Laudatio auf Yoko Tawada
von Peter Waterhouse
In der alten Schünemannschen Mühle in Wolfenbüttel, welche längst keine Mühle mehr ist, las an einem Sommerabend im ersten Hundertstel dieses Jahrtausends Yoko Tawada eine Schrift vor, die wie alles Vorgelesene an dem Abend – wie alle an dem Abend vorgelesenen Gedichte in deutscher Sprache – aus Übersetzung entstanden war. Mir ist die vielleicht zehn Jahre alte Lesung in der Erinnerung geblieben, sie ist jung geblieben, fast heutig; sie klingt nach oder voraus und wird vielleicht nie vergehen oder ist so schön wie am ersten Tag. In Wolfenbüttel gab es ein sommerabendliches Übersetzungskonzert, doch was hatte Yoko Tawada übersetzt?
Vielleicht eine Viertelstunde lang las sie eine Schrift vor, deutsch, in welcher immer wieder japanische Worte – Wörter? – zu hören waren. Wörter zu hören? Hörte ich Wörter? Standen dort auf dem Blatt, von dem die Leserin las, japanische Wörter? Oder Ideogramme, Bildchen? Hörte ich Bildchen? Übersetzte die Leserin die deutschen Wörter und Buchstaben zurück in kleine Bilder?
Jedenfalls blieb mir das Japanische in der deutschen Schrift in Erinnerung. Jedenfalls blieb mir das in langer Erinnerung, was ich nicht verstand, was ich hörte. Das zu Verstehende blieb nicht so lange im Gedächtnis, aber das Unbekannte. Die japanischen Einzelheiten in diesen langen deutschen Sätzen blieben in Erinnerung. Warum? Weil diese Einzelheiten Freude bereiteten, Freuden? Weil sie von irgendetwas befreiten? Weil sie dem Ablauf hinderlich waren? Weil sie von etwas erzählten, das ich nicht kannte und in der Erzählung nicht kennenlernte? Warum hatte die Vorleserin die japanischen Einzelheiten dieser Schrift nicht ins Deutsche übersetzt? Weil sie nicht übersetzbar waren? Oder hatte die Vorleserin sie übersetzt, hatte sie die Einzelheiten, von uns Wolfenbüttlern unbemerkt, übersetzt und standen sie deutsch da? Oder war etwas ganz anderes aufregend an den japanischen Einzelheiten, blieben sie so beständig in Erinnerung, weil eine ganz andere Regung aus ihnen kam? Enthielten gerade diese kleinen Japanologien einen Code? Könnten sie entschlüsseln, weil ich sie nicht verstand? Wurde ich entschlüsselt, nämlich schlüssellos und unentschlossen und unverschlossen? Waren die zahlreichen kleinen Japanologien in der deutschen Schrift besonders lebhaft und lebendig! Ging es in der vorgelesenen Schrift um Leben und Tod? Spürten wir ZuhörerInnen und WolfenbüttlerInnen, dass übersetzt wurde vom Tod ins Leben? Lebten die japanischen Ausdrücke? Waren diese japanischen Ausdrücke allesamt übersetzt, weil sie verlebendigt waren? Nicht ins Deutsche übersetzt, sondern übersetzt verlebendigt? War die Übersetzung wie eine Geburt?
Eine Sprache, die man nicht gelernt hat, ist eine durchsichtige Wand. Man kann bis in die Ferne hindurchschauen, weil einem keine Bedeutung im Weg steht. Jedes Wort ist unendlich offen, es kann alles bedeuten. (Überseezungen, S. 33)
Ist es dieses Nicht-im-Weg-stehen, das die Vorlesende übersetzt hat in die deutsche Schrift? Steht im Deutschen manches im Wege? Waren die japanischen Ausdrücke, die ich in der Lesung gehört habe, durchsichtige Wände? Konnten wir Zuhörer an diesen Stellen hindurchschauen? Blieb gerade dieses Hindurchschauen so sehr in der Erinnerung? Habe ich in den japanischen Ausdrücken das „Nicht-im-Wege-Stehen“ gehört? Habe ich gerade im Japanischen die Übersetzung gehört? Das Übersetzen über die im Weg stehenden Hindernisse? War die Übersetzung gerade in dem, das nicht ins Deutsche übersetzt war? Habe ich die Übersetzerin Yoko Tawada gehört in den nicht übersetzten japanischen Gebilden?
Die Bedeutungen dieser Gebilde waren für die Mehrzahl der Zuhörer in Wolfenbüttel in der Mühle nicht zu verstehen. Die Töne waren zu hören. Mit diesem Moment des Hörens beschäftigt sich Yoko Tawada kontinuierlich. Sie hört die deutsche Sprache – und dieses Deutsch-Hören ist ein anderer Prozess als das Deutsch-Verstehen. Eines ihrer Bücher hat den Titel Überseezungen. In diesem Wort sind zu hören: die Zungen, die Seezungen, die oder der See, Übersee ist zu hören und die Präposition über. Auch das Wort Übersetzung ist zu hören. Die Menge des Hörbaren ist vergrößert worden. Ist das die Aufgabe des Übersetzers: Das Hörbare erweitern, ergänzen, Töne und Obertöne hören? Ist das Wort Überseezungen ein verständliches Wort oder ein hörbares? Vieles darin scheint verständlich zu sein, sogar leicht verständlich. Der See zum Beispiel und die See. Die Zungen zum Beispiel könnten Zungen bedeuten. Seezungen sehen zungenförmiger aus als Setzungen. Sie sehen zungenförmiger, sprachförmiger aus, Zungen wie Sprachen. Oder sehen Seezungen wie Seezungen aus? Oder meint See nicht See, sondern Übersee, einen Ort auf einem anderen Kontinent? Überseezungen: Ist das Wort bedeutender geworden oder im Gegenteil: stehen die Bedeutungen nicht mehr so sehr im Wege, einander im Wege? Ist in dem Wort weniger gesetzt, sondern …. sondern weniger in den Weg gesetzt und gestellt. Das Wort setzen ist aus dem Wort Übersetzungen herausgenommen worden. In dem Buch das Überseezungen heißt, gibt es vielleicht keine Setzungen. Übersetzt Yoko Tawada ohne Übersetzung? Was ist eine Übersetzung? Vielleicht ist in dieser Frage vor allem das Wort ist fraglich. Vielleicht ist die Was-ist-Frage das Problem oder das Hindernis. Was ist: das fragt nach einem Ergebnis, nach einer Setzung, nach einem Gesetz. Aber es lässt sich nicht gut fragen: was ist eine Überseezunge. Eine Überseezunge ist vielleicht gar nichts. Jemand isst vielleicht eine gebratene Überseezunge oder Seezunge. Eine Überseezunge ist nicht, setzt sich nicht. Fische zum Beispiel setzen sich nicht, nicht in Stühle, nicht auf Sessel. Eine Zunge ist auch nicht. Niemand sagt: die Zunge ist. Allenfalls ißt sie, zum Beispiel zum Mittagessen. Sie tut etwas, sie bewegt, schiebt und hebt und kostet, aber ist nicht. Worüber ist also in dem Buch zu lesen?
Exkurs, Masao Maruyama, was man ist und was man tut „es heißt immer, unsere Gesellschaft sei frei, und während wir dieses Frei-Sein preisen, ist gar nicht sicher, ob diese Freiheit nicht unversehens ihres Abstands beraubt wird. Freiheit ist kein Dekorationsstück, sondern sie wird allein durch wirkliche Ausübung erhalten. Mit anderen Worten: Dadurch, dass einer täglich etwas tut, um frei zu werden, kann er erst frei sein. In diesem Sinne können wir etwa die Freiheiten und Rechte der modernen Welt eine sehr lästige Angelegenheit für jene Leute nennen, die die Trägheit des Lebens mögen.“ (136)
Die Erzählerin in den Überseezungen erzählt von einem Hamburger, der ihr unten an der Elbe auf den Kopf gespuckt hat, genau auf den Scheitel. Sie sucht dann den ganzen Vormittag lang nach einem geeigneten Schimpfwort. „Leider fiel mir noch nie in meinem Leben zur rechten Zeit das treffende Schimpfwort ein. Mein Wortschatz ist da sehr klein. Wenn man kein passendes Wort kennt, muss man eines erfinden.“ (22) Die Erzählerin verwirft dann Schimpfwort um Schimpfwort: Du Spucke, Spik, das dritte Rad am Fahrrad, Verradfahrer. In Japan gibt es die Schimpfwörter: Aubergine, Rettich-Schauspieler, Kartoffeln, Paprika, Fenchel. Eigneten sich im Deutschen die Ausdrücke Maultasche, Tüte, Sack, Kasten, Loch, Nasenloch? Keine Antwort, kein Ergebnis. Ziege! Kuh! Schließlich wird die Erzählerin beleidigt – oder sagen wir: ein zweites Mal beleidigt –, ein Mann tritt aus einem Laden, auf dem auf einem Ladenschild „Thailand“ geschrieben steht, und sagt ihr ins Gesicht: Ihr seid Arschlöcher. Nach einem kurzen Hin und Her sagt er: Arschloch, verschwinde. Und da beginnt die Erzählerin anstatt nach einem treffenden Wort zu suchen einen Klang zu hören – also vielleicht eine Überseezunge oder Obertöne zu hören, also nichts Beleidigendes zu hören. Sie hört, weil die Stimme des Mannes schwach geworden ist, also der ganze Mann und die ganze Sprache schwach geworden sind und nicht mehr im Weg stehen: Asche. In diesem Augenblick verändert sich die Welt oder jedenfalls die Straßenszene in St. Pauli, und jedenfalls der Brustkorb der Erzählerin; dieser öffnet sich und vielleicht öffnet sich alles, nichts steht im Weg. „In meinem Brustkorb öffnete sich ein winziges Loch, so dass ich kurz glaubte, in seinen Innenraum schauen zu können.“ Es hat sich eine Öffnung aufgetan. Was ist darin? Eine Überseezunge. Wie klingt sie? Sie klingt wie das Gegenteil einer Beleidigung. Sie klingt wie das Gegenteil der Beleidigung der Toten. Sie klingt wie die Erweckung der Toten. Noch genauer klingt sie: Sie klingt wie ein Wort, das noch nie gesagt worden ist. Sie sagt etwas zum ersten Mal. Ich lese ihnen das Ende der Erzählung vor, ausgelöst ist es von dem Wort Asche; es zählt zum Schönsten in der Literatur:
Ich atmete tief ein. In meinem Brustkorb öffnete sich ein winziges Loch, so dass ich kurz glaubte, in seinen Innenraum schauen zu können. Dieser Raum erinnerte an einen Ofen, der mit Asche gefüllt war. Die Asche oder das Aas? Ein totes Tier wurde ins Feuer hineingeworfen und verbrannt. Ein Tier mit langen, sanften Wimpern. Ein Tier mit horizontalen Wimpern. Im Feuer verwandelte sich das Aas in Asche. Nein, es war anders: Ein lebendes Tier wurde gefangen und ins Feuer geworfen. Wie kam es aber, dass das Tier sich fangen ließ? Es hatte ein scharfes Gehör. Es konnte laufen wie der Wind, wenn es wollte. Es hatte aber einen Namen und beim Namen wurde es gefangen. Der Name, das Netz. Der Name wurde dann als Schimpfwort benutzt und das Tier wurde vergessen. Das namenlose Tier schläft in der Asche wie ein Wort, das noch nie gesagt worden ist. Ich werde seinen namenlosen Namen rufen, um es zu wecken, denn es ist noch nicht tot. (30)
Laudator Peter Waterhouse
Foto: Erich Malter
Wir sehen in diesem schnell laufenden Tier den Rennradfahrer wieder. Und wir hören, wie die Erzählerin ihn mit keinem Namen und Schimpfwort ruft. Wir hören also seinen namenlosen Namen, der nicht fängt und nicht beleidigt, sondern verlebendigt. Es ist wie ein Geburtstag. Der Radfahrer steigt aus der Asche auf. Das ist eine Übersetzung, fast eine Höhersetzung.
Dürfen wir wirklich sagen, dass wir diesen Augenblick und diese Metamorphose wirklich verstehen? Vom derben Schimpfwort zu Asche zu Aas zum namenlosen Tier in der Asche, zum noch nie gesagten Wort, zum namenlosen Namen, zur Verlebendigung? Verstehen wir hier oder übersetzen wir? Gibt es im Verstehen nämlich das Einfangen, das Ignorieren, das Vergessen – und im Übersetzen das Wecken und Verlebendigen? Im Verstehen die Schmähung, im Übersetzen das Lob? Wird mit der Hilfe der Überseezunge der Radfahrer nicht verstanden und wird er gepriesen?
Ein weiteres Beispiel einer Überseezunge: Kayako, einer japanischen Botin, wird eine Botschaft mitgegeben für einen Musikprofessor in München. Aber wie diese Botschaft formulieren – die Botin spricht nicht Deutsch, der Musiker in München nicht Japanisch. Er ist sehr alt und kann Briefe nicht lesen und geht nicht mehr an das läutende Telephon, er hört nur die, die sehr laut und nahe mit ihm sprechen; und er hört Töne, wenn er Noten liest.
Wie aber ihm eine Nachricht zukommen lassen, eine verspätete Antwort zukommen lassen auf seinen Brief, den er vor langer Zeit nach Japan geschickt hat? Für die Botin werden japanische Ideogramme aufgeschrieben, die sie nicht zu übersetzen braucht. Die Botin wird in Deutschland die Zeichen vorlesen, der Musiker wird die japanischen Zeichen tönen hören, sie werden ihn erinnern an deutsche Töne und Worte. Das Ideogramm has wird er hören, die Botin wird an die Bedeutung des japanischen Ideogramms denken – Lotus –, während der Musiker von den Tönen an eine deutsche Bedeutung erinnert sein wird: Hass. Die Botin wird die zwei Ideogramme shonen aussprechen und an die Bedeutung Knabe denken. Der Musiker wird von den Tönen an die deutsche Bedeutung schonen erinnert werden. Findet hier Übersetzung statt? Was wird übersetzt? Die Bedeutung ist es nicht, die übersetzt wird. Es ist in Deutsch nicht die Rede von Lotus und Knabe. Was die Botin sagt und was der Musiker hört ist verschieden – also nicht übersetzt und vermittelt. Und doch ist, was die Botin sagt und der Musiker hört, vereint und übersetzt: shonen. Shonen ist in schonen übersetzt worden. Has ist übersetzt worden in Hass. Zugleich ist der Hass verwandelt worden in den Lotus und die Schonung ist verwandelt worden in einen Knaben. „Du spürst auf deiner Zunge dann die Lotusblüte während in die Ohren des Zuhörers der ‚Hass’ hineindringt.“
Was also schreibt die Japanerin dem Musikprofessor in München? Vielleicht dieses: Sie schreibt ihm von der Lotus-Blüte, vielleicht von der Liebe. Das komplizierte, schöne, das darstellende, das einfache Ideogramm kann er nicht lesen. Die darstellende Lotus-Blüte kann er nicht lesen. Er versteht die nicht-darstellende Sprache. Haß, das ist nur Bedeutung – sich im Weg stehende Bedeutung –, es ist nicht Darstellung, nichts blütenähnliches.
Am Ende der Erzählung lesen wir die Botschaft und wissen nicht – verstehen nicht –, ob wir deutsche Bedeutungen lesen oder die Bedeutungen der japanischen Zeichen. Welche Sprache lesen wir am Ende der Erzählung: „ein faden der schlange neu befestigte küste welche schule welche richtung der brunnen des jahres wurde zweimal gemalt das bild brechen und hinunter steigen durch das reisfeld siehst du etwas wie eine weisheits-wurzel im gesicht ein zerkochtes beispiel eine entzündete übermalung rau sind die ränder dichtung der indizien sind pferdeschlecht“ (49)
Hören wir hier die namenlosen Namen? Hörte der Münchner Musiker die namenlosen Namen? Wird hier etwas geweckt in der Asche? Wird es gepriesen und verlebendigt? Hören wir Liebe dargestellt, geweckt aus dem Hass? Hass übersetzt in Liebe?
Oder eben gerade nicht Übersetzung des einen ins andere, sondern Gleichzeitigkeit; Musizieren mit Obertönen? Nicht Hass gewendet in Lotus, nicht entstandener HASS oder Lotus. Sondern:
Ein tibetanischer Mönch kann bis zu sechs verschiedene Töne gleichzeitig singen. Über den Boden des Haupttons schweben mehrere Töne wie Geister in der Luft. Der Mönchsgesang hat meine Hörgewohnheiten verändert. Ich fing an, jedem Klang aufmerksamer zuzuhören, indem ich in sein Gewebe eindrang. Jeder gewöhnliche Ton enthält mehrere Töne in sich, selbst wenn sie nicht so deutlich herauszuhören sind, wie beim Mönchsgesang. Und ich glaube, das gibt es nicht nur in der Musik sondern auch in den gesprochenen Sprachen. Ich habe mich immer wieder gefragt: Warum hören wir nicht im Alltag mehrere Stimmen in einer Stimme, wenn sie vorhanden sind? Sind unsere Ohren wie ein schlechtes Mikrofon gebaut? Hören wir sie nicht, weil wir fest daran glauben, dass eine Stimme nur eine Stimme sein muss? Ich hatte ein Bilderbuch in dem ein fuchsartiges Tier abgebildet war. Seine Zunge war aus Flammen. So wie diese Flammen mit vielen kleinen Spitzen müsste eine Stimme aussehen, wenn sie einen sichtbaren Körper hätte. (…) Die Obertöne, die ich im tibetanischen Mönchsgesang gehört habe, erinnerten mich unmittelbar an die Flöte, die im No- oder im Kabuki-Theater gespielt werden. Vielleicht ist diese Flötenmusik eine Nachahmung der Obertöne. (…) Sie erzeugen ein intensives Gefühl, das weder positiv noch negativ ist. In ihrem Klang verlieren die Begriffe des Glücks und des Unglücks ihre Bedeutungen: ein Gefühl, das unauflösbar gemischt und widersprüchlich ist, ein Gefühl, das den vermenschlichten Kategorien wie etwa Liebe oder Hass entflieht. (Talisman 114, 115)
wegen der stadt kann ich gehen gesetzliche ringe kochen umsonst treffliche krankheit am unterleib der heimat eine tabelle ganz am ende dieses lebens auf dem rücken betet ein wasservogel er denkt nicht an seinen profit (Überseezungen 50)
Hörte ich also in der alten Schünemannschen Mühle, welche längst keine Mühle mehr ist, Flöten spielen im No-Theater und im Kabuki-Theater? Hörte ich die Flammen? Hörte ich, dass die Zunge aus Flammen war? Erinnere ich mich so gut an das No-Spiel in Wolfenbüttel, weil es Freude bereitet, mehr als eine Stimme in der Stimme zu hören? Warum bereitet es Freude? Weil mehr als eine Stimme geweckt wird? Weil andere Stimmen verlebendigt werden, die noch nicht tot sind? Weil die Lebendigen zu hören sind, weil die Toten zu hören sind?
Yoko Tawada ist als 19-Jährige aus Japan nach Europa gekommen. Warum ist sie, anstatt im Flugzeug nach Deutschland zu reisen, mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren? Hat jene Reise über den Erd- und Weltboden etwas zu tun gehabt mit dem flammenden Weg, mit der Zunge aus Flammen, mit dem Flötenspiel im No- und Kabuki-Theater? Die junge Reisende ließ sich nicht mit dem Flugzeug übersetzen. Fuhr sie dann auf dem flammenden Weg? Wird auf einem solchen Weg nicht übersetzt? Hörte ich in der Schünemannschen oder Schamanen-Mühle diesen nicht-übersetzenden Weg? In einem Aufsatz mit dem Titel An der Spree (der Titel klingt so, wie wenn es einen zweiten Titel gäbe: „Anders sprechen“) schreibt sie: „Europa liegt da, wo die Seidenstraße endet. Aber da die Seidenstraße heute zerstört und zerschnitten ist, kann man keine Linie bis Europa ziehen. Sollte man die komplizierte Mitte überfliegen? Kann eine geflügelte Maschine das Ziel erreichen, ohne den flammenden Weg zu berühren?“ Als Yoko Tawada am Elbeufer unterwegs war und der Rennradfahrer ausspuckte oder sie anspuckte, ging sie da auf dem flammenden Weg? Ist sie eine Übersetzerin und eine Flötenspielerin im No-Theater? Eine Flötenspielerin und Töne- und Totenbeleberin im Toten-Theater?
Begegnet sie darum so oft dem Werk Paul Celans, in welchem die Toten Stimmen haben? In dem Aufsatz Rabbi Löw und 27 Punkte lässt sich ein weiteres Mal beobachten, wie diese Übersetzerin übersetzt, ohne zu übersetzen. Sie entdeckt in einem der Gedichte Paul Celans zwei Reihen von Punkten; die erste Reihe besteht aus dreizehn, die zweite Reihe aus vierzehn Punkten. Sie erinnerte sich an ein anderes Gedicht von Celan, das in der Mitte entzwei geteilt ist, durch eine Reihe von zehn Punkten, welche in einer japanischen Celan-Ausgabe dargestellt sind als dreißig Punkte. Wie wichtig ist es, ob in einer Zeile zehn oder dreizehn oder vierzehn Punkte stehen? Warum ist Yoko Tawada an dieser Frage interessiert? Weil Punkte nicht übersetzt werden können? Besser gesagt, weil Punkte nur gespiegelt werden können, zehn zu zehn, dreizehn zu dreizehn? Weil Punkte nur als Punkte gespiegelt werden können, ohne Übersetzung? Wie also wäre es, wenn man die Punkte nicht übersetzte, sondern sie …, sondern was? …. sondern sie differierte und aus ihnen eine Überseezunge machte? Was ist die Differenz von dreizehn und vierzehn Punkten – die Differenz, nicht die Gleichung, nicht die Tautologie?
Die erste Reihe enthält 13 Punkte, die zweite 14. In diesen zwei Zeilen liegt etwas nicht Ausgesprochenes. Auch in der letzten Zeile wird etwas nicht ausgesprochen. Dort fehlen die drei Buchstaben ’b’ ’b’ ’i’ des Wortes ’Rabbi’. Ich zählte alle Buchstaben, Bindestriche und Doppelpunkte, addierte sie, subtrahierte dann eine bestimmte Zahl von einer anderen und vergaß bei all dem, wie die Zeit verging. Mitternacht war schon längst vorbei. Meine Besessenheit hatte nichts mit der Jagd nach Sinn zu tun.
Irgendwann wurde es draußen wieder hell. Ich öffnete ’die Morgentür’ und sah auf den Zettel auf den ich die Wörter ’PRAG’, ’RABBI’, ’LÖW’ und ’GOLEM’ geschrieben hatte. Daneben standen einige mathematische Rechenversuche. Auf einmal vermischten sich in meinem Blick die Zahlen und die Buchstaben, als wären sie alle Ideogramme. Weil ich die Ziffern eng nebeneinander geschrieben hatte, sah die Anzahl der Punkte in der ersten Reihe, 13, als geschriebene Zahl aus wie der große Buchstabe ’B’. Die zweite Punktreihe hatte 14 Punkte, also 13 plus 1. Die geschriebene Zahl 1 ähnelte unübersehbar dem Buchstaben ’I’. Die beiden Punktreihen stellten also die drei Buchstaben ’B’ ’B’ und ’I’ dar, die im letzten Wort des Gedichts fehlten. Ich übersetzte die 13 Punkte in den Buchstaben ’B’ zurück, die 14 Punkte in ein ’B’ und ein ’I’ und gab sie dem Wort ’Rabbi’ wieder, so dass das Wort vollständig wurde.
13 Punkte übersetzen in den Buchstaben ’B’ – ist das gerade nicht Übersetzung, sondern Differenz?
Der 1914 in Ôsaka geborene Politikwissenschaftler Masao Maruyama analysiert in seiner 1961 publizierten Schrift Denken in Japan das Aufeinandertreffen von traditionellem Hintergrund und europäischer Moderne, das zu einem merkwürdigen Resultat in Japan geführt habe, nämlich eine eigenartige Ähnlichkeit zwischen dem traditionellen Japanischen und dem fremden Europäischen. Es sei eine Vergleichbarkeit oder eine irgendwie betäubende Verschmelzung der Kulturen von Ost und West entstanden. Maruyama schreibt: „Das soll nicht heißen, diese Dinge hätten überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander; und es ist natürlich auch nicht sinnlos, Gemeinsamkeiten herauszufinden. In dem Sinne, dass alles, was Menschen seit ältester Zeit gedacht haben, nicht so extrem verschieden voneinander ist, lassen sich selbstverständlich überall Gemeinsamkeiten finden. Entscheidend ist hier aber, dass man so selten bereit ist, die geistigen Produkte einer anderen Kultur zunächst einmal als etwas dem eigenen Selbst zutiefst Fremdes zu setzen und sich diesem Fremden zu stellen, und das aus dieser ’Leichtigkeit’ des Verstehens eine ’Tradition’ des bequemen Verbindens resultiert, die eben nichts zur Tradition werden lässt. Wenn heutzutage in der Intelligenz, zumindest was Ideen betrifft, kaum ein wacher Sinn für ’das Unbekannte’ vorhanden ist, so geht das auf das Konto einer ’Tradition’, die uns insbesondere seit der Meiji-Zeit mit unersättlicher Neugier und flinker Auffassungsgabe (darin ist Japan wohl unübertroffen in der ganzen Welt, und das war eine entscheidende Voraussetzung für Japans rapiden ’Sprung’) die ausländische Kultur aufsaugen ließ: Nach anfänglicher Neugier wendet man sich schon bald mit ’das kennen wir ja schon’ wieder ab. Überempfindlichkeit und Empfindungslosigkeit gehen eine paradoxe Verbindung ein.“ (Maruyama 31, 32)
wegen der stadt kann ich gehen gesetzliche ringe kochen umsonst treffliche krankheit am unterleib der heimat eine tabelle ganz am ende dieses lebens auf dem rücken betet ein wasservogel er denkt nicht an seinen profit
Mitten durch die Schünemannsche Mühle führte damals dieser flammende Weg.
Der Text der Laudatio wurde von einem handschriftlichen Manuskript abgenommen, für Fehler bei der Übertragung bitten wir um Nachsicht.
© Peter Waterhouse, Juli/August 2013, St. Veit im Jauntal/Šent Vid v Podjuni