Die Metamorphose des Übersetzens

von Georges-Arthur Goldschmidt

Jede Sprache ist ihr Anderssein, sie besteht aus dem, was sie noch nicht gesagt hat, aus Erwartung, sonst wäre sie ja eben eine tote Sprache, und sie besteht auch aus dem, was eine andere ihr sozusagen vormacht, nicht unbedingt besser macht, jedenfalls aber so macht, wie sie, diejenige andere Sprache, es eben nicht macht. Nicht zum Beispiel, dass man im Französischen gerade das finden würde, was im Deutschen fehlt oder umgekehrt. Man wäre da schön düpiert, wie Jacques Lacan es nennen würde. Sprachen sind Menschen.

Ich spreche nämlich, weil die Sprache mir nicht passt, weil ich ihr immer voraus bin und sie mich nicht einholen kann, mit der Sprache kommt man nie ganz durch, es bleibt immer ein Rest, aus dem wiederum Sprache entsteht, nicht dass die vermeintliche „die Sprache“ existiere, wie man es uns in Meßkirch weismachen wollte, sondern nur, weil ich, der Sprechende, jeglicher Sprache immer voraus bin.

Mittels der Sprache kann man nicht einmal vor Gericht, wenn alles anscheinend dagegen spricht, seine eventuelle Schuldlosigkeit beweisen. Ja, der Sprache ist nicht aufs Wort zu glauben; wenn man sie wirklich braucht, lässt sie einen meistens im Stich, entweder findet man die Worte nicht oder es wird den Worten kein Glauben geschenkt, deshalb gibt es auch keine sprachlichen Autoritäten noch Obrigkeiten, da doch jeder im Besitz der Sprache ist. Über Sprache wird nicht entschieden und über Übersetzung noch weniger.

Die Sprache, d. h. die Sprechenden, machen es so, wie es ihnen kommt, ohne dass sie im Voraus alles schon wissen, wie es kommen wird. Die Sprachen sind doch meistens dazu da, um sozusagen den Sprechenden Fußangeln zu stellen.

Auch das Übersetzen ist zum Scheitern verurteilt, zum unentbehrlichen Scheitern. Jede Übersetzung ist der Ruf zur weiteren, da sie als solche schon zeigt, dass sie nicht stimmt, und deshalb ist sie ja unentbehrlich. Jede Übersetzung enthält die nächste. Eine Übersetzung ist der Beweis ihrer eigenen Unzulänglichkeit, da hinter ihr das Original steht und immer unaufhörlich nach neuem Übersetzt-Werden schreit. Es gibt zum Glück keine letztendlichen Übersetzungen, denn das wäre das Ende der Vielfalt der Sprachen und des menschlichen Denkens überhaupt. Schreiben ist ein Übersetzen aus der Stummheit des Sagens heraus, und das Übersetzen an sich ist zu einer verdoppelten Stummheit verurteilt, aber nicht zur Wortlosigkeit.

Ja, vom Übersetzer wird par-dessus le marché verlangt, er solle grün zeigen, was rot ist, auf Deutsch sagen, was er französisch denkt oder umgekehrt; dass es ihm aber nie ganz glückt, garantiert die fundamentale Freiheit der Menschen. Übersetzen zieht jede Sicherheit, jede Zugehörigkeit, jede Ehrfurcht vor den proklamierten Obrigkeiten in Zweifel, da doch jeder eine Übersetzung immer wieder bezweifeln kann und es selber anders machen könnte. Die Sprachen sagen doch alle dasselbe, aber anders.

Hinter der Übersetzung steht der Text in der Originalfassung und lacht sich ins Fäustchen. So ist es erstaunlich, dass man immer die Kretinerien aller Diktatoren und totalitärer Propaganda für bare Münze gehalten hat, wo man ihre schwülstigen Worthalunkereien doch nur zu übersetzen brauchte, um deren Nichtigkeit in allen Sprachen der Welt feststellen zu können. Merkwürdigerweise lassen sich unbedeutende Texte, die Reden der großen Totschläger immer umstandslos übersetzen, wie aber leider auch die grundlegenden Texte, les textes fondateurs, wie man auf Französisch sagt, keine unüberwindbaren Übersetzungsprobleme stellen.

Es ist sogar erstaunlich, wie der Text immer stärker ist als jeder Übersetzer und wie unerlässlich er ist und trotz der Übersetzungen immer irgendwie durchkommt. Die ersten Übersetzungen von Der Proceß und Das Schloß Franz Kafkas ins Französische strotzten manchmal seitenlang von Fehlern, das stand aber dem Verständnis der beiden großen Romane keineswegs im Wege. Ganz Frankreich hat fünfzig Jahre lang Kafka nicht anders als in den teilweise nicht zuverlässigen Übersetzungen von Alexandre Viallatte lesen können, und doch wusste jeder Leser sofort, worum es ging, vielleicht auch weil Viallatte ein großer Schriftsteller und Meister des Wortes war und die Übersetzungsfehler der Schriftsteller ja meistens nicht schriftwidrig sind.

Seien sie auch falsch, enthalten die übertragenen Texte trotz aller Fehlerhaftigkeit meistens doch das Wesentliche. Als 1974 die beiden neuen, völlig voneinander verschiedenen, dem Text aber völlig gerechten Übersetzungen vom Proceß und vom Schloß erschienen, hat das an der sogenannten Rezeption Kafkas in Frankreich nichts Wesentliches geändert. Die eine ist vollkommen französisch und richtig, befreit sich hie und da vom zeitlichen Ablauf der Begebenheiten, die andere ist absolut wortgetreu und ein wenig steif und distanziert. Sie sind völlig verschieden, die eine ist wundervoll flüssig französisch geschrieben, und um es gewandter und sprachlicher zu machen, wurden manchmal die Didaskalien, also die Bühnenangaben, sozusagen wie oder wann der eine oder andere zum Beispiel auftritt, der Sprache wegen umgestellt. An der anderen wurde nichts geändert, auch die grammatikalische und zeitliche Ordnung der Sätze nicht, dafür ist letztere Übersetzung behäbiger, langsamer und nicht so elegant, und doch erzählen die beiden Texte haargenau dasselbe.

Der Übersetzer ist nämlich zuerst ein Handwerker und auch, aber nur an zweiter Stelle, ein Schriftsteller, aber nie ein Autor, er darf keine Meinung haben, er hat sich nicht in den Text einzumischen oder gar den Autor zu korrigieren, zu verbessern oder es sogar besser zu wissen, und dies aus zwei präzisen Gründen: erstens könnte jeder Übersetzer ja dann den Text jedes Mal nach seinem Gutdünken korrigieren oder sogar umgestalten, denn er, der kluge Zeitgenosse, ist doch viel bedeutender als der doch diskutable Autor, und zweitens, weil die Leserschaft nicht den Übersetzer erwartet, sondern den Autor. Wenn der Übersetzer dabei auch noch groß tut und sich als Zweitautor ausgibt, dann betrügt er die Leser des Autors, die nie die seinigen sind. Deshalb ist das Rückübersetzen der einzige Beweis der Treue einer Übersetzung.

Der Übersetzer soll es so sagen, wie es steht, und absolut hinter dem übersetzten Text verschwinden, so dass nicht einmal das kleinste Zeichen auf seine Gegenwart schließen lassen könnte; wenn die nötigen Kühnheiten, also die ‚Einfälle‘ beim Übersetzen, nicht eben als fehlerhaft oder unsprachlich erscheinen, dann wird der Übersetzer dem Autor gerecht.

Vom Übersetzer weiß man, dass er lügt, er geht sich’s richten, wie man in Wien sagt, il s’arrange, er muss es wohl, da man von ihm die Wiedergabe des Originals, wie es nicht ist, erwartet. Sogar die allereinfachste sprachliche Alltäglichkeit ist völlig verschieden und doch genau die gleiche: „Wagen hält“ ist im Französischen „Arrêt demandé„, wird also umgekehrt ausgedrückt, höfliche Anfrage hier, barsch-sachliche Antwort da. Und dabei überdeckt das Sprachliche nur eine kodenhafte Tatsächlichkeit, die mit Sprache vielleicht insofern zu tun hat, als es um eine Konvention geht zur Bezeichnung eines außersprachlichen Vorgangs: an der Haltestelle aussteigen.

So ist der Bereich des Übersetzens allgemein und innersprachlich und unendlich ausdehnbar. Jeder weiß, dass im Deutschen Rundstück, Wecken, Brötchen usw. dasselbe bedeuten oder dass Messingsch und Gläbbisch unterschiedliche Dialekte sind, und doch wird dasselbe ausgesagt. Es soll eine Novelle von Thomas Mann geben, wo eine Lübeckerin in München mit leerer Einkaufstasche zurückkommt, weil keiner verstehen konnte, was sie meinte.

Man bedenke alleine schon der grundlegenden Unterschiede im Wortbau der Sprachen, es ist eine altbekannte Sache, dass das Deutsche den Anschein hat, umgekehrt zu funktionieren: die Schieblade und le tiroir, Lebensgefahr und danger de mort, oder auch un nourrisson und ein Säugling usw. Das Deutsche zeigt mit Genauigkeit, wie die Dinge sind: Bauchspeicheldrüse oder Vorstandsvorsitzender, wo das Französische allusiv oder indirekt nur auf das Gegenständliche verweist: un cadenas und ein Vorhängeschloss, une poubelle und ein Mülleimer. Selten erlauben die Wörter im Französischen einen direkten Zugang zur Wirklichkeit.

Der Satzbau ist ein ganz anderer, im Französischen kann man den Artikel nicht vom Namen trennen, aber das Adjektiv kann man vor- oder nachstellen: le grand toit rouge und das große rote Dach. Den deutschen Nebensatz versteht man erst, wenn er vorbei ist; solange das Zeitwort nicht gefallen ist, ist bis zum letzten Augenblick alles noch möglich, im Französischen kommt es sofort.

So zum Beispiel hat ganz einwandfrei das Deutsche für Sigmund Freud vorgearbeitet und ihm manches leicht gemacht, was ihm das Französische ja gerade so schwer macht, obwohl weder die eine noch die andere Sprache ihm etwas vormacht, sonst wäre er ja nicht Freud, und zwar der, der den Sprachen unter die Nägel schaut. Es sieht so aus, als sei Freud der Chefübersetzer überhaupt, der große Häuptling der Übersetzerhorde, nur dass er es wahrscheinlich ganz anders gemacht hätte, wenn er es mit dem Französischen und nicht dem Deutschen zu tun gehabt hätte. Alleine schon der umgekehrte Satzbau hätte, wenn nicht sein Denken anders orientiert, jedoch bestimmt dessen sprachlichen Ausdruck. Also wie soll man Freud übersetzen?

Das dürfte auf die Entstehung und die Rezeption der Psychoanalyse nicht ohne Einfluss geblieben sein. Wie wäre die Entdeckung zum Beispiel des Unbewussten, unter welcher Erscheinungsform, verlaufen, wenn Freud in Nancy oder bei Jean-Martin Charcot geblieben wäre und auf Französisch geschrieben hätte, wäre dann der Wortlaut seiner Auslegungen ähnlich erfolgt?

Wenn man nämlich zum Ausdruck der Ideen ansetzt, fängt man in der einen Sprache nicht wie in der anderen an: „Zu einer ganz anderen Würdigung des Verdrängungsvorganges nötigt uns das Bild der echten Konversionshysterie“, schreibt Freud in Die Verdrängung [Fußnote 1]Freud, Sigmund: Die Verdrängung, in: ders.: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich [u. a.], Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M.: Fischer, 1975 (Conditio humana), S. 107-118, hier S. 116.. Im Französischen hätte man mit dem Bild angefangen: „l’image de la vraie conversion d’hysterie nous oblige à une toute autre appreciation du processus de refoulement“, sodass der grammatikalische Aufbau der Sprachen dem Ideengang ein ganz anderes Aussehen verleiht.

Um ein altbekanntes Beispiel anzuführen, es gibt keine Übersetzung für Trieb, das entsprechende populäre Wort gibt es einfach nicht, es musste erst 1906 als pulsion erfunden werden, wie es auch keine Vergänglichkeit gibt, die mit der viel belachten Erfindung éphémérité übersetzt wurde, was kein Normalbürger versteht. Dafür hat man sich 1989 das lächerliche, fast skandalöse désaide erdacht, wo es doch die schönen Wörter désemparement, détresse oder désarroi schon gab, und zur gleichen Zeit hat man sich désirance ausgedacht, womit man auf verschrobene und unverständliche Weise das wundervolle Sehnsucht übersetzt, ein völlig künstliches, außerhalb des Sprachgebrauchs stehendes Wort, wo doch ohne Sehnsucht das Deutsche nicht auskommen könnte, dafür gab es das wundervolle désir, dessen Sinn sich aber anscheinend verflüchtigt hat. Unheimlich, das deutsche Lieblingswort der französischen Analyse übrigens, oder auch Heimat und Heimweh, so wie lauschig oder gemütlich, wie auch aufheben lange das Lieblingswort der Pariser Philosophen war, kommen nicht durch, vielleicht, weil man sie nicht braucht, und weil es das Französische eben anders macht.

Nach spätestens kaum hundert Jahren wird der Text schon in der eigenen Sprache anders verstanden, als er vielleicht geschrieben wurde, und doch bleibt sich der Text typografisch völlig gleich. Man versteht heute nicht mehr die Texte, so wie sie gestern geschrieben wurden, das ist eine Plattitüde, die aber stets zu wiederholen ist, weil sie das Wesen des Übersetzens als Missverständnis aufdeckt; was vertikal also in der Zeit nicht funktioniert, warum sollte das horizontal im Raum von einer Sprache zur anderen funktionieren?

Goldschmidt neben Adrian LaSalvia auf dem Podium sitzend beim Vortrag

Georges-Arthur Goldschmidt auf dem Podium 2007

Foto: Erich Malter

Vom Übersetzer wird verlangt, er soll schwitzen und sich abmühen, um eine Arbeit zu verrichten, die ihm nur absurd erscheinen kann. Was er bis auf die letzte Faser versteht – das soll er woanders und anders, aber weniger verständlich zum Besten geben und sich lächerlich machen. Der Übersetzer, der es nicht braucht, soll für die anderen übersetzen, die es brauchen, aber nicht können. Übersetzen ist an sich unsinnig, man kann es ja, man liest das Zeug so, wie es ist, und man soll es so drehen, wie es nicht ist. Denn jeder weiß es, es ist immer und nur die Schuld des Übersetzers, und dazu wird auch noch die Übersetzung immer beurteilt, als ob der übersetzte Text der Zielsprache angehöre, was eigentlich nicht einmal so falsch wäre.

Denn beim Übersetzen geht es um das Verstehen des Menschen überhaupt, wie es Wilhelm von Humboldt in seinem schönen Buch Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus (1836) immer wieder betont, als solches allgemein und universell beschreibt.

Die Verständlichkeit der Sprachen ist ihre Universalität, und eine Sprache kann noch so spezialisiert sein, sie ist allgemeinverständlich, aber nicht unbedingt leicht zu übersetzen. Die Übersetzbarkeit ist nämlich nur eine Variante der Verständlichkeit der Sprachen. Jede Sprache ist allgemeinverständlich, aber von diesem Verstehen kann ich nichts anderes zeigen als eben dieses Sprechen. Mein Verstehen, und dazu braucht man nicht einmal Wittgenstein zu zitieren, bleibt außerhalb dessen, was sich davon zeigt. Vom Verstehen der anderen verstehe ich nur, wie ich verstehe; was ich verstehe, bleibt den anderen völlig unerreichbar, was die anderen verstehen, bleibt mir völlig unzugänglich, einzig die Sprache zeugt davon, aber sagt es nicht.

Man kann wissen, was einer versteht, soweit es Übereinstimmung der Zeichen gibt, aber nicht, wie er es versteht. Was beweist mir, dass einer das Rot oder das Grün so sieht, wie ich es sehe, obgleich ich die absolute Gewissheit habe, dass er das Rot und das Grün sieht, denn sonst würden wir nicht übereinstimmen, was die Farben betrifft, obgleich dies nichts über das eigentliche Verstehen eines jeden aussagt.

Was aber vom Übersetzer, und er ist der Einzige, von dem man so etwas erwartet, verlangt wird, ist, dass er sein Verstehen vorzeigt, wie es in ihm ist, von keinem Leser sonst wird verlangt, er solle vom ersten bis zum letzten Wort zeigen, wie und was er verstanden hat. Kein Mensch kann wissen, wie der Leser diese oder jene Stelle im Buch verstanden hat, vom Übersetzer weiß man es aber, und das will man von ihm: Er soll, als einziger, sein Verstehen vorzeigen.

Im Allgemeinen kommt das Was immer durch, nicht aber das Wie. Alle Texte kommen durch die Übersetzung durch, was sie sagen, kommt immer an, wie aber, das ist eine andere Frage, entstellt auf jeden Fall.

Es ist genau wie mit den Eiern: Ob weich (viereinhalb Minuten) oder hart, ob im Omelett oder als Rührei, Ei ist es auf jeden Fall, aber Omelett schmeckt nicht wie harte Eier. So ungefähr ist es um die Übersetzung und die Sprachen bestellt, ein wenig als ob Herr Meier Herr Bauer werden sollte. Daher wieder die unumgängliche Unzulänglichkeit des notwendigen Übersetzens, eine obsessionelle Tätigkeit, bei der es darum geht, nochmals betont, blau zu zeigen, was rot ist, oder aus Herrn Bauer Herrn Meier zu machen. Denn entweder sagt man das eine in der einen oder in der anderen Sprache oder man lässt es sein.

Nichts ist unangenehmer als eine Unterhaltung in fremder Sprache, die man nicht versteht, weil Sprechen zum Verstehen drängt, zur Menschlichkeit des anderen, denn Mensch bin ich ja gerade durch das Verstehen, nicht der Zeichen, sondern des Sprechens, und nur Menschen sprechen. Übersetzen heißt, dem anderen seine Menschlichkeit zeigen, aber Menschlichkeit besteht ja wiederum auch in der gegenseitigen Unerreichbarkeit im Rätsel des anderen.

Damit fängt aber das Problem des Übersetzens an. Je tiefer man in einer Sprache sitzt, desto mehr wird man von ihr besessen und desto mehr braucht man eine andere Sprache, um auf Distanz bleiben zu können. Aber je näher und dringender die andere Sprache an einen herankommt, desto schwieriger wird das Übersetzen.

Allzu große Nähe macht es beinahe unmöglich, und das Übersetzen wird zur Schattenseite des Schreibens. Die Evidenz ist derart prägnant, dass der Übersetzer neben seinem Text sitzt wie der angeklagte Unschuldige, der vor dem Gericht seine Schuldlosigkeit nicht beweisen kann. Je mehr man in die Intimität einer Sprache vordringt, umso grotesker erweist sich das Übersetzen. Jedes Wort ist so prallvoll von Geschichte und Anhäufung von Ereignissen und Begebenheiten, Anekdoten, Gesprächen oder Liebesaffären aller Art und was weiß ich noch, dass es unübersetzbar wird.

Dazu kommt auch noch der Sinnwandel im Lauf der Zeit, sodass jede Übersetzung alle fünfzig Jahre neu überholt, jedenfalls durchgesehen werden muss. Ich gestehe persönlich, dass ich dazu viel zu faul bin, einen vor Jahren übersetzten Text neu zu übersetzen, ich würde bestimmt einige Überraschungen erleben, deshalb ist es auch wünschenswert, dass es immer mehrere Übersetzungen vom selben Text gibt, was aber erst siebzig Jahre nach dem Tode des Autors möglich wird.

Der Übersetzer, nicht zu vergessen, ist kein Autor, er ist nie den berühmten Ängsten vor der leeren Seite ausgesetzt, für ihn sind sie sogar viel zu voll, sodass unterwegs das meiste Zeug im Dornbusch des Übersetzens hängen bleibt und mit verstriemter Haut durchkommt, entstellt, wie Freud es so treffend nennt.

Man kommt also immer wieder auf das Übersetzen zurück, ein unerschöpfliches Thema, man fühlt sich verpflichtet, immer wieder damit anzusetzen, kaum Unverschämteres dürfte es eigentlich geben als die Schadenfreude eines Übersetzers beim Entdecken der Fehler eines Kollegen, das Schmunzeln dabei ist öfters la raison d’être du traducteur, wobei es der eine selten besser macht als der andere, und nichts ist unerträglicher als die Beiführung von Beispielen, wie man es nicht machen soll, denn jeder kann das haufenweise anführen: „Na, wie würden Sie das denn übersetzen?“, eine verlogene Frage, auf die es nur eine verlogene Antwort geben kann. Einen Greyhound für einen grauen Hund zu halten, ist eher pittoresk als schlimm, aber es kann auch vorkommen, dass eine Staffelei zur Folterbank wird.

Es gilt dabei, sich über den anderen Übersetzer ins Fäustchen zu lachen. Oft wird nur neu übersetzt, um zu zeigen, wie viel besser man es macht, was meistens nicht stimmt. Nichts beweist, dass die heutige Pseudo-Wissenschaftlichkeit des Übersetzens den Texten mehr gerecht wird als das frühere intuitive Übersetzen. Es ist jedoch sicher, dass heute mehr Menschen dieselbe Sprache können und viele den anderen auf die Finger schauen können und es doch nicht besser wissen.

Sollte aber jeder Leser, alleine schon, genau sein Verständnis des Originaltextes zum Besten geben, würde man bestimmt verblüfft sein über die unendlichen Verschiedenheiten der Modalitäten des Verstehens, und also dem Übersetzer alleine sollte sein Verstehen vorgeworfen werden, wo es vielleicht doch nur ein grundsätzliches Missverstehen gibt, da wo auch der Autor schon alleine als Autor dem Missverständnis überhaupt ausgesetzt ist. Nach einiger Zeit sollte man den Autor bitten, denselben Text noch einmal zu schreiben, entweder ist er ein Gaukler und kann ihn auswendig oder er schreibt einen anderen, wenn auch ähnlichen. Die Rettung der Sprachen, wenn man so sagen kann, ist daher die vielfältige Verschiedenheit der Übersetzungen.

Wie es eigentlich ein Übersetzer macht, weiß er meistens selber nicht, nach langem Suchen oder gar keinem Suchen ist das Zeug plötzlich da, und in dieser Beziehung wird der Übersetzer wieder zum Autor, der auch nicht weiß, was er macht, aber wie er es macht, nur aber genau weiß, wie es auf keinen Fall gemacht werden darf … Der Autor wird vom Text überrascht, der Übersetzer wird von einem schon geschriebenen Text geführt, der Autor von einem, den es nicht gibt. Den zu übersetzenden Text braucht er nur noch zu bearbeiten, zu feilen, zu schleifen und zu polieren, bis es sitzt.

Es kann vorkommen, dass man am Tage nicht mehr als eine Seite schafft, und wer mit dem Übersetzen sein Leben bestreiten muss, der hat es besonders schwer, und sein Verdienst ist umso größer, als er sich abschuftet und bemüht, gerade da, wo er es am wenigsten braucht; was soll er denn etwas übersetzen, was er von innen schon längst im Griff hat?

Das Übersetzen soll, sonst gäbe es dieses Vorhaben schon gar nicht, das Übersetzen soll, um Karl Kraus zu parodieren, ersetzen, „Üb ersetzen!“ sagte er, d. h. der übersetzte Text soll das Original sein. Übrigens, das im Voraus, man erwarte nicht, dass ich mich auf viele sogenannte Autoritäten berufen werde und meinen Beitrag mit vielen Namen und Zitaten spicke. Erstens bin ich nicht belesen genug, zum Glück, und zweitens, seit Kinderzeiten rede ich, wie mir der Schnabel gewachsen ist, wie das Deutsche es so schön sagt.

Autoritäten sind dazu als Referenzsicherheiten auch für Übersetzer meistens unbrauchbar, besonders in diesem Bereich ist die Theorie immer grau. Ganze Generationen hat man mit ungerechtfertigter Ehrfurcht vor verlogenen, wenn nicht kriminellen Obrigkeiten aller Art erstickt, man denke nur an die irreparablen Universalschäden, die solche unmotivierte Ehrfurcht anrichten kann.

Sicher sind alle Theorien des Übersetzens umso mehr, als sie mit Autorität proklamiert werden, höchst interessant, intelligent, anregend und alle unersetzlich, sie zu lesen macht bestimmt Spaß, aber ob sie beim Übersetzen helfen, ist eine andere Frage. Mit dem eigentlichen Übersetzen haben sie nichts zu tun, wenn man sich da, ganz alleine auf seinem Stuhl, ungemein dumm vorkommt, wenn es nun darum geht, aus dem vorliegenden Text das machen zu müssen, was er nicht ist und meistens auch nie sein wird, fühlt man sich besonders alleine gelassen …

Kollektives Übersetzen wiederum ist immer nur die Konfrontation von Rivalitäten, arbeiten kann man nur als Übersetzer mit einem anderen, der die Ausgangssprache nicht kennt, aber seine eigene ganz besonders intensiv kennt und erlebt. Denn wer behauptet, beim Übersetzen ginge alles von allein und man sei als guter Sprachkenner vor allen Tücken des Objekts gefeit, dem ist kein Glauben zu schenken.

Übersetzen ist nämlich zugleich das Unnatürlichste und Notwendigste, was es im Bereich des Sprachlichen überhaupt gibt. Und nochmals wiederholt, übersetzen tut nur, der es kann und nicht braucht für andere, die es brauchen und nicht können.

Dabei ist es besonders schwer für den Übersetzer, die Sprachdifferenzen zu berücksichtigen, und irgendwie hängt ja der Sinn, das Gemeinte, auch vom Aussehen der Sprache ab, von ihrem Gesicht im doppelten Sinn des Wortes, wie sie aussieht und was sie zu sehen gibt, oder besser gesagt, ihr Gehör. Die Wege sind nicht die gleichen, in der Mitte des Waldes von Châteauroux, einer der riesigen und schönen Waldungen Frankreichs, steht ein rundförmiges Schlösschen, zu dem sämtliche Alleen führen, jede ist von der anderen verschieden und jede von anderen Baumarten gesäumt, aber alle führen sie zum gleichen Punkt.

Französisch und Deutsch sehen jeweils die Lebenswelt, wie Husserl sie nennt, ganz anders, jedenfalls wird sie ganz anders aufgenommen, die eine Sprache lässt fast systematisch aus, was die andere hervorhebt oder betont. So sagt man einfach j’entends le bruit des feuilles, wo man ich höre das Rascheln, das Rauschen, das Säuseln der Blätter je nachdem sagen kann, sodass der Hörer oder Leser das genau vor den Augen und in den Ohren hat, ohne sich das erst vorstellen zu müssen, genau wie das Französische weder laut noch leise hat und auch nicht fahren und viele andere solcher konkret-räumlichen Begriffe nicht hat, die wahrscheinlich im Laufe der Sprachgeschichte eliminiert worden sind, die natürlich jeder aber sofort wahrnimmt und die zum sous-entendu, zum Understatement der Sprache gehören. Die beiden Sprachen gehen eben dieselbe Realität anders an, das Französische eher historisch als realistisch, so hängt man immer noch das Telefon an seine Haken: on raccroche.

Die besondere vermeintliche Befähigung des Deutschen zum Ausdruck der Philosophie ist eine besonders stupide Legende, die vor allem von den Nostalgikern der Nazizeit verbreitet wurde. In dieser Beziehung weiß man nicht genug in Frankreich, was man sich alles mit der deutschen Sprache leisten kann, wie sich die Wörter auseinandersetzen und sogar malträtieren lassen, wie man zu jeder Gelegenheit die Bestandteile der Sprache zum eigenen Gebrauch zurechtlegen kann und den lieben Philister an der Nase herumführen kann.

So hat sich ein berühmter deutscher Denker gedacht, er könnte seine leidenschaftliche Nazizugehörigkeit durch Wortflunkereien überspielen, die dann das Ausland in Staunen versetzen würden, derart, dass ein großer Dichter und Widerstandskämpfer wie Rene Char sich von den flachen Wortstellereien, Verstellereien und Wortgestellen aus Die Technik und die Kehre [Fußnote 2]Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre, Pfullingen: Neske, 1962 (Opuscula aus Wissenschaft und Dichtung 1)., mit Begeisterung einnebeln ließ.

Es ist nicht unbedingt gesagt, dass das als das Schwierigste ausgegebene unbedingt das Bedeutendste zu sein hat. Es ist nicht so, weil ein Text besonders schwer zu übersetzen ist, dass er besonders viel zu sagen hat.

Was in philosophischer Beziehung die französische Sprache angeht, hat sich die französische Philosophie eben für andere als existenzielle Probleme interessiert, die sie im 17. Jahrhundert vor lauter metaphysischer Scham unberührt ließ, „Glissez, mortels, n’appuyez pas[Fußnote 3]Aus einem Vierzeiler des französischen Dichters Pierre-Charles Roy zu einem Gemälde von Nicolas Lancret (L’Hiver)\ vgl. auch Sartre, Jean-Paul: Les Mots, Paris: Gallimard, 1993, S. 206. („nicht so gründlich“, könnte man das entstellt übersetzen), die raren Ausnahmen wie Pascal hätten den Meßkirchner Denker sehr leicht eines Besseren belehren können; als man sich dann ab 1960 für solche Fragen interessierte, war der entsprechende Wortschatz auf einmal da.

Was hat uns ein Denken zu sagen, das in einer Sprache eingeschlossen bleibt und sich nicht außerhalb dieser Sprache weitergeben lässt, damit kann sich höchstens die Eitelkeit der Übersetzer großtun; es ist eins, sich der Besonderheiten der Sprache zu bedienen, ein anderes ist, sie als die einzigen Möglichkeiten des Ausdrucks der Wahrheit auszugeben. Seit nämlich über hundert Jahren hat die Philosophie, da es hier um sie geht, Wortklauberei mit Denken verwechselt mit den politischen Konsequenzen, die wir kennen.

Pascal und René Descartes oder Kafka und Wittgenstein, gerade wegen ihrer unergründbaren unheimlichen Sprachevidenz, sind ja eben nicht schwierig zu übersetzen, wie überhaupt alles, was, wie Goethe es nannte, Weltliteratur bedeutet. Kafka, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche verlangen nichts anderes als Wortschärfe, die es immer irgendwo gibt, und natürlich eine innere, mit dem ganzen Körper erotisierte, fast erotische Kenntnis der Zielsprache.

Aber gerade die Gefahr, die der zweisprachige oder der allzu begeisterte Übersetzer läuft, ist die der allzu großen Empathie mit dem zu übersetzenden Text, dann verfällt er fast immer dem Allerschlimmsten, und zwar dem Überdeuten, dem vermeintlichen inneren Verstehen, womit er sich für den Autor selber gibt, der er nie ist und umso weniger, als er es zu sein vermeint.

Aber die Bescheidenheit und die Selbstaufgabe im Heimlichen sind ja das Los und die List des Übersetzers. Es ist wie mit den Ochsen der herrlichen Kathedrale von Laon, einer der allerschönsten und zum Glück von den Touristen verkannten Kathedralen Frankreichs, die mitten in der Ebene auf einem Felsenriff steht, zu welchem hinauf die Ochsen im 13. Jahrhundert die Steine heraufschleppten. Ihnen zu Ehren wurden von ihnen wundervolle Statuen angefertigt, die jede einen anderen Ochsen darstellte und die man hinter den gigantischen Turmpfeilern aufstellte, damit sie unsichtbar blieben, jeder wusste davon, keiner aber sah sie.

So geht es dem Übersetzer, auch er macht alles, aber keiner soll es merken. Man weiß allerdings, dass es ihn gibt, und das ist schon viel, umso mehr, als man ihn sehr wohl durch einen anderen ersetzen kann, den Text aber nicht.

Nun ist aber der Übersetzer auch Zeuge seiner Zeit, und unsere Generation ist im Entsetzen, in der Verfolgung und der Menschenjagd großgeworden, und die immer wieder aufgefrischte und auflebende Erinnerung daran hat uns lebenslang begleitet, und wer weiß, ob sie nicht auch heimliche Spuren in der Übersetzung hinterlässt …

Die Kindheit bestand darin, sich vor jeder Straßenkurve zu fürchten, es könnte einer dahinter stehen und einen mitnehmen, verzweifelt suchte man nach einer eigenen unbekannten Schuld, die doch nur die des Geborenseins war, und so wird die Geschichte vielleicht von der Verfolgung der Kinder mitbestimmt, die sich davon nie ganz erholen, ob sie es wissen oder nicht. Der Schrecken kann, wenn auch nur noch halbbewusst, sogar möglichst verdrängt, unterbewusst geworden, eine Vorform des Lebensinhalts werden, der, immer auf der Lauer, über einen einfach, unerwartet herfallen kann. Nelly Sachs spricht es aus, wenn sie schreibt:

Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde
Das ist der Flüchtlinge reißende Flucht
in die Fallsucht, den Tod!
[Fußnote 4]Sachs, Nelly: Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde, in: dies.: Und Niemand weiß weiter. Gedichte, Hamburg: Ellermann, 1966, S. 12.

Man wurde aus dem eigenen Volke verstoßen, ausgesetzt und hin und her gejagt, als Kind noch zum Tode verurteilt, nur weil man geboren war, und dies alles wurde in der geliebten Muttersprache beschlossen und vollführt, und dadurch wurde die Sprache vielleicht unheilbar geschändet.

Doch ging sie nicht verloren, die geliebte, die herrliche deutsche Muttersprache, die französische Sprache schenkte sie zurück, denn Franzosen waren es, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um einen ihnen völlig fremden fünfzehnjährigen deutschgebürtigen Bettnässer vor den Nazischergen aus dem eigenen Volke zu schützen. So war es besonders wichtig, den eigenen Text aus der Sprache des Schutzes und der Befreiung in die Sprache der Verfolgung und der Aussetzung zu bringen, weil mit dem damaligen Entsetzen nicht alles gesagt sein durfte, weil die deutsche Sprache doch so ganz anderes sagt und sie damals so wundervoll von Menschen gesprochen wurde wie zum Beispiel Hans oder Sophie Scholl, für welche Ehrfurcht vor anderen Menschen, ja gerade Humanität Lebensinhalt bis in den Tod hinein war. Eine Sprache ist nicht, was die sogenannten Obrigkeiten, die geistig-geistlichen sowie die politischen Autoritäten als Hochsprache bestimmen, das hat, wie wir es noch erlebt haben, zum absoluten Morden mit dem dazu vorgedachten und entsetzlich passenden Vokabular geführt, und vielleicht gibt es deshalb kaum Sprachen, die so wie die deutsche im Intimsten derart geschändet sind. Durch die Sprache des Schutzes und der Rettung kam mir die Muttersprache zurück, erhalten, wie unverwundet und nicht verschandelt, wie nicht vom Vokabular des Mordens betroffen, was mir blieb, war die Sprache Joseph Eichendorffs oder Heinrich Heines.

Gerade für diejenigen, die aus ihrer herrlichen deutschen, für sie als Kinder geliebten, noch unversehrten Muttersprache ausgestoßen wurden, galt es, die Menschlichkeit, die Freundlichkeit, die Aufnahmebereitschaft der Sprache auf sich zu nehmen, sich ihrer verantwortlich zu fühlen. Für die aus der deutschen Sprache Verjagten war es eine Aufgabe zu zeigen, dass das Deutsche die herrliche Sprache Martin Luthers und Kafkas geblieben ist und bleiben wird, geschützt und erhalten von der aufnahmebereiten, rettenden französischen Sprache.