Laudatio auf Felix Philipp Ingold

von Adrian La Salvia

Ingolds übersetzerisches Werk ist überreich. Sein Schwerpunkt liegt auf der russischen Literatur. Ingold war Ordinarius für Kulturund Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen. Aus dem Russischen übersetzte er u. a. Joseph Brodskij, Wladimir Buritsch, Ilja Kutik, Ossip Mandelstam, Boris Pasternak, Marina Zwetajewa, vor allem aber Gennadij Ajgi, mit dem ihn eine enge Freundschaft verbindet. Daneben stehen Übersetzungen aus dem Französischen (Charles Baudelaire, Edmond Jabès, Michel Leiris, Francis Ponge), aus dem Tschechischen (Jan Skacel) und gelegentlich auch aus dem Italienischen (Giacomo Leopardi und Ugo Foscolo).

Lassen Sie mich anhand einiger relativ konstanter Leitfragen einen Pfad durch dieses reiche Werk bahnen. Folgende Punkte: Übersetzen als Hören auf die Sprache, Übersetzen als Gespräch und Nachschrift, Übersetzen als Lebenskunst und schließlich die Frage nach dem Autor.

Ingolds Poetik der Übersetzung

„Fremdsprache. Gedichte aus dem Deutschen“ heißt ein früher Gedichtband von Felix Philipp Ingold (1984). Darin finden sich Texte, für die Oskar Pastior den Begriff der „Vokalise“ geprägt hat, wie z. B. eine „umgereimte“ Übersetzung von Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“: „Üb er’s Fallen! Schlittern / Übst du – / …“ „Üb er’s / Übersetzen“ sind als Fortsetzung und Verlängerung dieser literarischen Linie Gedankensplitter zum Übersetzen (1990) überschrieben. „Fallen“, „Schlittern“, „Übersetzen“ stehen innerhalb des Paradigmas in einer positionellen Entsprechung; dem Übersetzen ist somit das Scheitern semantisch eingeschrieben. Der Übersetzer als ein neuer Ikarus? Aber das Scheitern wird zum Gewinn. „Das Buch der Sprüche. Ein Idiotikon / Ein Glossar“ – EA 1987 mit
Linolschnitten von Rolf Winnewisser ist Ingolds „Wörterbuch der gemeinen Phrasen“ (Flaubert). Es enthält gut hundert Eintragungen, die phonetisch aus dem Grundbegriff entfaltet werden. „Tierversuche – Furchen ziehen! Furchen zieren / Hirn und Fersen; Menschenlos – auf allen Vieren!“ Ein „Glossar“ – so der Untertitel in der Ausgabe der jüngsten und jüngeren Gedichte – ist ein erklärendes Verzeichnis schwer verständlicher Wörter (eine „große Wortschar“), – die Glosse (von gr. „glossa“: Zunge, Sprache) eine Form der kommentierenden Übersetzung. Interessant ist, wie Ingold Trendwörter glossiert: Er entfaltet, was auf der Zunge liegt. Dabei entstehen gewissermaßen analytische Sätze, die scheinbar dasselbe noch einmal sagen, aber im Hören auf die Sprache gewinnen diese Sätze gleichwohl einen überraschenden Erkenntniswert.

Hören auf die Sprache

Die Aufgabe des Übersetzers ist ein Hören: ein Hörensagen. Denn jeder vermeintlich spontane Schaffensakt tradiert sprachliche Energien, die literarische Kunstwerke überhaupt erst ermöglichen. Das schöpferische Prinzip der Poesie liegt demnach, „unabhängig vom individuellen Schöpfertum“, in der Sprache selbst, deren rhythmische und melodische Veränderung „ce maudit moi„, das wir Autor nennen („ce mot dit moi„), mit dem Sprach-Stethoskop abhört.

„Jemand, der ein Gedicht schreibt, tut dies, weil ihm die Sprache … diktiert“, sagt Brodsky. „Brodsky ist demnach kein kreativer, vielmehr ein dezidiert konservativer Autor, dem es vorrangig darum geht, Überliefertes neu zu beleben, der Tradition etwas Neues abzugewinnen.“ Im übertragenen Sinn dürfte Ingold damit auch die eigene Poetik umrissen haben.

Übersetzen als Gespräch und Nachschrift

Übersetzen ist für Ingold eine Form der dialogischen Auseinandersetzung mit anderen Schreibpraktiken. Im Unterschied zum Dialog ist aber das Übersetzen ein historischer Prozess: „ein Schritt voran in eine Sprachvergangenheit“. Progression und Rückbindung. Die diachrone Doppel-Bewegung des Übersetzens
gibt dem übersetzten Text ein Mehr an Zukunft, das zugleich in die Vergangenheit, auf die Geschichtlichkeit der Sprache und auf die Frage nach ihrem Ursprung zurückverweist. Fortschritt, zurück zum Beginn. Denn: „Am Beginn ist die Zukunft.“

„Bisweilen träume ich davon“, schreibt Ingold, „mich selbst, unversehens, in Texten zitiert zu finden, die um Jahrzehnte, Jahrhunderte älter sind als ich“. Es ist ein Traum vom Übersetzen, den Ingold hier beschreibt: der Traum von der Rückübersetzung und Ausgründung der eigenen Textproduktion im Fremd-Zitat, der
Versuch, die eigene Schreibpraxis nicht als spontanen Schöpfungsakt, sondern als Überlieferungsgeschehen zu begründen. In dem bekannten Wortspiel traduttore-traditore liegt ein tiefer Hintersinn verborgen, denn der traditore ist nicht nur vermeintlich ein Verräter, sondern auch jemand, der eine Tradition begründet. Treue durch Verrat? Dem Original ist vielleicht mit übersetzerischer Treulosigkeit am besten gedient.

Felix Philipp Ingold erhebt sich für den Applaus des Publikums

Felix Philipp Ingold

Foto: Erich Malter

Übersetzen als Lebenskunst

Die Übersetzung ist ein Gespräch mit dem Original. Doch im Unterschied zum Gespräch bleibt die Übersetzung (zumeist) ohne Antwort. Das Gespräch mit dem Anderen ist aber damit nicht gescheitert. Aufmerksam folgt der Übersetzer seiner „Spur“. Er verpflichtet sich durch sein Tun im Wortsinn zur Verantwortung
gegenüber dem Anderen, von dem alles Übersetzen seinen Ausgang nimmt. Übersetzen ist für Ingold, wie für Emmanuel Levinas, auf den er sich mehrfach bezieht, auch ein ethisches Prinzip der Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen, eine Lebenskunst. Selbstaufgabe als Lebensaufgabe? „Ich bin, was ich schreibe, nicht. Ich ist, was geschrieben wird. Ich bist ein Anderer, …“ Wer übersetzt, wird auch übersetzt, wird ein Anderer und anders Derselbe.

Ein Publikum, das von sich sagt, es lese einen Autor („ich lese Ingold oder Goethe“), wird sich hier enttäuscht abwenden. Ein Publikum, das nicht nach dem Autor, sondern nach seinen Werken fragt, wird dafür reich belohnt. Denn die „abnegatio sui“ des Felix Philipp Ingold hat durchaus zwei Seiten. Im gleichen Maß nämlich, in dem der Autor hinter sein Werk zurücktritt, kräftigt er die Autorität der Sprache.

Wie ein Kristall wächst Ingolds Poesie nach ihren eigenen Gesetzen. Die kristalline Reinheit seiner Sprache tritt überall dort besonders eklatant in Erscheinung, wo der Eigensinn der sprachlichen Selbstorganisation und die übersetzerische Eigendynamik des Poetischen sich ungehindert entfalten können:

Möglicherweise ist in der Übersetzung die Reinheit der Sprache sogar größer als im Original, weil der Übersetzer nichts mehr zu sagen hat. Seine Intention ist außerhalb der Bedeutungen nicht auf die Welt, sondern auf die Sprache gerichtet. „Am schlechtesten schreiben allemal die, die etwas zu sagen haben. Der Grund? Sie sind nicht bei der Sache. Die Sache nämlich ist die Sprache.“ Der Sinn kommt hinterher. „Die gelungene Übersetzung nimmt auch Unverstandenes in die Zielsprache mit.“ Das hat zur Folge, dass falsche Übersetzungen trotzdem die besseren sein können. Selbst elementare Fehlleistungen können sich gelegentlich kompensieren, „so daß sie also funktional werden“ (Ponge). In der Übersetzung verdunstet die Bedeutung von Welt. Der Rückstand ist die eigentliche poésie pure.

Die Frage nach dem Autor

Hier lassen sich zwei Autor-Typen unterscheiden: der wortgewaltige Olympier und der (mehr oder weniger) elende Skribent (Thomas Mann oder Franz Kafka). Die einen geben Antworten und stilisieren sich zu „Repräsentanten“; die anderen stellen Fragen. Ingold ist ein Autor, der Fragen stellt und Fragen provoziert. „Horror: Das Schreckliche, das einen trifft, kommt oft auch daher, daß man verstanden wird.“

In der Übersetzung (der Gegenüber-Setzung) der „Spur des Anderen“ nachgehend, ihr nachschreibend, wird der Autor selbst zum Leser, mehr noch: Übersetzbarkeit ist Lesbarkeit schlechthin. Was lesbar ist, ist auch übersetzbar: „alle, auch die schwierigsten, Texte“. „Solange sie lesbar sind.“ Das zeigt beispielhaft eine Arbeit, die Ingold in mehreren Phasen seit 1986 beschäftigt, nämlich die Übersetzung von Michel Leiris‘ surrealistisch imprägniertem „Glossaire: j’y serre mes gloses“ – EA 1925 in der von André Breton herausgegebenen Zeitschrift „La Révolution Surréaliste„, erweiterte Buchausgabe 1940 mit Zeichnungen von André Masson. 1985 erschien in „Langage tangage“ ein Supplement: „Souple mantique et simples tics de glotte„. Ingold übersetzt 1986: „Geschmeidige Deutung und einfache Wunderlichkeiten der Stimmritze“. 1991 wird daraus, vom Verfahren her anders: „Suppe Lehm Antikes im Pelz tickte o Gott Lotte“. Und schließlich 2004, mit kleineren Retuschen: „Suppe lähmt Antike und simpel tickte o Gott Lotte“.

Wir haben es hier mit einer radikal unpersönlichen, subjektlosen Sprache zu tun: kontextlose Einzelwörter, „Wörter ohne Gedächtnis“, die Leiris in ihre phonetischen Bestandteile zerlegt und sprachspielerisch neu arrangiert. Einige Beispiele (Leiris mochte die Oper):

Verdi – le véridique.
Verdi – der Wahrheitsliebende.

Ingold erfindet, verdoppelt:
Verdi – wie? der? schon wieder? ich werd’irre! (1986)

An dieser Übersetzung arbeitet Ingold weiter bis 2004.
Am vorläufigen Ende steht:
Verdi – wer riet wie der? (2004)

Unter Berücksichtigung des e-caduc in „véridique“ ist die spätere Übersetzung nicht nur viel stärker auf das französische Original hin durchhörbar, sie erzeugt auch außerdem sinnverwandte Vorstellungen.

Linguistik – lustig tickt es in der Kiste. (1986)
Glossolalie – Solohalalí (polyglott). (1986)

Eine polyphone Verstimmung? Poesie entsteht in der Stimmritze. Jedenfalls hat diese Art von Sprache „Sprengkraft“ und „poetische Evidenz“ (Eluard), aber auch Witz, durch den sich die poetische Art zu denken von der prosaischen unterscheidet.

Esel – (ich lese) Seele. (1986)

Durch die Hintertür kommt hier – gegen die selbstgewählte Regel – das dezentrierte Subjekt wieder ins Spiel: „Ich lese“. Aber meint dieses Ich wirklich noch den Autor oder nicht vielmehr den Leser, der sich selbst beim Lesen über die Schulter schaut? „Schluß mit den glorreichen Schöpferposen!“ Der Autor in dem von Ingold beschriebenen Sinn ist kein autoritativer Diskurs-Begründer, sondern ein Diskurs-Tradierer, ein traditore, der zu lustvoller Fortsetzung verführt.

Wir können uns nun fragen, ob nicht auch „Das Buch der Sprüche“, auf das ich eingangs hingewiesen habe, eine Art „Souple mantique“ (Supplement und geschmeidige Deutung) zu Leiris‘ „Glossaire“ ist, ohne als solche explizit ausgewiesen zu sein? Ingold benutzt die Übersetzung als poetisches Verfahren. Wir sehen aber auch, wie sich der Begriff der Übersetzung plötzlich gewandelt hat. „Das Original ist immer schon übersetzt.“ Aber auch wir, die Leser, sind übersetzt und anders Dieselben. Ingolds Poesie nach der Dichtung hat auch uns verwandelt.

Was diese Verwandlung bewirkt, ist Ingolds besondere Intention auf die Sprache, die ihn in hervorragender Weise zum Übersetzer qualifiziert. Deshalb soll er nun den 1. „Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung“ erhalten. Wir hoffen, dass auch der Preis eine Tradition begründet, die zu lustvoller Fortsetzung verführt.