Anlässlich der Verleihung des 6. Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung
von Yoko Tawada
Yoko Tawada und Uljana Wolf
Foto: Georg Pöhlein
Man spricht im Deutschen von einem „Wortschatz“. Wörter, die wir kennen und die uns kennen, sind kostbare Schätze. Darunter gibt es Wörter, die schwer im Magen liegen oder ins Herz geschnitzt sind. Die meisten Wörter bewahren wir jedoch im Gehirn auf und obwohl es das Organ des Wissens ist, wissen wir nicht, wie sie dort gelagert sind. Sind sie alphabetisch sortiert oder nach Themen? Sind sie wie in einem Pflanzenlexikon nach Farben sortiert oder nach Jahreszeiten? Auf jeden Fall versuchen wir, für jede neue Sprache eine neue Wortschatzkammer einzurichten. Ich persönlich habe besonders große Angst, die Bedeutungen der englischen Wörter mit denen der deutschen durcheinanderzubringen. Scheinbar muss ich eine wasserdichte Mauer zwischen den beiden Sprachen gebaut haben. Sonst könnte ich nicht erklären, warum ich nie im deutschen Wort „Igel“ das englische Wort „eagle“ gehört hatte, bis ich Uljana Wolf las. Für die Räumlichkeiten im Sprachzentrum hat sie eine neue Ordnung (oder Unordnung) entworfen. Sie ist eine hervorragende Innenarchitektin der mehrsprachigen Dichtung. Wenn sie mit eleganten Linien Wörter miteinander verbindet und damit die Grenzen zwischen Sprachen überschreitet, erscheint ein unerwartetes Gebilde als Poesie. Das ist vergleichbar mit Sternbildern: Zwischen den einzelnen Sternen liegt eine Distanz von Millionen Lichtjahren, aber weil ihre Strahlung gleichzeitig unsere Gegenwart erreicht, können wir ein Bild erkennen.
Wie sucht aber Uljana Wolf die Wörter aus, die sterntauglich sind? Sie ist eine Meisterin der Ähnlichkeit. Wir lernen, gewisse Ähnlichkeiten zu ignorieren, um Verwirrungen zu vermeiden. Das englische Wort „bad“ hat nichts mit dem deutschen Badezimmer zu tun, und der deutsche Brief ist nicht unbedingt kurz (brief). Uljana Wolf hat keine Angst vor Verwirrungen. Im Gegenteil. Sie empfängt jede Verwirrung mit offenen Armen als Anlass für eine neue Freundschaft.
„Weder im guten noch im bad“ (Falsche Freunde, Seite 11). Als ich diese Stelle im Gedichtband „Falsche Freunde“ las, erinnerte ich mich an einen japanischen Verleger, der für meine Erzählung „Das Bad“, die damals ausschließlich auf Deutsch erschein, ein großes Interesse zeigte, das ich nicht nachvollziehen konnte. Wie es sich später herausstellte, lag es am Titel: Das Bad. Der Verleger, der des Deutschen nicht mächtig war, dachte, es sei ein Roman über ein böses Mädchen.
Uljana Wolf spielt mit offensichtlichen Ähnlichkeiten, die normalerweise kollektiv verdrängt werden. Hier noch ein anderes Beispiel: „liegt aber eine strähne im brief, gar eine lange“. (Falsche Freunde, Seite 11) Das englische Wort „brief“ und der deutsche Brief: Sind sie etymologisch verwandt, sei es über vielen Ecken? Oder sehen sie nur zufällig ähnlich aus? Das Wissensloch in der Etymologie erweckte in mir eine persönliche, etwas peinliche Erinnerung, in der ich die beiden Wörter durcheinandergebracht hatte.
Wenn wir einmal die Bedeutungen der Wörter „Brief“ und „brief“ gelernt haben, sehen wir keine Ähnlichkeit mehr, obwohl sie offensichtlich ist, oder gerade weil sie offensichtlich ist; genau wie der entwendete Brief von Edgar Allan Poe.
Wir wollen nicht irritiert werden, vor allem keinen Fehler machen. Falsche Freunde führen uns möglicherweise zu sprachlichen Fehlern und es gilt im Allgemeinen als peinlich, Fehler zu machen, besonders in der englischen Sprache. Wer von einem internationalen Erfolg träumt, muss diese Sprache sprechen, aber nicht mit ihr spielen, geschweige in ihr peinliche Fehler machen. Hat jemand aber schon mal die englische Sprache gefragt, ob sie mit dieser Rolle glücklich ist oder ob sie viel lieber mit Uljana Wolf ein poetisches Abenteuer erleben will?
Manche glauben, dass eine Dichterin im Unterschied zu einer Übersetzerin kein Wörterbuch braucht, weil die Wörter direkt aus ihrem Herzen springen müssen. In Wirklichkeit verbringen Dichterinnen und Dichter viel Zeit mit Wörterbüchern. Oskar Pastior erzählte mir einmal, wie er Tage und Wochen in Wörterbüchern versunken war, als er Petrarca übersetzend gedichtet hatte.
Unter dem Begriff der „multilingualen Dichtung“ stellt man sich eine Dichterin vor, die am Frühstücksbüffet von verschiedenen Sprach-Platten köstliche Wörter auf den eigenen Teller sammelt. Bei Uljana Wolf stelle ich mir kein Frühstücksbüffet, sondern einen Schreibtisch vor, auf dem viele Wörterbücher dicht nebeneinander stehen. Die Übersetzung ist eine spannende, aber mühsame, gefährliche, undankbare Arbeit. Nicht jede Übersetzerin kann und will jenen offenen Zustand lange aushalten, in dem sich die scheinbar festen Bedeutungen im Originaltext aufzulösen scheinen und noch kein Wort in der Zielsprache zu sehen ist. Wer sich in diesem Zustand befindet, ist unmittelbar konfrontiert mit der Materialität der Sprache. Dort ist die Sprache als Buchstaben anzufassen. Eine fast bedrohliche Intimität ohne jede Sicherheit. Das ist die „Ellis Island“ der Übersetzung. Es ist noch nicht sicher, ob ein Wort oder das, was einst ein Wort war, in der neuen Sprache eine Existenz gründen kann. Die Übersetzerinnen, denen dieser Zustand unheimlich ist, wollen schnell in der Zielsprache ankommen und schnell die bedrohliche Übergangszeit vergessen. Uljana Wolf lässt sich Zeit auf der Schwelle des Übersetzens, auf der Ellis Island der Sprache. Sie behält die Originalsprache als Bewegung bei und schreitet mimetisch in die Zielsprache hinein. Was dabei entsteht, ist nicht etwa eine Übersetzung als Fertigprodukt, sondern eine Art Körperlichkeit.
„Übersetzen wird für mich immer mehr zu einem solchen Gartengehen, und zwar im zweifachen Sinne. Einerseits kommt es mir darauf an, mit und neben dem Originalgedicht zu spazieren, das heißt sein Laufen, Schreiten, Springen wichtiger zu nehmen als sein Sagen, Rätseln, Rufen. Ich meine damit nicht objektiv zählbare Verse und Füße (aber auch), sondern den rhythmisch-gestischen Abdruck, den eine Zeile mit ihrem Auf und Ab, ihren Kadenzen, in meinem Körper hinterlässt.“ („Isabel Bogdan Übersetzen“, aus dem VdÜ-Pressenewsletter)
Yoko Tawada
Foto: Georg Pöhlein
Für einen Literaturpreis, der für die „Poesie als Übersetzung“ vergeben wird, ist der Gedanke, dass das Dichten eine Radikalisierung der Übersetzung sei, von besonderem Interesse. Uljana Wolf schreibt davon. „Übersetzung hinter mir zu lassen und stattdessen dort, wo gar nichts mehr und alles geht, mit einer „Unreinheit“ zu spielen, die in meinen Gedichten schon länger um sich greift.“ („Isabel Bogdan Übersetzen“, aus dem VdÜ-Pressenewsletter )
Ich stelle mir eine radikale Übersetzung vor, die keinen anderen Weg kennt als zur Dichtung hinüberzugehen. Dort müssen nicht alle Wörter des Originaltextes durch Wörter der Zielsprache ersetzt werden. Dort muss man nicht die Leserschaft bedienen, sondern den Prozess der Übersetzung als künstlerischen Akt darstellen. Dort muss man nicht Kompromisse machen, um eine Antwort zu finden, sondern jede offene Stelle offen lassen.
Die Unreinheit ist ein Gegenbild zur Säuberung der Nationalsprache oder der Apartheid im Gehirn. Englische Wörter dürfen in einem deutschen Text gesehen werden und zwar nicht als Leihwörter mit einem Besucherausweis. In diesem Kino gibt es keine feste Rollenaufteilung mehr zwischen dem Originalton und dem Untertitel. Wie absurd klingt dann die Frage: „In welcher Sprache denken Sie?“ Denken wir nicht in allen Sprachen gleichzeitig, die wir kennen und nicht kennen?
Falsche Freunde gibt es häufig zwischen zwei verwandten Sprachen. Deshalb werden sie auch „falsche Brüder“ genannt. Englisch und Deutsch sind enge Verwandtschaften, auch Polnisch und Deutsch gehören zu einer Familie, der der indoeuropäischen Sprachen. Es geht der Dichterin nicht darum, die Entfernung vom Eigenen zu vermessen. Gerade das Konzept der eigenen Sprache, die „Muttersprache“ heißt, aber in Wirklichkeit die des „Vaterlandes“ ist, stellt sie in Frage. In einer Rede an der Humboldt-Universität sprach sie vom „Falschländischen“ als ein Alternative zum „Vaterländischen“: „Nun ist es so, dass ich auf Deutsch schreibe, aber trotz Germanistikstudium durchaus nicht vater-, eher falschländisch.“(REDE, SELTSAM ANGEZETTELT, Rede zur Absolventinnenfeier der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin am 16. Juli 2014)
Man weiß, dass eine Nähe manchmal komplizierter ist als eine Distanz. Uljana Wolfs Sprache kennt eine Geschmeidigkeit, die mit einer schwierigen Nähe umzugehen weiß.
Die meisten Deutschen schalten ab, wenn sie polnische Wörter sehen. Man könnte Gründe für diese Ignoranz endlos aufzählen. Zu fremd die Sprache, zu langweilig die Städte, nicht geeignet als Urlaubsland, nicht cool der Lebensstil, kein Geld zu holen, kleine Länder sollen große Sprachen lernen und nicht umgekehrt u.s.w. Aber was hindert einen, hinzuschauen, wenn die Wörter schon vor Augen stehen? Warum versucht man nicht einmal, sie abzuschreiben und in sie hineinzudenken? Uljana Wolf schaut hin und arbeitet mit westslawischen Nachbarwörtern. Auch wenn man das polnische Wort „Kochanie“ nicht kennt, kann man den Buchtitel „Kochanie ich habe brot gekauft“ sofort verstehen, weil das englische Wort „Honey“ aus „Kochanie“ herausklingt. „Honey ich habe brot gekauft“. Es gibt Koautorin und Koübersetzerin. Es müsste Kogeliebte oder Koliebste, also „Kochanie“ geben. Ein kleines Kind findet keine Sprache unzugänglich. Es nimmt jedes Wort in die Hand, betrachtet es, dreht es um, nimmt es auseinander und isst es auf. Das Kind arbeitet unermüdlich mit der Sprache. Warum geht uns diese Fähigkeit verloren? Warum vermeiden wir Fremdsprachen, außer wenn wir sie als Leistungsbeweis missbrauchen können? Uljana Wolfs Umgang mit Sprachen ist äußerst sympathisch, befreiend und anregend.
Ich persönlich arbeite eher mit zwei weit auseinander liegenden Sprachen: Japanisch und Deutsch. Die Distanz zwischen den beiden Sprachen ist nicht von einer geographischen Natur. Denn in Ostsibirien, nicht weit von Japan, heißt die Nacht „Ночь“. Das polnische Wort „noc“, ist eindeutig verwandt mit der russischen „Ночь“, aber auch mit der deutschen „Nacht“. Die japanische Nacht „yoru“ hat keinerlei gemeinsame Wurzel mit diesen europäischen Wörtern. Für die deutschsprachigen Menschen gibt es also keinen Grund, slawische Sprachen zu exotisieren.
Uljana Wolf arbeitet mit polnischen Wörtern und wagt einen halben Schritt in die Nacht hinein. „Halb“ klingt abschätzig im Deutschen, aber ich meine es positiv. Denn die „Halbnacht“ bedeutet die Mitternacht. Man erreicht die Mitte, aus der der Mond genauso nah steht wie die Sonne.
Im Gedicht „herbstspiel“ (Kochanie, Seite 56) wird das „Herz“ auf den „Scherz“ gereimt. Ein Gedicht voller Emotion, die mich aber keineswegs sentimental macht. Das Herz bleibt ein Schlaginstrument, es spielt lustvoll variationsreiche Rhythmen. Jedoch geht es hier um keine Lautpoesie, denn Uljana Wolf schreibt nicht laut, sondern laut und leise. Bei Ernst Jandl hießt es übrigens „laut und luise“. Ich erinnere mich, wie er einst die Bibel in Lautpoesie verwandelte. „Am Anfang war das Wort“: Ich höre diesen Satz noch mit Jandls Stimme. Bei Uljana Wolf heißt es etwas anders: „am anfang war, oder zu beginn“. Das Wort „beginn“ geht über zum Tanz „beguine“ und tatsächlich beginnen die Füße des Gedichtes, neuartige Tanzschritte zu zeigen. Ich weiß nicht, ob es am Anfang ein Wort gab und wenn ja, welches. Aber wie wäre es, mit der Übersetzung zu beginnen? Denn die Mehrsprachigkeit prägt bereits unsere Gegenwart. Manche sehen sie immer noch als Strafe Gottes, aber im Prozess der radikalen Übersetzung kann jede der vielen Sprachen meine schönste „Lengevitch“ werden.
© Yoko Tawada, August 2015