigen Mitteln der Selbstreproduktion durch Gedächtnisstiftung. Die Sonette phantasieren Hochzeiten; „zeugen, zeugen, sich selbst reproduzieren“ – nur das flüstert ihr obsessiver Traum. Das Wechselspiel der Geschlechtsrollen geht so weit und wird so schnell, daß sich die sexuelle Determination der Beteiligten so gut wie aufhebt. Nur eines entscheidet: sich (und dabei vielleicht auch den anderen, bzw. ihn und dadurch auf jeden Fall sich selbst) der Zeitlichkeit entziehen. ‚Zeit‘ ist die wahre Dritte im Bunde, die „unheimliche Andere“. Ihr setzt Shakespeare die unbedingte und schamlose Lebensgier seiner Gedichte entgegen – wenn jemals etwas an diesen Gedichten skandalös war, dann diese Gier: ungeheuer(lich), berauschend, und wunderbar.
Dieses Skandalon ins Heute zu ‚übersetzen‘, wurde durch Dolly und die Implikationen ihrer creatio auf einem neuen Weg möglich. Klonen ist die technisch fortgeschrittenste Ausformung des Überlebenstraums. Die genmanipulativen Möglichkeiten, die 1997 Wirklichkeit wurden, haben den Bezugsrahmen von Zeugung, Mortalität, Individualität und Reproduktion vollständig verändert (auch diese Wörter sehen nur noch an der Oberfläche aus wie jene, die wir vor 10 Jahren benutzten). In meiner Radikalübersetzung mutieren Shakespeares Sonette daher in wechselnder Folge in Reden an einen Klon, Reden des Klons zurück, in Reden von Klonen in einer geklonten Welt.
Man mag diese ‚Reden‘ nicht mehr Übersetzungen nennen wollen; ich diene dem Original nicht im üblichen Sinn. Und doch gehe ich in besonderem Maß von ihm aus, denn den Freiraum zu solch unorthodoxem Übersetzen eröffnet gerade auch der Klassiker-Status der Shakespearesonette. Zahlreiche sinn- und wortgetreue, zum Teil hervorragende Übersetzungen dieser Gedichte ins Deutsche liegen bereits vor. Hinzukommt, daß immer mehr Leser selbst dazu in der Lage sind, sich ein Bild des Originals in seiner Ursprungssprache zu machen. Ich betone daher einen anderen, jedem Übersetzungsvorgang inhärenten Aspekt: den der Interpretation. Die notwendigerweise zeitgebunden ist. Radikalübersetzungen stellen beides, Interpretation und Zeithorizont, sichtbar aus. Radikalübersetzungen sind Parasiten und geben zu, daß sie es sind. Sie sind, potentiell, aber auch Anti-Ideologeme. Kanonisierte Übersetzungsvarianten zeigen sich im Licht des „neuen“ Themas als manchmal recht festgefahrene Einschränkungen. So wurde beispielsweise für fair in Sonett I die im Kontext zunächst ungewöhnlichere Bedeutung hell statt schön gewählt. Aus dieser kleinen ‚Verschiebung‘ ergeben sich unter dem Aspekt des Klonens weitreichende Veränderungen; zum Teil etwa auf Grund der deutschen Sonderverwendung von ‚hell‘ in ‚helle sein‘, die sich mit der Frage nach den Auswahlkriterien für klonenswertes „Menschenmaterial“ verbindet.
Ulrike Draesner auf dem Podium 2008
Foto: Georg Pöhlein
A und O der Radikalübersetzungen ist ihr Verfahren. Ich lasse das Thema nicht nur Thema sein, sondern übertrage es auch in die sprachliche Vorgehensweise. Klonen ist eine radikale Methode der Transformierung von ‚Natur‘ nach Wunsch und Vorstellung des Menschen. ‚Radikal‘ meint dabei auch ‚von der Wurzel aus‘. Meine Radikalübersetzungen drehen Shakespeares Worte um, fassen sie bewußt an den ‚falschen‘, nämlich nicht kanonischen Enden ihrer Polysemantizität, stellen sie von den Füßen auf den Kopf – so wie die ’natürliche‘ Welt der Reproduktion durch die Möglichkeit des Klonens verkehrt wird. Übersetzungen wie etwa die von tires im Sonett 53 als Gummi-Overall beruhen nicht auf einer Verwechslung von Kleidung (attire) und tires (Reifen), sondern auf einer Verschmelzung der jeweils involvierten Semantik. Sonderwortbedeutungen aus der Welt der Chemie, Biologie, Molekularwissenschaften u.a. treten in den deutschen Gedichten an die Oberfläche (etwa arguments in Sonett 38 als ‚Variablen‘). Homophonien wie cherish/cherry (Sonett 11) werden als scheinbare „Verhörungen“, als Spiegelbilder von Chromosom-Chiasmen, in die Übersetzung aufgenommen; Waren- und Produktwelt wandern über ihre Namen in sie ein.
Shakespeares, in den Sonetten mehrfach durchgeführtes Spiel mit dem ersten Element seines Vornamens aufgreifend, ließe sich das Prinzip meines Übersetzens als will-ful misunderstanding bezeichnen. Es verfährt weder willkürlich noch bloß assoziativ, sondern kämmt bzw. streicht die Bedeutungen in eine Richtung, die diverse zeitgenössische Erhaltungs- und Reproduktionstechniken (Film und Fotografie, Kopieren, Tiefkühlung, Organverpflanzung, Genbiologie, Datenpeicherung) umfaßt; es „überträgt“ also auch in diesem Sinn.
Reim, Metrum und Silbenzahl der Vorlage sind ebenfalls als Erfindungs- und Stimmmöglichkeiten aufgefaßt, die aufgegriffen, das heißt variiert, verändert, übersetzt werden wollen. So kommt es zu Binnenreimen, Verschiebungen des rhyming couplet am Ende in das Sonett hinein u.a. Im Sonett als klassischem ‚Anklanggedicht‘ klingt heute der Reim selbst nurmehr an bzw. wird in (Teil-)Anagramme aufgelöst: in der Welt der reproduzierbaren und damit gesteigerten Einzelheit reimt sich nichts mehr. Es besteht nur mehr aus den gleichen Buchstaben (wie, für die Genetiker, wir?).
To change the subject: Shakespeares Sonette sind paradox. Sie lieben die sich in Spiralen steigernde Gedankenführung, den Widerspruch auf kleinstem Raum. Das Ich-Subjekt der Rede wechselt ständig, ohne jemals das Thema zu wechseln (wie krieg ich dich und wie überleben wir, was ein Teil dessen ist, wie ich dich kriege). Als Spirale gesagt: in der Unwechselbarkeit des Themas wird das Subjekt dann allerdings seinerseits unverwechselbar und somit zu einem Subjekt, das sich nicht unterwirft, indem es sich dem Rondo der Rollen stets unterwirft, um am Ende dadurch, daß es nicht mehr wechselt, sondern sich als Wechselndes fixiert, dem Thema eine weitere Spiraldrehung zuzufügen im Bäumchen-wechsel-dich-Spiel der Rede.
Diese Beschreibung des Shakespearschen Sonett-Ichs läßt sich auch als Zeichnung der gewundenen (sich windenden und für uns, heute, unumwunden nicht denkbaren) Identität eines Klons lesen. So daß the change of subject in den Übersetzungen keinen wirklichen Wechsel bedeutet: weder des Themas noch des Subjektes. Traum und Alptraum treiben das Rad der Shakespearschen 154-Bäumchen-wechsel-dich-Maschine wechselnd an. Traum und Alptraum sind die Grenzen, an denen jemand ruft: let’s change the subject, und damit meint „ich kann nicht mehr“. Traum und Alptraum waren (und sind) die Gründe, aus denen Menschen davon träumten, Menschen zu verändern. Traum und Alptraum ist der Klon, dessen Erscheinen das Subjekt grundlegend, fundamental, in allem, wie wir es je verstanden haben, ändert – indem er es sich gleichen läßt.
Die Ethik weiß nicht, was damit tun. Sie schaut zu Boden. Und die Sprache? Sie schaut in alle Richtungen zugleich. Sie tat es schon vor 400 Jahren. Wir schauen ihr hinterher. Und sehen darin, was wir schon wußten: uns selbst. Doch so, wie wir uns nicht wußten. Vielleicht ist auch die Sprache unser Klon? Aus unseren Möglichkeiten gezeugt und uns, als Reales unserer Möglichkeiten, immer voraus. Etwas, was auf uns zurückschaut und mit uns Bäumchen-wechsel-dich spielt: to change the subject.
© Ulrike Draesner