Anlässlich der Verleihung des 10. Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung

von Susanne Lange

Das waren keine federn, vielmehr fledern
flugmäusemode; wenn er damit schlug,
so wehten winde dreierlei hinaus
Christian Filips, CANTO XXXIV / Inferno

Die Sprache im Anflug

Um Ihnen den Übersetzer, Lyriker, Musikdramaturgen, Chorleiter und noch vieles mehr, Christian Filips vorzustellen, möchte ich Sie auf eine Reise mitnehmen. Besser gesagt, auf eine Flugreise – die heutzutage zwar eher vermieden werden sollte, aber ich verspreche, sie wird 100% CO²-neutral sein. Anschnallen kann dennoch nicht schaden, Turbulenzen und Luftlöcher sind sozusagen eingeplant.

Kurz nachdem ich Christian Filips 2019 kennengelernt hatte, lud ich ihn zu einem Vortrag in ein Übersetzungsseminar zu den stilistischen Möglichkeiten des Deutschen ein. Es ging vor allem um seine Übersetzungen älterer Literatur, aber auch um seine Pasolini-Übertragungen, bei denen es galt, eine Sprache für den archaischen friulanischen – und so nicht mehr oder nie gesprochenen – Dialekt von Pasolinis Mutter zu finden. Im Seminar hat er uns in seinen ganz eigenen Begriff vom Übersetzen als „historischer Aufführungspraxis“ eingeführt, den er aus der Musik in die Sprache verpflanzt hat, denn in seinen Übersetzungen kombiniert er gewissermaßen alte und neue Instrumente. Das Zeitgenössische bahnt sich seinen Weg ins Historische, und das Historische springt uns in seiner Modernität entgegen. Als sähe man, wie er uns damals erklärt hat, auf einem Brueghelschen Bild am Himmel – und damit sind wir bei unserer Flugreise – ein kleines Flugzeug. Und in diesem kleinen Flugzeug der modernen Sprache sitzen wir, wenn wir mit Christian Filips quer durch das Mittelalter und durch andere Zeiten fliegen. Aber Christian Filips ist nicht nur das Flugzeug im Brueghelschen Bild, sondern – nicht minder wichtig – er durchpflügt den Himmel der modernen Sprache auch wie einer der Luftschiffer auf einem Bild von Hieronymus Bosch. Man könnte sagen, er führt zugleich die historische Kalesche auf die Rennbahn der Moderne oder lässt eine Flugmaschine Leonardos auf der Startbahn eines heutigen Flugplatzes abheben. Die zeitlichen Sprachebenen und -register überschneiden, überlappen, überlagern sich. Christian Filips kratzt bei seinen Sprachschürfungen nicht nur an der Oberfläche der heutigen Sprache, sondern geht in die Tiefe der Sprachschichten und fördert dabei reiches Material zutage.

Gut, wir sitzen also im Flugzeug, und zwar in einem Flugzeug – und hier bewegen wir uns nun der Zukunft entgegen, wer weiß, was die Quantenphysik in dieser Hinsicht noch alles zu leisten vermag –, das in die verschiedensten raumzeitlichen Richtungen aufbricht: nach Nepal, Litauen, Indien, Kanada, Island, Ungarn, Italien, Senegal, Niederlande, Frankreich, Mexiko oder in das galizisch-portugiesische oder niederländische Mittelalter. Die Zeiten sind dabei so vielfältig wie die Reiseziele. Aus diesen Epochen und aus den Sprachen all dieser Länder hat Christian Filips übersetzt – oft nicht allein, denn vieler dieser Sprachen ist er gar nicht mächtig, sondern im Tandem mit anderen Sprachkundigen oder den Autoren und Autorinnen selbst. Eine Bewegung, die ich mir eher wie ein spielerisches Tauziehen oder eine Pingpongpartie in Zeitlupe vorstelle. Es ist ein Zusammenspiel von philologischer und poetischer Genauigkeit. Hier als kurzes Beispiel ein Gedicht der mexkanischen Lyrikerin Coral Bracho (in Zusammenarbeit mit Birgit Kirberg übersetzt) – nicht zuletzt, weil wir hier unser Flugzeug wiederfinden:

Sobre su cúspide

La nube que apareció de pronto
sobre el aire vacío
es todo un reino. Sobre su cúspide,
como un pez encandilado, al sol,
fuera del agua,
cruza un pequeño avión.

Über ihrem Gipfel

Die Wolke, die aufschien, rasch
über dem Luftraum, leer
ein ganzes Königreich. Über ihrem Gipfel
wie ein geblendeter Fisch, in der Sonne,
über dem Wasser,
kreuzt ein kleiner Flieger.

Susanne Lange

Foto: Erich Malter

Hier kann man sehen, wie die Kompositionselemente der spanischen Vorlage im Deutschen sogar noch konsequenter umgesetzt werden: Zwischen dem Verb im ersten und dem im letzten Vers werden verblose Impressionen in den Himmel getupft, durch den dann der kleine Flieger kreuzt (und schon die Häufung des Buchstaben k kratzt hier durchs Wolkige: der Klang sitzt bei Filips immer ganz vorne mit im Cockpit). Man sieht diesen kleinen Flieger förmlich vor sich, als wäre es der Fisch, auf dessen Rücken die Figuren auf dem Bosch-Gemälde den Himmel durchpflügen. Der Fisch im Himmel ist eine Art Amphibienfahrzeug, und überhaupt kann man die Übersetzung als eine Amphibienkunst betrachten. Das Wort amphibios, doppellebig, leitet sich her von amphi, auf beiden Seiten, und bios, Leben, und gewissermaßen lebt die Übersetzung tatsächlich auf beiden Seiten, ist nicht das oft bemühte Über-setzen ans andere Ufer, sondern bringt im Idealfall das andere Ufer immer mit. Sie setzt das Ufer selbst über, und fügt es in die Landschaft ein, siedelt sich aber auch am Ufer des Originals an. Eben das scheint mir einer der Antriebsmotoren von Christian Filips‘ Übersetzungen zu sein: Uns die Zeit und die Spracheigenheiten eines Textes ins Ohr zu singen, dabei aber auch seine eigene Zeit ans Ufer des Originals zu schmuggeln und ihm einzuverleiben.

Ein gutes Beispiel dafür wäre sein Versuch zu Dantes Göttlicher Komödie. 2021 wurde zu Dantes 700. Todestag eine Schar von 33 Dichtern und Dichterinnen, Übersetzern und Übersetzerinnen aufgeboten, von Theresia Prammer versammelt, die jeweils einen Gesang der Commedia Divina übertragen sollten. Christian Filips machte sich an den Gesang 34, den letzten des Inferno (einen Schritt vom Läuterungsberg entfernt). Dazu hat er einen Werkstattbericht verfasst, der den Titel trägt: „Flugmäusemodus, Höllengelächter. Sing-, Sprach- und Sprecherfahrungen beim Übersetzen von Dantes Canto XXXIV / Inferno“. Schon der erste Vers ist für ihn, wie er darin schreibt, eine Fusion aus Gregorianik und Black Metal. Aber wenden wir uns der 4. Strophe zu. Seine Fassung lautet folgendermaßen:

>> Ich war, mit zittern zwing ichs in die zeile,
dort, wo die schatten alle eingefroren,
so transparent wie splitter binnen glas. <<

Drei Verse, in denen sich wie Splitter im Glas Christian Filips Poetik der Übersetzung kristallisiert. Hier findet die lyrische Verdichtung bei Dante durch elliptische Konstruktionen ihren Weg ins sonst oft umständlichere Deutsch. Christian Filips nimmt Dante als Dichter beim Wort. Im ersten dieser drei Verse heißt es im Original: „e con paura il metto in metro“, was andere Übersetzer u.a. so übertragen haben: Carl Streckfuß (1826) „ich sing‘ es noch mit Schrecken“, Karl Witte (1916) „und schaudernd schreib‘ ich’s nieder“, Friedrich Freiherr von Falkenhausen (1937) „ich reims mit Schrecken“. Bei Christian Filips wird aber das Zaudern vor dem Schaudern noch eindringlicher im harten Zwang seiner Alliterationen (die im Übrigen auch im Original zu finden sind: metto in metro): „mit zittern zwing ichs in die zeile“. Der Vers schmiegt sich aber zugleich so zwanglos wie bei Dante ins fünfhebige Metrum ein.

Die Verdichtung finden wir bei ihm auch in dem Wort „binnen“ im letzten der drei Verse – „so transparent wie splitter binnen glas“. Hier benutzt er die heute fast nur noch zeitlich benutzte Präposition „binnen“ in ihrer alten auch lokalen Bedeutung, die sich aber noch in Wörtern wie „Binnengewässer“, „Binnenland“ und vor allem im Wort „Binnenreim“ gehalten hat. Und da haben wir ein weiteres entscheidendes Stichwort für Filips‘ Übersetzungskunst: den Binnenreim, auf den das „binnen“ im Vers hier augenzwinkernd verweist, denn der „splitter“ in der Zeile schlägt eine Brücke zurück zum „zittern“ des ersten Verses. Mit einer einzigen Präposition wird hier also gleich ein kleiner Kommentar zum Vorgehen des Übersetzers mit eingeschmuggelt. Eine Kunst der doppelten Tonspur. Neben dieser alten Verwendung des Wortes „binnen“ finden wir im selben Vers außerdem das moderne Adjektiv „transparent“ (in älteren Übersetzungen als „durchscheinend“, „durchsichtig“, „durchschimmernd“ poetisiert). Hier hört man schon das kleine Flugzeug am Brueghel-Himmel im Anflug, und ganz deutlich sieht man es in einem weiteren Vers dieses Gesangs schon am Horizont auftauchen. Doch beim Näherkommen sehen wir, dass das Flugobjekt hier eine andere, tierische Form angenommen hat. Es werden die segelgroßen Flügel eines Riesenvogels beschrieben. Karl Witte übersetzt 1916:

>> Sie waren federlos und ihre Weise
Glich der der Fledermaus; von ihrem Schlagen
Entstand dreifacher Wind nach den drei Seiten, <<

2021 dagegen Christian Filips:

>> Das waren keine federn, vielmehr fledern
flugmäusemode; wenn er damit schlug,
so wehten winde dreierlei hinaus <<

Hier heben die geballten f und w den Vers in die Lüfte. Das unbekannte Flugobjekt ist aber kein Federvieh, sondern ein Fledervieh, die Fledermaus, die ihre Fledern als Flugmäusemode trägt; und in der Flugmäusemode, die die Flügel bekleidet oder gerade nicht bekleidet, flattert (denn die Fledern kommen vom Flattern) das englische mode, der Modus mit – und hier haben wir unser Flugzeug in Dantes Text. Und zugleich läuft wieder wie eine zweite Tonspur ein Dialog über den spezifischen Modus des Übersetzens mit.

Preisträger Christian Filips

Foto: Erich Malter

Der Zeitpfeil weist immer nur in eine Richtung, die Übersetzung kommt zeitlich nach dem Original, doch Christian Filips‘ Übertragungen zeigen, dass die Zeit des Übersetzers sich ihren Weg zurück in die Vergangenheit des Originals bahnen kann. Filips entdeckt die Wahlverwandtschaften zwischen dem modernen und dem historischen Wort und spannt sie beide vor seinen Text. In diesem Tanz der Zeiten scheint es plötzlich nicht mehr abwegig, dass Antonin Artaud 1945 zu seiner Übersetzung von Lewis Carrolls Nonsense-Gedicht Jabberwocky (1871 erschienen, lange vor Artauds Geburt) in einem Brief schreibt, dass Carroll ihn, Artaud, plagiiert habe, das Original also das Plagiat der Übersetzung sei. Bei solchen „heißen Fusionen“ – so der Titel eines Gedichtzyklus von Christian Filips – nämlich der „heißen Fusion“ von Original und Übersetzung, lässt sich das eine nicht mehr vom anderen trennen, verschmilzt in einer Symbiose.

Wie sich Christian Filips in frühere Zeitstufen beamt und sie auf die Gegenwart prallen lässt, kann man an seinen Pasolini-Übertragungen in „Dunckler Enthusiasmo“ (Tetro entusiasmo) von 2009 sehen. Schon im Titel wird klar, dass wir eine feine Dosis Original mitschmecken dürfen und ebenso ältere Sprachschichten – denn das „dunckel“ wird in Filips‘ Titel mit ck geschrieben, wie etwa noch bei Luther, und auch das ist ein unterschwelliger Übersetzungskommentar, denn die Sprache Luthers spielt für seine Übertragung eine wichtige Rolle. Pasolini nimmt in dem Buch seine friulanischen Gedichte aus den 40er Jahren 1974 noch einmal auf, schreibt sie neu und konfrontiert sie mit einer technisierten und politisierten Sprache. Diesen Crash der Epochen und Sprachwelten erfasst Christian Filips durch einen harten Schnitt von Frühneuhochdeutsch und Moderne. Das klingt z.B. so:

>> Die kindeleyn der duͤrftgen zitteren
oder sie seyn stumb als die bessern
kindeleyn der reychen. Sonsten
grimmen vnd argwehnen sie

so als der reychen uͤble kindeleyn.
Die Menschen der Macht,
die sich nicht darum scheren,
die kommunistischen Leader lachen in Belgien. <<

Die diesjährige Poetica, die Christian Filips kuratiert hat, rankte sich um den Titel „Das chorische Ich – Writing in the Name of“, eine ganz spezifische Fragestellung für die Dichter der verschiedensten Nationalitäten (Nigeria, Australien, Ukraine, Schweiz, Deutschland, Belgien, Haiti, Indien, China, USA), aber der Titel stellt im Grunde ebenso eine exakte Beschreibung der übersetzenden Tätigkeit von Christian Filips dar. Als ein idealer Chorleiter führt er in seiner eigenen Übersetzerstimme die verschiedensten Stimmlagen zusammen, und gleichzeitig hat man das Gefühl, dass er nach Art des Chors in der griechischen Tragödie zugleich das Übersetzungsgeschehen kommentiert: Er singt die Worte (denn seine Übersetzungskunst ist, wie wir bereits hören konnten, eine höchst musikalische), blickt dabei aber stets auf das Wortmaterial selbst, lässt es sich auf der Zunge oder auf den Stimmbändern zergehen, weist auf den Übersetzungsmodus hin. Abgesehen vom Chor beherrscht er aber in seinen Tandem-Übersetzungen – wie gesehen – auch hervorragend die Kunst des Duetts. Doch vor allem zeichnet seine Übertragungen ein hohes Formbewusstsein aus, durch das er den Text als eine Partitur liest, sich an Klangfolgen, Leitmotiven orientiert und ihn manchmal auch in andere Tonarten transponiert und dabei alle Stufen des Deutschen mitsingen lässt, ob es Luthers Deutsch, das Deutsch von Hofmannsthal oder Trakl oder die verschiedensten Slangs der Moderne sind. Bei Pasolinis friulanischen Gedichten eben auch das Mittelhochdeutsch, was sich so anhört:

Der Sunntac Uliva: Suon

>> Mit gelîchen ougen
diu im anvanc wâren,
sëhe ich diu valsche
wîderkêr der wëlt.

Diu wisen, diu sunne,
sie kêren als sunsten
in vrüeren maien;
doch wârheit kêrt niht. <<

Auch hier macht Christian Filips sich über das Mittelhochdeutsche abgesehen vom Klang vor allem die Verdichtung zu eigen, die jeglichen Ballast an Überflüssigem abwirft.

Kennengelernt hatte ich Christian Filips – und hier kehre ich zum Anfang zurück –, als er in kleinem Kreis seine Übersetzungsversuche zu den mittelniederländischen Versen der Nonne Hadewijch, eine Mystikerin aus dem 13. Jh., vorstellte. (Christian Filips versteht es, sich seine Aufgaben und Herausforderungen zu suchen und ans Licht der Gegenwart zu bringen.) Wie er sich in diesem Text sprachlich in die Vergangenheit begeben, aber zugleich herausgekitzelt hatte, was in ihm angelegt, sich damals aber noch nicht sprachlich offenbart hatte, hat Neugier bei mir geweckt. Und so schien er mir ein idealer Übersetzer für Texte aus dem 13. Jh. zu sein, die wir in unsere vierbändige Anthologie spanischer und hispanoamerikanischer Lyrik aufnehmen wollten, nämlich für einige der galicisch-portugiesischen Lieder, der cantigas, in denen im Hintergrund durchaus etwas Pasolini mitschwingen durfte. So etwa bei Pero da Ponte, bei dem in der Mitte des 13. Jhs. in einem Lied satirisch angedeutet wird, dass da jemand nach damaliger Ansicht nicht ganz auf den Wegen des Herrn wandelt. Hier eine Strophe, die die Kluft der 800 Jahre mühelos überspringt:

>> Das Paradies in seinen Händen hält er,
hat Messner-Inbrunst stets dabei im Sinn;
die Frauenliebe war ihm nie Gewinn,
liebt keine Bauern nicht noch Edelmänner;
hört weiter zu, wenn es euch interessiert,
mit Frauen hat er es noch nie probiert,
doch seine feschen Schmuser schätzt der Kenner. <<

Pero da Ponte hätte seine Freude daran gehabt. Und auch wir im Herausgeberteam hatten sie, denn es war kaum zu hoffen gewesen, dass diese satirischen Gedichte den Sprung in die Gegenwart schaffen würden.

In Christian Filips‘ lyrischem Werk findet sich eine Serie von Gedichten, die als „Heischesätze“ überschrieben sind, in der Linguistik Sätze, die einen Wunsch, ein Verlangen, ein Postulat ausdrücken. Doch ebenso gibt es eine Definition des Heischesatzes in der älteren Mathematik: Demnach ist es ein Satz, der eine Forderung enthält und unbewiesen bleibt. Gibt es eine schönere Definition für das Übersetzen von Versen? Ein Satz, der sich nicht beweisen muss, immer wieder von Neuem unbewiesen bleiben darf, uns aber zugleich herausfordert, Mal um Mal seine Unbewiesenheit zu beweisen. Dass diese Maxime zu den hellsichtigsten Übertragungen führt, beweist uns Christian Filips in seinem kleinen Flieger am Himmel. Ich wünsche einen guten Flug. Und herzlichen Glückwunsch Christian Filips.