Übersetzungen: eine Auseinandersetzung mit Fremde

von Esther Kinsky

Ich schreibe vom Übersetzen, dem Umgang mit zwei Sprachen und dem Raum zwischen diesen Sprachen, der sich beim Vorgang des Übersetzens auftut. Es ist keine Anleitung zum Übersetzen, kein Handbuch der Grundregeln, die beim Übertragen von Text zu beachten wären, keine Unterweisung im Jonglieren von Worten für Erfolgsnummern im Großen Sprachzirkus.

Es ist mir zwar hier und da daran gelegen, Missverständnisse zurechtzurücken, die mir immer wieder begegnet sind, doch ich habe keine Empfehlungen zu geben und noch viel weniger habe ich Urteile zu fällen oder zu vermitteln. Die Auseinandersetzung mit dem Vorgang und den Mitteln des Übersetzens, die ich hier unternehmen möchte, ist eher ein Bericht, eine Bestandsaufnahme der Gedanken, zu denen ich über die Jahre des Übersetzens immer wieder zurückgekehrt bin. Diese Fragen zu Sprache und Fremde stellen sich unweigerlich, wenn man sich mit der Beziehung beschäftigt, in die zwei Texte durch die Übersetzung treten. Es ist ein persönlicher Bericht, weil die Handhabung von Sprache etwas Persönliches ist, das sich nicht in allgemeine Regeln, Tatsachen oder Grundsätze umschreiben oder übersetzen lässt.

Mein Gegenstand sind Prosatexte, keine Lyrik, zu deren Übersetzung ich anderes zu sagen hätte. Doch es geht immer um die Übersetzung von literarischen Texten und deshalb zwangsläufig nicht um die bloße Vermittelbarkeit von „Inhalten“. Ich halte nicht viel von der Betonung der Rolle des Übersetzers als „Brückenbauer“ und Kulturvermittler. Der Übersetzer ist kein Fremdenführer, auch wenn die Fremde sein Gegenstand ist. Einblicke in andere Kulturen und Gepflogenheiten mögen ein Nebenprodukt der Veröffentlichungen und Verfügbarkeit übersetzter literarischer Texte sein, aber nicht ihr Zweck und Ziel. Jede Übersetzung ist in erster Linie das Ergebnis eines Gestaltungsprozesses von Sprache als Material, der nicht aus der Beschäftigung mit einem Gegenstand erwächst, sondern aus der Beschäftigung mit der Spannung zwischen zwei Arten der Behandlung eines Gegenstands. Das ist ein Prozess, in dem das „Was“ hinter dem „Wie“ zurücktritt. Dieses „Wie“ ist hier der Gegenstand. Das „Was“ ist nur insofern interessant, als es Schichten des „Wie“ offenlegt, die weiter und tiefer reichen, als die meisten Leser vermuten.

Ein Tisch ist ein Tisch

Eine meiner Urgroßmütter mütterlicherseits, eine alte Frau, die den größten Teil ihres Lebens auf einem Einödhof verbracht und elf Kinder in den Grundregeln des Lebens auf einem Einödhof unterwiesen hatte, reagierte kopfschüttelnd, als ihre Enkelin stolz die ersten Französischvokabeln ausprobierte: „Aber das geht doch nicht“, soll sie gesagt haben, „ein Tisch ist doch ein Tisch, dazu kann man nicht einfach ‚tah-ble‘ sagen!“

Ein so seliges Aufgehobensein im Vertrauen auf die Identität von Namen und Sein in fortgeschrittenem Alter wurde in der Familie sogar von denen belächelt, die selbst keine Fremdsprache beherrschten. Wahrscheinlich lächelten sie, weil sie aus flüchtiger Erfahrung wussten oder aufgrund von Berichten glaubten, dass sich Fremde fremd artikulierten, was ihnen wiederum die vielleicht willkommene Gelegenheit bot, diesen Fremden eins auf den Deckel zu geben, um sie zum Schweigen zu bringen.

Dabei hatte die Urgroßmutter eigentlich Recht. Dieser Tisch, in ihrer Stube und umringt von ihren Stühlen, vielleicht auch mit dem Französischheft ihrer Enkelin darauf, konnte für sie immer nur ein Tisch sein, Bild und Name waren miteinander verwachsen, und man hätte alles ringsum umbenennen müssen, um dem Tisch auch bei einem anderen Namen nennen zu können. Hätte man ihr das Bild eines gänzlich anderen Tisches gezeigt – rund und rotweiß gepunktet, oder gülden, mit zierlich geschwungenen Beinen –, hätte sie die Bezeichnung tah-ble unter Umständen hingenommen und sich damit abgefunden, dass man ein Möbelstück mit einer ganz ähnlichen Funktion wie ihr Tisch, aber mit einem ganz anderen Aussehen, auch anders nennt. Fremde Dinge, fremde Namen – das mochte es geben, nur ihre Welt wollte sie sich nicht fremdsprechen lassen. Hätte sie je einen Gedanken auf Fragen von Übersetzung verschwendet, hätte sie wahrscheinlich ihre Welt für unübersetzbar erklärt.

Wie es mit der Einstellung der kopfschüttelnden Urgroßmutter zu den Französischkenntnissen ihrer Enkelin weiterging, weiß ich nicht. Die Tisch-Table-Episode war einer dieser kleinen Familienschwänke, die etwas illustrieren sollen, was sicher weniger mit Übersetzung zu tun hat als mit Status und Geläufigkeit von Fremde, ein versteckter Hinweis auf eine Art Fortschritt. Alte Frauen, die gelebt haben wie meine Urgroßmutter, werden sich vor sechzig, siebzig Jahren einfach damit abgefunden haben, dass eine Enkelin Worte formte, murmelte, las und schrieb, die sie nicht verstanden und die mit ihrer Welt nichts zu tun hatten. Wahrscheinlich starb die Urgroßmutter, bevor meine Mutter ihr Französisch zu dem Hokuspokus ausgebaut hatte, den wir als Kinder mitbekamen, wenn sie vor fremdsprachigen Gästen die Worte wie verschreckte Kaninchen aus dem Sprachzylinder zog und fallenließ. Wir schauten mit immer weniger weit geöffneten Mündern zu und begriffen bald, welches Kaninchen zu welchem Gegenstand oder Vorgang gehörte, Tisch und Brot, Glas und Teller, alle Dinge konnten anders heißen und blieben doch vor unseren Augen dieselben. Auch wenn dieses Fremdsprechen der Dinge damals noch etwas von einer Zirkusnummer hatte, war es doch nichts Befremdendes, und auch ohne das Wort „übersetzen“ zu kennen, war die Übersetzbarkeit der Welt um mich herum etwas Selbstverständliches.

Die Hinnahme der oberflächlichen Übersetzbarkeit der Welt ist da, wo die Begegnung mit Fremdsprache zur Alltagserfahrung gehört, nie etwas Besonderes, und das Erleben des „Fremdsprechens“ als Selbstverständlichkeit macht natürlich noch keinen Übersetzer. Um das zu werden, überhaupt werden zu wollen, braucht man sicher eine Neigung zur Sprache als Material, so wie ein Musiker eine Neigung zu seinem bestimmten Instrument hat und der Bildhauer eine Neigung zu seinem Werkstoff. Sprache ist kein festgelegtes System, in dem man Worte nach bestimmten Regeln über vorgezeichnete Bahnen schiebt, sondern ein Stoff, der einen überwältigenden Vorrat an Möglichkeiten bietet, der Welt Ausdruck zu verleihen.

Sprache ist einerseits beherrschende Konvention, andererseits unser eigenster Besitz. Sie ist das Produkt kollektiver Geschichte, und dennoch trägt jeder seine eigene Vorstellung zu jedem Wort, jeder sein eigenes, in persönlicher Geschichte verankertes Verhältnis zu den Namen der Dinge in sich, auch wenn die Eigenart dieses Verhältnisses nur sehr selten artikuliert wird und unter der verhärteten Schicht der Verständigungsfunktion in unterschiedlich tiefem Schlummer liegt. Jede Begegnung mit Fremdsprache ist eine Herausforderung dieser Sprach-Welt, der persönlichen wie der kollektiven, wobei allerdings letztere durch die schlichte Notwendigkeit eines Konsenses weniger betroffen ist.

Das Andere und das Eigene

Verstehen wir einen geschriebenen Text als eine in Worten geschaffene Welt für sich, ist Übersetzen das Umbenennen dieser Welt. Ganz vordergründig betrachtet ist eine Voraussetzung die, dass die Übersetzungssprache einfach das Material bereithält – an Vokabeln und grammatischen Möglichkeiten –, das dem Text den Boden bereitet. Sprachen sind denkbar, die kein Wort für bestimmte Phänomene der Natur oder kein Konditional enthalten, so dass bei der Übersetzung eines Textes, für den diese fehlenden Mittel wesentlich sind, überfrachtende Behelfe der Wahrnehmung des Textes immer im Weg stehen. Das Vokabular – als das „Was“ des Gemeinten – ist dabei unter den Sprachen, die am Literaturaustausch beteiligt sind, meistens ein weniger großes Problem als grammatische Voraussetzungen. Weder das Englische noch die slawischen Sprachen zum Beispiel verfügen über eine ausdrückliche Form der indirekten Rede, so dass die Übertragung langer Texte, deren wesentliches Stilmerkmal die Verwendung indirekter Rede ist, zu einem Drahtseilakt wird, in dem der Übersetzer eigenhändig Sprache schafft. Diese materielle Übersetzbarkeit verlangt Neugier und Vertrauen des Übersetzers, beides bezogen auf die Möglichkeiten der Sprache als gestaltbarem Material, ähnlich dem Lehm, aus dem die Menschen vor dem Turmbau die Ziegel als ihr erstes „erfundenes“ Baumaterial formten.

Neben diesen materiellen Bedingungen handelt es sich bei einer literarischen Übersetzung um das Hinüberheben des Benannten mit all seinen Bezügen und Konnotationen, all seiner Geschichte in ein anderes, fremdes, neues Wort-Universum, in dem sich zwangsläufig die Bezüge und Konnotationen verschieben oder verwischen, die den Wörtern zugrundeliegende Geschichte eine andere ist, der Konsens nur auf Umwegen zugänglich wird. Ein banales Beispiel dafür ist die „Kakerlakenfrage“. Auf Polnisch werden Kakerlaken als „prusaki“ – Preußen – bezeichnet. Der Name leitet sich einerseits von der lateinischen Artenbezeichnung „Blatella germanica“ her, ist andererseits aber natürlich auch Ausdruck der verständlichen Preußen- und Deutschenfeindlichkeit und in diesem historisch-sozialen Kontext verankert. Handelt es sich um einen Text aus jüngster Zeit, ist dieser deutschenfeindliche Beiklang im Original meistens in den Hintergrund getreten, und es handelt sich einfach um eine normal umgangssprachliche Bezeichnung für ein Ungeziefer. Bei älteren Texten jedoch stellt sich die Frage, wie das Wort zu übersetzen ist. Nimmt man das früher im Deutschen gängige und ebenfalls feindselige „Franzosen“ oder „Russen“ als Bezeichnung für Kakerlaken, greift man entfremdend in den polnischen Kontext ein, nimmt man „Preußen“ und annotiert es, schafft man eine erklärerische Distanz, die dem Fluss des Textes abträglich ist, nimmt man das neutrale „Kakerlaken“, begibt man sich auf eine andere Sprach­ebene und verleiht dem Text an dieser Stelle eine Färbung, die dem Original nicht entspricht und wahrscheinlich auch von Ton und Färbung des übrigen Textes abweicht. Diese Nuancen mögen Lesern unwesentlich oder sogar überlesenswert erscheinen. Als Übersetzer jedoch ist man jedem Wort des Originals verpflichtet und für jedes Wort des übertragenen Texts verantwortlich und damit unentwegt zu Entscheidungen und Abwägungen herausgefordert: Wie weit bleibt die Übersetzung den Bezügen des Originals verbunden, was heißt das für den Text, der entsteht, wie viel Fremde bleibt, wie sehr wird das Original durch eine Anverwandlung an die Übersetzungssprache seinem ursprünglichen „autorisierten“ Kontext entfremdet? Der Prozess, in dem man die Antworten auf diese Fragen findet, ist weniger analytisch als intuitiv, weniger ein inneres Für und Wider als ein Erproben des Tons, ein Stimmen der sprachlichen Instrumente.

Das „Andere“ enthält immer auch ein Element der Verunsicherung des „Eigenen“, eine Infragestellung der Bilder, Ordnungen und Werte, die mit den Worten und Sätzen verbunden sind, weil sich, naturwissenschaftlich gesprochen, die Valenzen der Ausdrucksmittel unterscheiden. Diese Unterschiede spielen sich auf kollektiver Ebene genauso ab wie auf persönlicher. So ist im Deutschen beispielsweise das Wort „Führer“ so belastet, dass es nur sehr bedingt und erläutert als Übersetzung des neutralen englischen „guide“ oder polnischen „przewodnik“ fungieren kann. Wie hell oder dunkel wird mein „rot“, wenn ich erfahre, dass es in einer anderen Sprache „red“ oder „rouge“ heißt, wie schmächtig oder ausladend ist mein Baum plötzlich gegen „tree“ oder „arbre“, was heißt es für meine kurze Aussage „ich ging fort“, wenn ich eine Sprache kenne, in der es verschiedene Verben für „Gehen“ gibt, deren Gebrauch sich danach richtet, ob ich mehrmals gehe, oder ob ich einen kurzen Weg zurücklege, mit Ziel, ohne Ziel, und ob ich das Ankommen mit einkalkuliere. Jedes solche Wissen um „Anderes“ schafft eine Distanz zum Eigenen, lässt die Mittel und Möglichkeiten der vertrauten Sprache in einem anderen Licht erscheinen. Der Umgang mit diesen durch das Andere erhellten Mitteln und Möglichkeiten des Eigenen, die Auslotung von Tiefen der vertrauten Sprache gegen den Horizont der fremden, macht einen wesentlichen Teil der stets am Hinterfragen des Worts orientierten Übersetzungsarbeit aus.

Sagen und Nichtsagen

Zum Wort gehört auch der leere Zwischenraum, der ihm vorausgeht und folgt, so wie bei jedem Ausgesprochenen auch Unausgesprochenes mitschwingt. Vor langer Zeit las ich eine Geschichte von einem älteren Mann, der für seine verstorbene Mutter Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprechen muss. Es ist Jahrzehnte her, seit er das letzte Mal mit hebräischen Worten und hebräischer Schrift umgegangen ist, noch länger ist es her, dass er als Kind das Gebet lesen gelernt hat. Er hat keine Zeit, seine Hebräischkenntnisse wieder aufzufrischen, und versucht, sich die hebräischen Zeichen und die phonetische Umschrift dazu einzuprägen. Als der Moment kommt, in dem er das Gebet sagen soll, hilft ihm nur die Erinnerung an die leeren Räume zwischen den Worten dabei, sich auf den Klang den Gebetes zu besinnen und es zu sprechen. Der Holocaust ist als jahrhundertdefinierendes Ereignis im größten Teil der lesenden Welt so präsent, dass man davon ausgehen kann, dass in Original und Übersetzung der Bezug auf die Abwesenheit, auf das Verschwinden der jüdischen Bevölkerung erkannt wird; das, was ist – der Text –, erschließt sich nur noch durch das, was nicht ist. Doch wie wird sich diese Geschichte in einer Kultur lesen, in der es, wenn überhaupt, nur vermittelte Kenntnis europäischer Geschichte gibt? Wenn es eine chinesische Übersetzung der Geschichte gibt – wie liest sie etwa ein zwanzigjähriger Chinese in Chonqing, der seine Tage damit verbringt, Einzelteile in Kleincomputer zu montieren? Welche Bedeutung bekommen dann sowohl das Ungesagte – der historische Bezug – als auch die leeren Zwischenräume selbst? Wie verleiht man dem Ungesagten, das ebenso wie das Gesagte auf einem Konsens beruht, Ausdruck, ohne das vom Autor bestimmte Schweigen zu brechen? Auszusprechen, was im Original ausdrücklich unausgesprochen bleibt, ist ein heikler Eingriff. Soll man sich mit Fußnoten helfen, mit Anmerkungen? Einen Schlüssel an den Text herantragen, dessen sich der perplexe Leser nach Belieben bedienen kann? Das fremde Nichtsagen gibt noch mehr Probleme auf als das fremde Sagen. Zum Fremdsprechen gehört auch das Fremdschweigen. Auch das ist eine Frage, die der Übersetzer immer wieder zu entscheiden hat: Wie ist die Zugänglichkeit des Textes zu bestimmen?

„Warum“ ist eine Frage, die Übersetzern so oft gestellt wird. Warum dieser Autor, warum dieses Buch, warum diese Sprache, warum überhaupt übersetzen? Die einen stellen es sich sehr einfach vor – zu einfach, um Anspruch auf eine Art Urheberschaft zu erheben –, die anderen zu schwer, weil ihnen Fremdes im Allgemeinen und Fremdsprachen im Besonderen schwierig vorkommen. Aber Kunstreiten ist auch schwierig, und das Berechnen der Bahnen ferner Sterne ebenso, doch ziehen andere Berufe weniger Fragen an. Vielleicht ist es der dauernde Umgang mit der Fremde, der solche Fragen provoziert, vielleicht auch die anscheinende Unbedeutendheit von Übersetzern, die freiwillig immer im Schatten der Autoren stehen. Warum dann nicht lieber selbst schreiben? Warum so etwas Zweitbestes wie die Anfertigung einer Art Kopie?

Viele dieser Fragen beruhen auf verzeihlicher Unkenntnis des nahen Umgangs mit Sprache, andere auf der weniger verzeihlichen Vorstellung einer Rangfolge von Original und Übersetzung, die in der Regel das Original der Kunst, die Übersetzung dem Können zuordnet, einem etwas dubiosen Handwerk, das nichts produziert als Worte.

Um die Frage „Schreiben oder Übersetzen“ und die Bedeutung des Originals im Verhältnis zur Übersetzung wird es später gehen, vorerst sei nur festgestellt, dass die Übersetzung, um die es hier geht, weder etwas Zweitbestes ist noch eine Kopie.

Das andere Blau

Die Übersetzung will nicht mit dem Original konkurrieren, sie will es auch nicht imitieren. Sie ist in erster Linie Ausdruck der Auseinandersetzung mit Fremde, und zwar auf der menschlichsten Ebene – der Sprache. Zu dieser Auseinandersetzung führt ein weiter Weg, der fast immer mit einer Geschichte beginnt. Als Kind fragte ich einmal meinen Vater, woran man merke, ob man eine Fremdsprache ganz und gar kenne. Ich hatte gerade angefangen, Englisch zu lernen, und hoffte wahrscheinlich, dem fließenden und mir unverständlichen Italienisch meines Vaters in absehbarer Zeit mit meinem Englisch die Stirn bieten zu können. Mich beindruckte bei diesem augenscheinlichen Beherrschen der Fremdsprache nicht nur der andere Klang und die völlige Unkenntlichkeit der Namen für die Dinge, sondern auch die Veränderung in Gesichtsausdruck, Stimme und Gestik, in der mir der ganze Vater plötzlich fremd erschien. Ohne zu zögern und auch nur von der Landkarte aufzublicken, in die er gerade vertieft war – gebirgsbraune Küsten, die an verschiedenfarbige Meerestönungen stießen –, sagte er: „Das weißt du dann, wenn du bei dem Wort für Blau ein ganz anderes Blau siehst als auf Deutsch und bei dem Wort für Berg einen ganz anderen Berg.“ Irgendwie wird mich diese etwas vage Antwort zufriedengestellt haben, jedenfalls erinnere ich mich nicht nur daran, wie ich immer wieder erwartungsvoll die Augen schloss, um zu sehen, ob das Wort „mountain“ endlich ein Bild zutage förderte, das den aus meinem Kinderzimmerfenster sichtbaren Petersberg verdrängte, und welcher Farbton mir bei „blue“ erschien, sondern ich ertappte mich auch im Erwachsenenalter noch beim Spiel mit diesen beiden Prüfsteinen in verschiedenen Sprachen. Mit der Zeit wurde mir klar, dass jede Sprache eine Welt für sich ist, mit ihrem eigenen Netz der Bezüge, der Bilder, der Wertigkeiten. Und dass jedes Erlernen, jedes Sich-Aneignen einer Fremdsprache verbunden ist mit einem „Fremdsprechen“ der Welt, denn mit dem neuen Namen, den man ausspricht, assoziiert sich auch ein neuer Anblick der Welt, ein neuer Aspekt der Dinge, der Farben, der Wahrnehmung von Zeit.

Die nie vergessene Antwort meines Vaters auf die unbedarft-ungeduldige Kinderfrage rührte bewusst oder unbewusst und von mir natürlich damals noch unerkannt an das Wesentliche, das jeden umtreibt, der sich mit Sprache als gestaltbarem Material befasst: Was macht den Charakter einer Sprache aus, wie vermittelt sie den Inhalt, wie nennt, bezeichnet, „meint“ sie? Sprachen unterscheiden sich nicht nur in formaler Hinsicht und in Klang, Ton- und Stimmungslagen, sondern auch in so wesentlichen Dingen wie dem Umgang mit der Zeit. Sich darüber zu verständigen, was man meint, ist nicht schwer, doch das Benennen von Dingen oder Erscheinungen macht noch keine Sprache aus. Der Name ist die kleine Spitze des Eisbergs, der aus den untergründig angesammelten unzähligen Arten des Sprechens von dem bezeichneten Ding in der betreffenden Sprache besteht. Das Bemühen um ein Verständnis dieser anderen Art des Sprechens von etwas steht am Anfang jedes Übersetzerwegs, ein Prozess, der keinen Regeln folgt, mehr im Erfahren besteht als im Erlernen, mehr im Sich-Einlassen auf die andere Sprachwelt als im distanzierten Analysieren oder der Konzentration auf die Vermittlung von Inhalt. Man horcht auf die Wirkung des Klangs in Zusammenhang mit den Wortbedeutungen, findet allmählich eigenständige Bilder im Kopf zu den Namen der Dinge und eigene Tönungen zu den Namen der Farben. Und dann, wenn schließlich ein der fremden Sprache eigener Berg im Kopf erscheint, sobald er gerufen wird, oder das andere Blau – dann tut sich eine Kluft zwischen den Wörtern der beiden Sprachen auf, die vor­übergehend jede Vermittlung unmöglich, müßig, sinnlos erscheinen lässt, weil die Unterschiede zwischen den Bildern so groß sind. Wie kann ich diesen oder jenen spitzfelsigen „mountain“ zum „Berg“ werden lassen, der doch gerundet und niedrig ist, und überhaupt in der anderen Sprache allenfalls ein „hill“ wäre? Auf welchem Wege soll das wassergrünliche „blue“ durch das abendlich dunstige, ganz leicht violett getönte „blau“ wiedergegeben werden?

Als ich meinem Vater die Frage damals stellte, hatte ich eine ganz vage Vorstellung vom „Übersetzen“. Bestrebt, mir kein Wort zwischen zwei Kinderbuchdeckeln entgehen zu lassen, war ich auf unverständliche Originaltitel im Impressum gestoßen und hatte mir erklären lassen, dass das, was ich las, irgendwo in einer anderen Form existierte, auf Schwedisch, Englisch, Französisch. Diese Tatsache beschäftigte mich, die Vorstellung, dass Kinder in Schweden, England oder Frankreich von denselben Szenen in anderen, mir völlig unverständlichen Worten zum Lachen, Weinen, Fürchten gebracht wurden als ich, war seltsam, aber auch faszinierend. Die Faszination blieb, die Fragen, die sich in ihrem Gefolge erhoben, änderten sich mit den Jahren. Eine Frage jedoch stand immer dicht unter der Oberfläche des deutschen Textes, den ich las: Wie hört sich das im Original an? Wie „fühlt“ sich das an, wenn es anders klingt? Ich entzifferte die rätselhaften Originaltitel, verstand nach und nach die Worte in der einen oder anderen Sprache, erkannte Unterschiede in den Formulierungen, versuchte, ein Original neben der Übersetzung zu lesen. Aus der Frage nach dem Wie in Klang und Stimmung des Originals wurde die Frage nach dem Vorgang selbst: Was spielt sich ab, wenn man Worte und Text aus der einen Sprachwelt in die andere schiebt? Wie geht das?

Mit dieser Frage tritt man anders an Sprache heran, als man es schreibend tut. Während das Interesse am Materiellen der eigenen Sprache, an ihrer Formbarkeit und ihren Möglichkeiten auch für den Schreibenden Ausgangspunkt sein können, ist für den Übersetzer der Prozess der Verwandlung das Wesentliche. Für Nicht-Zauberer ist Verwandlung ein mühsames Geschäft, und nur langsam lernt man, durch wie viele Stadien der Fremdheit man die eigene Sprache ziehen, schleifen, hieven muss, um das Ergebnis neben das Original zu stellen und ihm eine gewisse Eigenständigkeit zuzugestehen.

Das Leben der Sprache

Es geht mir hier wie gesagt um das Übersetzen als Arbeit am Text als Sprachwerk, am Text als Textur, und nicht um die Übertragung von Inhalt. Sicher gibt es auch viele literarische Übersetzer, die von Inhalten zum Übersetzen angeregt wurden, die bestimmte Texte ihrer Aussage wegen wichtig finden, und ich will keinen Anspruch erheben, auf die beliebten „WarumFragen“ an Übersetzer verbindliche Antworten zu geben. Doch ist der Akt des Übersetzens, diese schöpferische Geste des Hinüberhebens aus der einen Sprache in die andere, ein Vorgang, mit dem sich wahrscheinlich jeder nicht ausschließlich dem Pragmatismus der „Kulturvermittlung“ verschriebene Übersetzer literarischer Texte irgendwann beschäftigt, um zu erkennen, dass er zuerst einmal die eigene, vertraute Sprache stärker zu Bewusstsein bringt, das Repertoire von Namen, Benennungen, Bezeichnungen, die in jedem Kopf eine durch Erinnerung, Erlebnis, Erfahrung andere und eigene Färbung haben und eingebettet sind in das vertraute Tempusraster zur Ordnung von Geschehen im Fluss der Zeit. Diese dem Sprecher zugewachsene Sprache muss der Übersetzer der Fremdsprache entgegenhalten, um die beiden Texturen von Original und Übersetzung in eine Harmonie zu bringen. Die Definition dieser Harmonie ist notwendigerweise subjektiv und bleibt allein dem Übersetzer überlassen und seinem Empfinden von der Zusammenstimmigkeit der Bezeichnungen, der Namen, der Klänge und der Verortung von Handlung in der Zeit.

Die Grundvoraussetzung für jede Arbeit an Übersetzung ist die Bereitschaft, sich auf eine Andersnamigkeit der Welt einzulassen und auf das damit verbundene, oft hoffnungslose Ringen um eine annähernde Kongruenz zwischen originalem und übersetztem Text. Diese Bereitschaft beruht nicht nur auf dem Interesse am anderen Klang und Namen, sondern auch an den Schattenrändern, Rissen und Klüften, die sich bei dem übersetzerischen Versuch auftun, zwei Sprachwerke zur Deckung zu bringen. Jeder Übersetzungsvorgang, der Text neben oder jenseits seiner bloßen Aussagefunktion als ein gestaltetes Material begreift, wird mit diesen Rändern, Rissen und Klüften mehr befasst sein als mit den Worten und Satzteilen, die sich einfach zu fügen scheinen, denn in den Deckungsungleichheiten, in den unvermeidlichen Divergenzen öffnet sich eine fruchtbare Welt der Infragestellung von Gegebenem, der Unterwanderung von Festgeschriebenem, der Eigenartigkeit von sprachlichem Leben.

Am Hin und Her über dieser Kluft, in der sich mit der Zeit ein fruchtbarer Bodensatz aus all den verworfenen Versuchen, den Wortschnitzen, Ansätzen, Bildern und Klängen bildet, wird man Übersetzer. Aus den Ablagerungen in dieser Kluft wächst dann etwas Neues, ein eigenes kleines Universum der Erinnerungen, Erfahrungen, Erkenntnisse, die beiden Sprachen gleichermaßen angehören, ein Universum mit seinem eigenen Blau und eigenen Berg, das nur im übersetzenden Kopf besteht. Darum mag man Übersetzer werden.