Übersetzen als Sonderfall des Selberschreibens
von Oskar Pastior
Einmal aus der Werkstatt plaudern von diesem Umgang, den man auch Übersetzen nennt; Umgang im Sinne von Umgehung des Unmöglichen; und Übersetzen demnach wie „neben die Schule gehen“ – aus der zu plaudern sich einer anschickt, der steif und fest behauptet, er sei, wenn nun mal zwischen Selberschreiben und Übersetzen unterschieden werden muß, in erster Linie der Selberschreiber; und dann erst, im Abstand seines launisch sich die Rosinen herauspickenden, letzten Endes durch Abschweifung und Wechselbad doch auch irgendwo erquickenden Hobbys, halt nebenher und nebenbei manchmal ein Übersetzer. Daß mir bei dieser Unterscheidung nicht ganz wohl ist, verdanke ich leichtfertigerweise eben dieser Schule, neben die zu gehen ja auch kein Zuckerschlecken ist, undsoweiter.
Keine Theorie des Übersetzens also. Bloß ein paar Aspekte, Überschneidungen, Punkte, wo Bio- und Bibliographie Knötchen ansetzten.
Wenn etwa „Kindheit“, „Muttersprache“, „Siebenbürgen“ in diesen Worten gedacht werden, „das Vaterland“ aber wie eine Übersetzung von „patria“ klingt, so ist die Staatssprache Rumänisch zwar eine Fremdsprache gewesen, aber doch ein nicht wegzudenkendes Randfeld der eigenen – und diese wiederum so eigentümlich vertraut, daß sie als Deutsch bezeichnet werden kann. Vielleicht leben und definieren sich Sprachen von Minderheiten ständig durch ständig übersetzende Vergleiche – der Januskopf in der Suppe, das schizophren gespaltene Haar, der schiefe (produktive?) Unterschied. Da steckt im Selberschreiben auch schon das Blinzeln nach der Bedeutung durch grundsätzlich andere Raster (etwa die der Staatssprache in einem „hellen Kopf*), das Rechnen mit den engen Maschen und den weiten Maschen, bzw. ihrem Übersetzungsverhältnis untereinander. Und der Reiz des Maschenknüpfens. Und die Neugier auf dieses Blinzeln in Texten anderer Selberschreiber, auch der rumänischen Kollegen. Erst übersetzt heißt richtig gelesen. Erst ausformuliert heißt etwas verstanden.
Kein Wunder also, daß ein deutscher Autor in Rumänien sich bemüßigt fühlen konnte, auch Übersetzungen aus dem Rumänischen zu machen – für die rumäniendeutsche Leserschaft, denn es wird publiziert; aber heimlich, und weniger heimlich, im Hinblick auf die imaginäre deutsche Leserschaft seines Auslands („wo alles so heißt wie es ist und ist wie es heißt“ – Ansichtskartenreflex, Regenbogenlinguistik). Daß manche dieser Übersetzungen ins Kunstgewerbliche gerieten, lag nicht immer am Original. Auch meine Anfänge (Gedichte und Prosa von Tudor Arghezi, Panait Istrati und anderen, jüngeren Autoren) will ich davon nicht ausnehmen.
Andererseits bin ich rückblickend ziemlich davon überzeugt, daß die Anderthalb- oder Eindreiviertel-Sprachigkeit (wenn die rumänischen und andere Sprachkenntnisse hinzugerechnet werden) auch die Schärfung des Bewußtseins für die eigenen Schreibmöglichkeiten und -Positionen aktiviert, fast gar geprägt hat.
Kurzum, 1965 etwa stieß ich auf das Werk des 1895 in Siebenbürgen geborenen, 1961 gestorbenen und offiziellerseits eben wieder ans Licht geholten rumänischen Dichters und Kulturphilosophen Lucian Blaga, der in den frühen Dreißiger Jahren rumänischer Legationsrat in Wien war. 37-39 Gesandter in Lissabon, bis 48 Universitätsprofessor in Klausenburg und nach 51 dann einfacher Bibliotheksangestellter, zeitweilig in extremster Klausur (Gefängnis); der nebenbei den Faust und Werke von Lessing ins Rumänische übersetzt hat – und ich war damals gerade dabei, von Bukarest aus, jenseits der Karpathen die Landschaft meiner siebenbürgischen Kindheit und Jugend wieder einmal neu zu entdecken, viel Privates spielte da mit; noch war man versucht, dem Schaukelmoorgefühl der nachstalinistischen Jahre etwas wie ein neoklassizistisches Vertrauen vorzuschießen, schon meldeten sich Zweifel an der mit Hilfe von Sprach-Fertigbauteilen postulierten „historischen Gesetzmäßigkeit“, bei der es auf Hobelspäne nicht anzukommen habe – und da unterstand sich einer wie Blaga, Jahre zuvor mein hügeliges Refugium ausgelotet zu haben: der muß doch übersetzt, also übertönt, also zum Schweigen gebracht, zu eigen gemacht, also, und sei es als Goethe- oder Benn-Paraphrase, zur mystischen Auferstehung gebracht werden! Professionelle Übersetzer scheinen ethisch konditioniert zu sein – als Amateur ist man bloß Liebhaber. Die Überwindung der literarisch-geographischen Schamschwelle der Karpathen, vom Süden her; die Sado-Maso-Komponente . . . Nachträglich erscheint mir meine Zeit mit Blaga wie ein Aufbäumen in einer Sprachidylle, vor der Häutung.
Bei Chlebnikov – ich war gerade nach Berlin gekommen – war es was anderes. Ich glaube, mich reizte das Problem; die Unmöglichkeit, diesen Wortgebilden mit einer Sinn-Klang-Rhythmus-Über- tragung beizukommen; die Herausforderung, seine Methode, die er als „Sternensprache“ universell theoretisiert, aber den Ableitungs-, Kombinations- und Flexionsmöglichkeiten der russischen Sprache entnommen hatte, auf die im Deutschen angelegten Möglichkeiten zu übertragen. Reizvoll auch, weil Peter Urban, 1969, als er sich das Chlebnikovprojekt in den Kopf setzte, sich an eine ganze Reihe von Autoren wandte, alles Selberschreiber; so daß in dem (inzwischen vergriffenen) 1. Band der Rowohlt-Ausgabe viele Chlebnikovtexte in drei, vier, fünf Übertragungen parallel zu lesen sind, ein Optimum an Angebot. Wenn schon „Kennen nur aus der Analogie geschieht“, dann besser noch, wahrscheinlich, aus mehreren Analogien.
Uns standen die Texte sowohl im Original als auch in einer äußerst gründlichen semantisch-etymologisch-morphologisch- syntaktischen Textanalyse (von Rosemarie Ziegler) zur Verfügung. Einer Zeile Chlebnikov entsprach oft eine ganze Seite Beschreibung. Spannend war wie gesagt zunächst die Abstraktion: was da alles innerhalb des Russischen passiert; und was das Deutsche an Möglichkeiten bereithalten könnte, müßte. Wahrig, Kluge, Dornseiff und andere Wörterbücher halfen mir, deutsche Stammsilbenfamilien, oft bis zum Indoeuropäischen hin, zu durchforsten. Wirkliche Hilfe, im einzelnen, waren, glaube ich, die Ko- und Tugendbolde meiner durch relative Mehrsprachigkeit, durch ein eklektisches Germanistikstudium und durch die Liebe zu barocker und experimenteller Literatur erworbenen „Aufweichung“ des normativen Denkens – sie gaben mir den Mut zu Hochstapelei & Invention. Klanglich war auch einiges zu bewältigen; ich hielt mich lesend ans Original. Einfachstes Russisch – Lebensfunktionen und Arbeitsbereich – hatte ich ja noch im Ohr. So vermute ich, daß sich da einiges überlappte: Chlebnikovs Sprachlabor und privates Seelenlabor; in dem ich mich durch Hinwendung und starke Beschäftigung wohl auch am Deportationserlebnis früherer Jahre schadlos halten und ein wenig abstoßen konnte. Ich skizziere nur die langen Reihungsgebilde (Kraftakte) auf die Stammsilben „lach“, „lieb“ und „mach“ oder auf die Lautmythologien des P (Perun) und des L (Protokoll vom El); andere, kleine Gedichte erforderten eher eine alchemistische, mikrosynthetische Übersetzungsmethode – insgesamt möchte ich zur Arbeit an Chlebnikov sagen, daß sie stellenweise wie ein Freiheitsrausch war. Der Selberschreiber hat, vom Impuls her, profitiert. Damals begann er, immer nebenher, seine krimgotischen Lieder und Balladen, die natürlich was anderes sind, hervorzubringen.
Oskar Pastior (2006)
Foto: Georg Pöhlein
Übersetzen als Sonderfall des Selberschreibens; und im weitesten Sinne immer ein Experiment, dessen einmalige Anordnung, die von der Sache kommt, auch eine zum Projekt gehörende Ästhetik generiert. Wenn ich recht überlege, sind es meistens Zusammenführungen besonders auseinanderliegender Dinge, schwarze Schafe, weiße Kälber, Metapherngeröll – diskontinuine Geographie. Erwähnt sei bloß mein Kreuzungsversuch einer Kleist-Anekdote (von den zwei Baxern) mit einem Benn-Gedicht (Am Brückenwehr), jeweils der Wortschatz, in der Reihenfolge des Auftretens, des einen mit der syntaktischen Struktur und Rhythmik des anderen. Kleist durch Benn strukturiert und umgekehrt, ich katalysatorisch dabei. Das Ergebnis dieser „Berliner Kontamination“ konnte ich nicht voraussehen, das war die Anmaßung. Was wie ein spielerisches Puzzle begonnen hatte, erwies sich im Verlauf als unheimliches Spiel auf eine nahe Zeitgeschichte zu; ein Sog, der mich so betroffen machte, daß ich mich berechtigt sah, den Versuch mitsamt der Fußnote, wie er zustande kam, als literarischen Text festzuhalten. Irritiert bin ich noch immer; so ganz mechanisch einwandfrei (überprüfbar) ist die Sache nicht, denn trotz Methode und Machart: die Vorauswahl, die Vorentscheidung hatten bei mir gelegen. Freizusprechen bin ich nicht.
Oder Petrarca. Im Nachwort zu den „33 Gedichten“ versuche ich zu erklären, wie mein Petrarca-Projekt zustandekam, worin die Brechung zum Kennenlernen bestand und warum es keine „Übersetzung“ oder „Nachdichtung“ der entsprechenden italienischen Sonette im herkömmlichen Sinne ist. Das Unterfangen war einfach skizziert:
„Wie ein rund fünfzigjähriger, aus einer kraus waldigen… Landschaft stammender, von seiner Biographie ziemlich hin- und hergeschobener, heute im anonymen Westberlin ansässiger Autor, also die Stilisierung von mir, sich nach rund 600 Jahren den Gedichten und der Person seines Kollegen Francesco hinter den sieben Alpen zu nähern versucht hat Und dabei wieder Texte entstanden . .. Daß ich nicht italienisch spreche, war ja nicht ausschlaggebend. Als ich dann aber, es geschah plötzlich, eine (vermutlich mir gemäße) poetologische Aufgabenstellung zu entdecken glaubte, hatte mich bereits die Neugierde gepackt. Und zwar: versuchsweise einmal zu sehen, was innerhalb der poetischen Vorgänge, im Spannungsfeld der Begriffs- und Metaphernbildung, sich während der Kenntnisnahme durch Sprache ergeben könnte. Plump gesagt, die Metaphern (und auch der Umgang mit ihnen in manchen vorhandenen deutschen Übersetzungen) schienen mir unzuverlässig, aus zweiter Hand; es reizte mich, sie abzuklopfen, anzurubbeln, wie Abziehbilder; bloß mit dem Unterschied, daß ich hier ja die glänzend-bunte Oberflächenschicht der Bilder probeweise ,beseitigen‘ wollte, um herauszufinden, was sich, eher matt, monochrom, an Anschauung, Erkenntnisvorgängen, ja vielleicht Erkenntnistheorie, ,darunter‘ verbirgt; bei Petrarca verborgen haben mag. Die äußere Sonettform schien mir im Fluß seiner Wörter so aufzugehen, daß ihr Vorhandensein nichts als natürlich war, d.h. auch keinen eigentlichen Vorwurf darstellte. Neugierig war ich auf den fremden, also ‚meinen‘ Petrarca: durch den methodischen Trick, seine Metaphern ,in statu nascendi‘ zu überraschen, konnte ich durch die Zeitfalte schlüpfen und mich ihm nähern – ein wenig.“
Wenn ich am Schluß des Nachwortes dann frage, inwieweit „das Verfahren“ an meinen Gedichten noch ablesbar sei (nein, es ist nicht mehr zu erkennen, ist auf der Strecke geblieben, oder passiert, oder ausgeklammert – Feststellungen, die wiederum etwas vom „Inhalt“ der Gedichte umschreiben), so deshalb, weil im Projekt es mich ja bewegt hat. Nun sagen wir: interessiert das Muster, so ist es auf eine interessante Weise entstanden; ist das Muster undeutlich, wird an den Glauben appelliert; Glauben ist nicht interessant.
Mich interessiert aber die Hexenprobe: Wer nimmt mir ab, daß ich bei der Herstellung der 33 Gedichte „aus“ den 33 Sonetten nicht gemogelt habe? Oder so gemogelt, daß ich guten Gewissens sagen kann, ich hätte nicht gemogelt? Freilich, wenn ein Rest von Machart an die Oberfläche kommt, werde ich überführt – die Sache wird prüfbar, also schuldig, eine seltsame Kategorie, mehr als Attrappe nämlich, die im Projekt eingebaute Krise des Projektes. Nur solange „meine Petrarca-Gedichte“ unvergleichlich erscheinen, schenkt der Leser ihnen Glauben, oder nicht. Er wird an meinem Projekt geprüft: vertraut er ihm unbesehen, so ist er verloren, ein Weggefährte „auf meiner Seite“ des Scheiterns. Andererseits sind die treuesten Leser natürlich jene, die mir mißtrauen: so will ich es ja; und sie finden Substanz von Petrarca auch gegen mich in den Texten, falls sie sie finden. Zuneigung, falls es sie gibt, mißt nicht – das ist der Inhalt. Ich bin aber der Leser, der mißt, der Schreiber, der mißt, der Widersacher des Messens in einer Person mit dem Gegenstand, mit dem ich mich nur messen kann. Wie gesagt, die Hexenprobe. Indem ich mich eigenmächtig setze, denunziere ich Wort, Schöpfung und Setzung. Die dritten Sachen sind Vorgänge, der Wortschatz ist Inquisition. Unvorsichtig sind die Vorschüsse „vor den Bug“ – vielleicht eine Chance, vielleicht schon wieder Gallionsfiguren. Ohne Metaphern gäbe es keinen Abgrund unter den Planken, zum Scheitern. Mein offener Schiffbruch kleistert gleich die Mißverständnisse zu. Gleichzeitig liefert die Welt sich zu den Texten nach, das heißt ich glaube, indem ich rede, sie tut es.
Der nächste Autor ist ein lebender Autor. Marin Sorescu, Bukarest, geboren 1936, einer der wenigen rumänischen Lyriker, der mit leichter Schulter seit Jahren einherkommt, etwas wie den Atlas tragend; ihn zu übersetzen, hat mit Entspannung zu tun (Rekreation, Pause im Schulhof, Luft schöpfen – gegen Erschöpfung). Bälle, die mir zufliegen, die ich zurückgebe, die ganz normale Technik, 1:1.
Ist es wirklich so einfach? Die Realismusfalle in puncto Übersetzung lauert wohl in der Vorstellung, hinter dem Originaltext stünde ein Sachverhalt, ein Tatbestand, den es bloß zu präzisieren und dann ins Deutsche zu bringen gälte – sozusagen etwas intermediär Wirkliches, aber Außersprachliches. Nur: wie denke ich diesen Sachverhalt? rumänisch? deutsch? mathematisch? in anderen Zeichen? Hier kommt Whorf ins Spiel, den ich noch in Bukarest verschlungen hatte, Sprache und Denken. Es gibt also, streng genommen, kein Übersetzen. Nur Konfrontation, Begegnung mit der Grenze, die Illusion des Kennens und Lernens – und wie ich sprachlich reagiere. Die Sprachen in mir sind inkompatibel gemengt, Wasser und Fett, eine Art Emulsion, bis zur Verseifung. Bei Sorescu spreche ich ein falsches Rumänisch und ein falsches Deutsch – gerade falsch genug, daß es im Glücksfall stimmt.
Oskar Pastior
Es heißt, ich atme mit den Augen, reise mit dem Mund, lausche mich hoch in die Wolle. So verquickt, fällt jede Redensart ins Staunen – aus tiefster Physiognomie. Doch eh ich mich zur Stirn versehe („es mich verspricht“), schiebt was mich anmutet sich leider, ach, davor, davon . . . – fünffingrig auf Anhieb, und gebietend: o Achtung, aus der zweiten Hand, vor solcher Liebe. „Und wo denkst du hin?1. Da häng ich, atme als Geruch vom „Fisch an der Angel“ deine Sprache, halte Rücksicht auf die nachgeworfenen „Blinker“ („Vorliebnahme“, „exemplarisch“, „letztlich unausweichlich“), die Sinne zappeln, voll beschäftigt, gegen den Strich – und dann, fast unerwartet, wie anderswo; Leim und Routine . . . oder so verflogen? . . . Trotzdem, die Augen träumen weiter, quasi mit der Nase, von dem was ihnen zusteht und sie nährt – dem kleinen Vorgang zwischen diesem und jenem, vom Mund zur Hand, von der Wand zum Buch; und wer weiß wie lustig und neu und unerhört. Es grüßt dich seltsam süß versponnen Hans Guckindieluft.
Francesco Petrarca
In quel bei viso, ch‘ i‘ sospiro e bramo,
Fermi eran gli occhi desiosi e ’ntensi,
Quand’Amor porse, quasi a dir che pensi?
Quell‘ onorata man che secondo amo.
II cor preso ivi, come pesce all‘ amo,
Onde a ben far per vivo esempio viensi,
Al ver non volse gli occupati sensi,
0 come novo augelio al visco in ramo:
Ma la vista privata del suo obbietto,
Quasi sognando, si facea far via,
Senza la qual il suo ben è imperfetto:
L‘ alma tra I‘ una e l’altra gloria mia
Qual celeste non so novo diletto,
E qual strania dolcezza si sentia.
Le Rime, CCLVll
Aus: Oskar Pastior/Francesco Petrarca. 33 Gedichte. Edition Akzente. Carl Hanser Verlag. München-Wien 1983. – Die Juroren der Südwestfunk-Bestenliste sprachen Oskar Pastior für diesen Gedichtband (und sein Gesamtwerk) den diesjährigen Preis des SWF-Literaturmagazins zu.
Nüchterne Abwägung: Ich weiß nicht, was übersetzen heißt. Gewöhnlich wird bei Übersetzungen das Honorar halbiert. Für entlegene Sprachen gibt es in Verlagen keine Lektorate. Profi-Übersetzer kümmern sich um Aufträge. Man müßte entweder kein Selberschreiber sein oder zwei Leben haben. Ich setze meinen Namen nicht unter fremde Texte. Den Vorschuß, den ich leiste, stecke ich mir an den Hut den ich nicht trage. Lustig ist das Zigeunerleben. Nie wieder – bis zum nächsten Mal.
Es gibt in diesem Geschäft einen Aspekt, über den ich nicht viel reden möchte; wenn Staatsgrenzen so verlaufen und Systeme so beschaffen sind, daß der Übersetzer unweigerlich in die Rolle gerät im Leben anderer Schicksal zu spielen, wenn er den einen übersetzt, den anderen nicht, diesen Text oder jenen; ich denke an Institutionen, die Texte eindampfen, bis nur noch ideologische Knetmasse übrigbleibt… oder wenn der Übersetzer etwa in die Lage kommt nicht mehr übersetzen zu wollen, bis seine Familie nicht beisammen ist – und diese Kraut und Rüben verquickende Pokerebene ihn anwidert aber vernünftig ist… nein, ich will nur sagen, daß mir die Aura des Übersetzers als Kulturvermittler manchmal dürftig erscheint, daß diese Vermittlung dann oft ein Zufalls- oder gar Abfallprodukt ist – so schön und wichtig sie im Ergebnis auch sein mag.
Schnitt. Wer legt in diesem Detektivspiel die Fährte, wer verwischt sie, wer ist der Gesuchte? Tristan Tzara hat bevor er 1916 nach Zürich ging und dann nur noch französisch schrieb, in den Jahren 1912-1915 mehrere Gedichte in rumänischer Sprache verfaßt und zum Teil auch publiziert. Frühe Gedichte also, und noch nichts, oder, wer weiß, vielleicht doch schon was von Dada? Als ich vor gut drei Jahren die von Sașa Pană gesammelten rumänischen Gedichte zu übersetzen begann, interessierten sie mich fast nur als Dokument. Dann passierte etwas Seltsames: beim Übersetzen war mir plötzlich, als hätte ich es mit ins Rumänische übersetzten – und zwar oft ungelenk und fehlerhaft übersetzten – deutschen Autoren zu tun, menschheitsdämmemden, Else Lasker-Schüler etwa, aber auch Trakl, manchmal auch Heine; und die es nun gälte, in ein mögliches Original zurückzuübersetzen! Nichts Belegbares; aber gerade die vermeintlichen „Fehler“ waren irritierend – wenn Tzara Z.B., ausgehend vom deutschen Homonym „Futter“, den rumänischen Ausdruck für „Nahrung“ in einen Kontext setzt, der schlüssig würde, wenn er das rumänische Wort für „Bekleidungsinnenseite“ verwendet hätte … Ich weiß zwar nicht, was Tzara damals alles kannte, aber als Übersetzungsmotor hat mir die „imaginäre Retroversion“ doch ein paar Lösungen nahegelegt.
Und immer noch ein Wort zur vertrackten Beziehung zwischen Selberschreiber und Übersetzer einerseits, und beider zum sogenannten Originalautor. Launisch – ja; diffizil – ja; doch kein Grund zum Lamentieren. Selbst wenn da Rivalen sich auffressen, einander einverleiben, nach Legitimation wie nach Absolution schielend, anmaßend, irreverent, Hochstapler und Wucherer mit der sie umgebenden Unwissenheit; im Grunde schleichender Rufmord wie lebensstrategischer Notnagel – in der Tat, „Rufmord und Notnagel“, so könnte man den freiwildemden Umgang mit fremden Texten und Autoren dann nennen; gemeinhin läuft das unter Gottsuchertum, romantischer Ironie, Sprachmystik.
Im Funkhaus Baden-Baden soll 1969 darüber diskutiert worden sein, ob Urmuz nicht etwa bloß eine Kunstfigur lonescos sei. Als 1976 „Das gesamte Werk“ von Urmuzdeutsch vorlag, wiederholte sich das mitwisserische Blinzeln, diesmal in meine Richtung. Ich versichere hiemit, daß mir schriftliche Äußerungen von und über Urmuz noch in meiner Bukarester Studentenzeit vor die Augen kamen und daß, was in Zeugnissen auf gut Glauben über Urmuz zusammengetragen werden konnte, jetzt in den mitzulesenden Stücken der Urmuz Legende steht; dieses Zeitgenossen Kafkas, der im Zivilleben Herr Richter Demetrescu-Buzău, in seiner nächtigen Existenz aber Autor und Komponist, also Urmuz war, angeblich durch Selbstmord endete und zur Gallionsfigur der rumänischen Avantgarde aller Schattierungen wurde. „Mit knurrenden Mägen und m der Dunkelheit außerstande, die ideale Nahrung zu finden, die sie beide so nötig hatten, nahmen sie denn den Kampf mit verdoppelten Kräften wieder auf, und fingen unter dem Vorwand, man nasche voneinander ja nur, um sich zu ergänzen und besser kennenzulernen, an, sich mit zunehmender Wut ineinander zu verbeißen, bis sie, sich nach und nach gegenseitig aufessend, beide beim letzten Knochen angelangt waren … Algazy war zuerst fertig,..“ (Urmuz, aus: „Algazy und Grummer“)
Im Artikel erwähnte Gedichtbände Oskar Pastiors:
- Der krimgotische Fächer. Lieder und Balladen. Verlag Klaus G. Renner, 1978.
- Ein Tangopoem und andere Texte. LCB-Editionen Nr. 50, 1978 („Berliner Kontamination“).
im Artikel erwähnte übersetzte Autoren:
- Lucian Blaga: Ausgewählte Gedichte, Jugendverlag Bukarest, 1967.
- Lucian Blaga: Chronik und Lied der Lebenszeiten (Memoiren) Jugendverlag Bukarest, 1968.
- Velimir Chlebnikov: Werke 1, Rowohlt dnb, 1972.
- Marin Sorescu: Aberglaube. Gedichte. LCB-Editionen Nr. 35, 1974.
- Marin Sorescu: Noah, ich will dir was sagen. Gedichte. Insel Vertag, 1975.
- Marin Sorescu: Abendrot Nr. 15. Gedichte. Suhrkamp Verlag KG, 1982.
- Tristan Tzara: Die frühen Gedichte. Edition Text + Kritik. Frühe Texte der Moderne, 1984.
- Urmuz: Das gesamte Werk. Edition Text + Kritik. Frühe Texte der Moderne, 1976.
Erstdruck in: „Sprache im technischen Zeitalter“, Heft 86, April-Juni 1983, wieder in: „Der Übersetzer“, Heft 7-8, Juli-August 1983.
© Oskar Pastior