Die Geburt der übersetzerischen Präzisierung

von Burkhart Kroeber

Wenn Literaturkritiker auf den Kulturseiten unserer Zeitungen über Neuübersetzungen von Klassikern schreiben und etwas Gutes über sie sagen wollen, loben sie gern ihre „Frische“, die sich einer aus der Distanz gewonnenen „größeren Freiheit“ verdanke, und greifen mit Vorliebe zu der Metapher vom „Staub der Jahrhunderte“, der auf einmal „wie weggeblasen“ sei. So schrieb Rolf Vollmann in seiner Rezension meiner Neuübersetzung von Manzonis Promessi Sposi, sie habe „einen Stil, der wie mit einem Zauberschlag allen Staub alter, falscher Gemächlichkeit verloren hat“ (Die Zeit, 6. April 2000). Als Beispiele werden dann Stellen zitiert, an denen die Neuübersetzung nach Meinung der Kritiker einen Sachverhalt besser, treffender, plastischer ausdrückt als die früheren Fassungen. So schrieb Edi Zollinger in der NZZ (31. Oktober 2012) über Elisabeth Edls Neuübersetzung von Flauberts Madame Bovary, die er als Meisterwerk lobt, weil es ihr gelungen sei, Flaubert „erstmals auch auf Deutsch als Sprachkünstler erlebbar“ zu machen: „Bisherige Übersetzungen haben Charles seine „casquette“ auf die Knie gelegt, erst bei Edl liegt sie in Charles‘ Schoss, wo sie wirklich hingehört.“ Gemeint ist die Stelle gleich auf der zweiten Seite des Romans, wo die groteske Schirmmütze des 15-jährigen Charles Bovary beschrieben wird, die der unbeholfene „Neue“ in der Schulklasse „sur ses deux genoux“ hält, also wörtlich „auf seinen beiden Knien“, wie es in den bisherigen Übersetzungen ganz richtig heißt. Weil aber das französische Wort für Mütze, casquette, laut Zollinger „nicht nur vom Klangbild her stark an eine quéquette, einen kindersprachlichen Penis, erinnert“, ist Edls Ortsangabe „auf dem Schoß“ angeblich genau die richtige.

In solchen Kritikeraussagen offenbart sich jedoch, so gut sie auch immer gemeint sein mögen und so sehr man sich als Übersetzer natürlich freut, wenn man so emphatisch gelobt wird, eine Vorstellung vom Prozess und Ziel einer Klassiker-Neuübersetzung, die ich für überholt und falsch halte und daher hier ausdrücklich kritisieren möchte. Die weit überwiegende Mehrheit derer, die heutzutage Klassiker neu übersetzen, ist sich im Kern darin einig, dass es bei dieser Arbeit darum geht, nicht nur den Inhalt, sondern auch den Stil des Originals möglichst genau in der eigenen Sprache wiederzugeben, also auch und gerade die Art und Weise, wie das Beschriebene und Erzählte im Original beschrieben und erzählt wird. Der Anspruch, den Stil des Originals so weit wie möglich mitzuübersetzen, ohne dabei den Geist der eigenen Sprache zu vergewaltigen, ist erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten aufgekommen. Früher galten stilistische Eigenheiten fremdsprachlicher Texte in der Regel entweder als unübersetzbar, weil im Deutschen nur mit Verrenkungen imitierbar (z. B. Gerundien und Partizipialkonstruktionen im Englischen und in den romanischen Sprachen), oder als entbehrlich, weil ohnehin nur im kulturellen Kontext des Originals verständlich. Es dominierte der Wunsch nach einem gut lesbaren, „eingängigen“ Text in der eigenen Sprache, bei dem alles, was den Lesefluss irgendwie „stören“ könnte, eliminiert werden musste. Man übersetzte daher vorwiegend so, dass alles irgendwie Fremde möglichst weit „eingemeindet“ wurde (das ging bis zu den Namen und Anredeformen – im 19. Jahrhundert gab es eine Frau Bovary, und noch 1932 erschien in Leipzig eine Übersetzung von Aldous Huxleys Brave New World, in der die Schauplätze der Handlung aus Südengland nach Berlin und Niedersachsen verlegt worden waren). Grundlage dieser wenn nicht herrschenden, so doch verbreiteten Praxis war die Vorstellung, Übersetzungen seien zwangsläufig entweder treu oder schön, beides gleichzeitig gehe nicht – eine Vorstellung, die sich seit dem 18. Jahrhundert in der leicht anzüglichen Formel von der belle infidèle, der „schönen Treulosen“ niederschlägt und die noch Ortega y Gasset 1937 in seinem Aufsatz über „Glanz und Elend des Übersetzens“ vertrat: Ortega meinte noch, eine genaue und, wie er sagte, „ganz klare“ Übersetzung müsse gleichsam naturgemäß „unschön“ sein, sie könne „keine literarische Anmut“ beanspruchen, der Leser müsse von vornherein wissen, „dass er kein vom literarischen Standpunkt aus schönes Buch liest, sondern ein ziemlich beschwerliches Hilfsmittel benützt“.

Für eine marktgängige Klassiker-Neu­übersetzung, die der Verlag ja schließlich als „schönes Buch“ anpreisen und profitabel unter die Leute bringen wollte, kam so etwas natürlich nicht in Frage, also wurde auf eine Bemühung um Treue zum Stil weitgehend verzichtet und der fremde Klassiker möglichst so serviert, dass ihn die Leser problemlos goutieren konnten. Die Folge war oft Nivellierung, Banalisierung, Reizlosigkeit und Langeweile, die dann als „Staub alter Gemächlichkeit“ empfunden wurde, als hätten die Klassiker von sich aus Alterserscheinungen wie Schimmel, Rost, Behäbigkeit oder eben Staub angesetzt.

Mann mit Bart und Brille am Mikrofon beim Vorlesen.

Burkhart Kroeber (2013)

Aber so war es ja nicht. Es waren die „treulosen“ (dabei gar nicht unbedingt immer so „schönen“) alten Übersetzungen, die mit den Jahren welk und staubig erschienen, nicht die Klassiker selbst. Diese haben, so sie denn wirklich Klassiker sind – also Werke, die niemals aufhören zu sagen, was sie zu sagen haben, um eine berühmte Definition von Calvino zu bemühen –, diese Klassiker haben sich ihre originäre Frische bewahrt (die höchstens durch den Sprachwandel in ihrem Ursprungsland beeinträchtigt wird, aber das braucht uns Übersetzer nicht zu kümmern), und die Unverstaubtheit unserer Klassiker sichtbar zu machen ist die Aufgabe einer Klassiker-Neuübersetzung heute.

Beispiele für gelungene Neuübersetzungen in diesem Sinne gibt es inzwischen einige, ich nenne nur Barbara Kleiners Neuübersetzung von Ippolito Nievos Bekenntnissen eines Italieners oder Rosemarie Tietzes Neuübersetzung von Tolstois Anna Karenina, aber genauso gut könnte ich Elisabeth Edl mit Stendhals Rot und Schwarz und seiner Kartause von Parma nennen oder Susanne Lange mit Cervantes’ Don Quijote, Matthias Jendis mit Melvilles Moby-Dick, Eike Schönfeld mit Henry Fieldings Tom Jones, Andrea Ott mit diversen Romanen von Jane Austen, Charlotte Brontë, Anthony Trollope u. a. m., Vera Bischitzky mit Gogols Toten Seelen und Gontscharows Oblomow, zu schweigen von Frank Günthers Neuübersetzungen fast sämtlicher Stücke von Shakespeare… Das jüngste mir bekannte Beispiel ist Karen Lauers in diesem Jahr bei Hanser erschienene mustergültige Neuedition des bisher meist nur als Jugendbuch bekannten Romans Der letzte Mohikaner von James Fenimore Cooper.

In all diesen Fällen verdankt sich die von den Kritikern oft gerühmte Neuheit, Lebendigkeit, Modernität oder eben „Frische“ bei näherem Hinsehen gerade nicht einer aus der Distanz gewonnenen „größeren Freiheit“, sondern einer genaueren Wiedergabe des Originals nicht nur inhaltlich, sondern auch in seinen stilistischen Eigenschaften. Mit anderen Worten: In all diesen Fällen haben die Übersetzer sich gerade nicht um eine „Modernisierung“ ihres Klassikers bemüht, sondern im Gegenteil versucht, seine Schreib- und Erzählweise, so „altertümlich“ diese auch prima vista anmuten mag, mit den Mitteln der deutschen Sprache nachzubilden. Dass dabei trotzdem meistens sehr gut lesbare Texte entstanden sind, die die traditionellen Entweder-oder-Formeln allesamt widerlegen, nach denen eine Übersetzung zwangsläufig entweder wörtlich oder sinngemäß, entweder treu oder schön, entweder eingemeindend oder verfremdend sei, verdankt sich sowohl einem großen handwerklichen Geschick als auch einer nicht unbeträchtlichen Kreativität, und beides verdankt sich seinerseits – einmal abgesehen von der persönlichen Begabung einzelner Individuen – der Tatsache, dass wir Übersetzer in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel mehr als früher voneinander gelernt haben und lernen – in selbstorganisierten Arbeitskreisen, Work­shops und Seminaren, auf Tagungen und Symposien wie diesem, aber auch im Arbeitsalltag durch breite, auch internationale Vernetzung mit unseren Kollegen. Wir haben, so könnte man sagen, trainiert und trainieren wie Hochleistungssportler, oder wenn Sie es weniger populistisch und etwas passender haben wollen: Wir üben wie Musiker, die an Konservatorien studieren, wie Pianisten und Geiger, die sich über Fingersätze verständigen, und so wie die interpretierenden Musiker es bekanntlich geschafft haben, durch unablässiges Üben performative Fähigkeiten zu erreichen, die früher undenkbar waren – bedenken Sie nur: Stücke, die früher als nahezu unspielbar galten und nur von ganz wenigen Ausnahme-Virtuosen beherrscht wurden, gehören inzwischen zum Standardprogramm junger Solisten; was im 19. Jahrhundert ein vielbestaunter Franz Liszt am Klavier oder ein Paganini an der Geige vollbrachten, können heutzutage, technisch gesehen, Hunderte von Pianisten und Geigern; durch entsprechendes Kopfstimmen-Training kann man ja inzwischen sogar die einst so beliebten Kastratenstimmen ersetzen! Ich behaupte nun: Auch das Literaturübersetzen ist, wie das Musizieren, eine durch intensives Training verbesserbare Kunst, und daher sind heute übersetzerische Präzisierungen möglich, die früher undenkbar schienen.

Ich sage bewusst Präzisierungen, nicht Modernisierungen. Denn es gibt auch Gegenbeispiele, die dem, was ich hier als Anspruch und Ideal einer Klassiker-Neuübersetzung propagiere, konträr entgegenstehen. Es gibt Klassiker-Neuausgaben, die nicht versuchen, dem Original möglichst nahe zu kommen, also nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Erzählung wiederzugeben, sondern den als alt und behäbig empfundenen Text mehr oder weniger brachial „modernisieren“, ähnlich wie Regisseure im sogenannten Regietheater versuchen, klassische Stücke in „modernen“ Fassungen zu präsentieren. Ein krasses Beispiel für diese aus meiner Sicht verfehlte Art von Klassiker-Neu­übersetzung ist Alexander Nitzbergs Version von Michail Bulgakows Meister und Margarita (Galiani, Berlin 2012), die in den Feuilletons hoch gelobt („souverän“, „kongenial“, „fulminant“) und inzwischen auch preisgekrönt worden ist (Scatcherd-Preis der Rowohlt-Stiftung). Sie finden den ersten Absatz dieser „Neuübersetzung“ nebst einer um präzise Wiedergabe des Stils von Bulgakow bemühten älteren Übersetzung sowie zwei englischen und einer französischen auf der dritten Seite des Hand-outs, das an Sie verteilt worden ist. Wenn Sie sich ansehen, wie da aus drei hypotaktischen Sätzen von Bulgakow neun kurze parataktische Sätze resp. Satzfragmente gemacht worden sind, werden Sie verstehen, was ich meine.

In Thomas Reschkes Übersetzung lautet der Anfang:

An einem ungewöhnlich heißen Frühlingstag erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer. Der eine, etwa vierzig Jahre alt, trug einen mausgrauen Sommeranzug, war von kleinem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt und hatte eine Glatze; seinen gediegenen Hut, der wie ein Brötchen aussah, hielt er in der Hand, und das glattrasierte Gesicht war mit einer überdimensionalen schwarzen Hornbrille geschmückt. Der andere, ein breitschultriger junger Mann mit wirbligem rötlichem Haar, hatte die gewürfelte Sportmütze in den Nacken geschoben und trug ein kariertes Hemd, zerknautschte weiße Hosen und schwarze Turnschuhe.

Daraus macht Alexander Nitzberg:

Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich. Zwei Herren zeigten sich. Der erste im grauen Sommeranzug. Ein brünetter Vierziger, klein, rundlich, beglatzt. Seinen recht ansehnlichen Hut hielt er zusammengedrückt in der Falte. Das glattrasierte Gesicht zierte eine überdimensionale dunkle Hornbrille. Der zweite ein junger Mann. Breite Schultern, struppiges rotes Haar unter einer weit nach hinten gezogenen Schirmmütze mit Schachmuster. Kariertes Hemd, zerknitterte weiße Hose, schwarze Latschen.

Das ist die modische Sprache heutiger Reportagen, Beispiele dafür finden sich fast täglich in unseren Zeitungen – man schreibt nicht „Vor der Tür steht ein schlanker junger Mann mit Strubbelhaar und Dreitagebart, der ein grünes T-Shirt mit Telekom-Werbung zu verwaschenen Jeans und Turnschuhen trägt“, sondern: „Vor der Tür ein junger Mann, schlank, Strubbelhaar, Dreitagebart, grünes T-Shirt mit Telekom-Werbung, verwaschene Jeans und Turnschuhe.“ Solch eine Sprache mag in Reportagen und ähnlichen Texten angebracht sein, wenn es darum geht, mit knappen Worten eine Figur oder ein Ambiente zu evozieren, aber zur Wiedergabe eines Romanbeginns wie des zitierten von Bulgakow ist sie ganz ungeeignet, denn sie verändert den Tonfall des Originals, also dessen Stil, in meines Erachtens unzulässiger, ja entstellender Weise. Nitzberg rechtfertig sein Verfahren in einem Nachwort mit dem Verweis auf die Besonderheiten der deutschen Syntax, die sich so sehr von der russischen unterscheide, dass oft „ganz andere Wörter (meist Verben) am Schluss der Sätze oder Halbsätze zu stehen kommen und die genau abgestimmten und scharfen Übergänge [Bulgakows] deutlich schwächen“. So habe er sich „für einen von vornherein sehr viel freieren Umgang mit dem Satzbau“ entschieden, der „mitunter sogar die Formen eines radikalen Durchbrechens der russischen Wortfolge annehmen kann – nicht im Sinne einer größeren Ferne zum Original, sondern vielmehr als eine neue Herausforderung, die plastische Expressivität des Bulgakow’schen Textes mit anderen Mitteln nachzugestalten und hervortreten zu lassen“ (S. 572).

Mit anderen Worten, der Übersetzer Nitzberg, der sich auch als selber schreibender Autor betätigt, vor allem als Lyriker (den immerhin Peter Rühmkorf sehr gelobt hat), war nicht bemüht, in die Rolle des Autors Bulgakow zu schlüpfen, ja sich tendenziell in ihn zu verwandeln, wie es gute Interpreten anstreben (z. B. Schauspieler oder Musiker), sondern er hat umgekehrt den Autor Bulgakow sich anverwandelt, indem er Bulgakows präzise und pointiert gebaute Langsätze „gern in knappere, monologisch gehaltene Sätze aufgelöst“ hat – angeblich, weil das die deutsche Syntax erfordert, in Wahrheit, weil es ihm so eben besser gefiel. Er hat seinen Geschmack dem des Autors übergestülpt, und so etwas ist für mich keine Übersetzung, sondern eine Bearbeitung, Umformung, Adaption, nennen Sie es, wie Sie wollen (Nitzberg selbst spricht gerne von „Übertragung“). Von einer Klassiker-Neuübersetzung erwarte ich etwas anderes: Ich möchte überzeugend vorgeführt bekommen, was und wie der Autor geschrieben hat, und nicht, was der Interpret für ein toller Hecht ist. Das Modell für die Neuübersetzung von Klassikern ist nicht das umstrittene Regietheater, sondern eher die inzwischen längst nicht mehr umstrittene historische Aufführungspraxis mit alten Instrumenten in der Musik.

Nach diesen prinzipiellen Bemerkungen möchte ich nun noch ein bisschen mehr ins Detail gehen – und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich dabei auf Beispiele aus meiner eigenen Arbeit zurückgreife, die kenne ich nun mal am besten. Im Prinzip unterscheidet sich das Neuübersetzen von Klassikern nicht vom Erstübersetzen eines neuen Werks, es stellt nur noch höhere Ansprüche, da ja bereits mindestens eine oder mehrere, bei echten Großklassikern sogar viele frühere Übersetzungen vorliegen (bei Madame Bovary sind es inzwischen 30), an denen man, ob man will oder nicht, am Ende gemessen wird. Um deren Qualität zu ermessen und gegebenenfalls zu überbieten, bedarf es eines geschärften Blickes für die stilistischen Eigenarten des Originals, zumal wenn diese in seiner Ursprungskultur nicht als bloß persönliche Manierismen des Autors empfunden werden, sondern als prägend und stilbildend für die ganze Epoche gelten, wie es bei den langen hypotaktischen Satzperioden in Manzonis Promessi Sposi der Fall ist. Als ich mich vor gut 20 Jahren mit dem Gedanken zu tragen begann, diesen Roman neu zu übersetzen, hatte ich zuerst noch gehofft, ich könnte vielleicht unter den vielen älteren Übersetzungen eine finden, die mir so gut gefiele, dass ich sie bloß da und dort ein wenig zu optimieren bräuchte, um sie dann als Übersetzung von X mit dem Zusatz „bearbeitet von B. K.“ vorzulegen. Es gab mindestens 15 Übersetzungen, von denen etwa die Hälfte überwiegend selbständige Arbeiten waren (die anderen entpuppten sich als Bearbeitungen, einige auch als kaum verhüllte Plagiate früherer Versionen). Eine Zeitlang glaubte ich, die 1923 erschienene Übersetzung von Johanna Schuchter optimieren zu können, aber als ich dann feststellen musste, dass meine redaktionellen Eingriffe weit über 50% des Textes verändern würden, gab ich das Vorhaben auf und beschloss, den fast 1000 Seiten langen Roman eigenständig neu zu übersetzen. Wie eigenständig das Ganze dann schließlich wurde, habe ich in meinem Nachwort zur Übersetzung ausgeführt, ich zitiere aus meinem Exkurs zur sogenannten Syntax-Treue (Die Brautleute, S. 864 ff.):

>> Was meine Übersetzung vielleicht am deutlichsten von den meisten früheren unterscheidet, ist mehr als die Wortwahl das Bemühen, die Wortfolge, also den Satzbau des Originals, so exakt wie möglich nachzubilden. Bei der Suche nach dem treffenden Wort konnte, ja mußte ich in vielen Fällen die Ergebnisse der Bemühungen meiner zahlreichen Vorgänger mehr oder weniger übernehmen – nach so vielen Versuchen in so vielen Jahrzehnten kann man auf dieser Ebene nicht überall etwas Neues finden. Anders steht es mit der übersetzerischen Wiedergabe der sprachlichen Architektur des Originals, also dessen, was man gewöhnlich den Satzbau nennt und was ja nichts anderes ist als die Art und Weise, wie der Autor die Wörter aneinandergereiht und verknüpft hat. Diese wird in der Regel beim Übersetzen ins Deutsche, zumal wenn es sich um lange und verschachtelte Satzkonstruktionen handelt, mehr oder weniger radikal „umgebaut“, ja oft geradezu auf den Kopf gestellt, weil die Gesetze der deutschen Syntax angeblich solch einen Umbau verlangen. Ich bin jedoch überzeugt, daß ein Großteil dessen, was einen gut geschriebenen Originaltext der erzählenden Literatur für seine muttersprachlichen Leser reizvoll macht […], gerade in der Art und Weise liegt, wie die Wörter und Wortgruppen einander folgen – das heißt, wie die Gedanken geführt, die Argumentation aufgebaut, die Gefühlsreaktionen des Lesers gelenkt werden.

In einer längeren Verkettung von Satzteilen ist es sicher nicht gleichgültig, welches Element zuerst kommt (z. B. eine Person als Subjekt der Aussage), welche Elemente dann folgen (z. B. diverse adverbiale Bestimmungen und/oder andere Präzisierungen durch Relativ- oder Partizipialsätze), was dann im Zentrum der Aussage steht (gewöhnlich ein finites Verb, eventuell mit vorausgehendem oder folgendem Gerundium), was ihm vielleicht ergänzend oder einschränkend hinzugefügt wird und womit das Ganze schließlich endet, womöglich in Form einer scharf pointierten oder leise verebbenden Kadenz. Der berühmte erste Satz der Promessi Sposi („Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno…„, „Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet…“) ist ein charakteristisches Beispiel für das, was ich meine: Er endet mit einer beschreibenden Aussage, die das Beschriebene – den weiteren Verlauf des Comer Sees nach der Verengung bei Lecco – in ihrer sprachlichen Form so nachzeichnet, wie er sich dem Auge des Betrachters in Lecco darbietet („dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua distendersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni“ – „wo die erneut auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben, sich in neuen Buchten und Busen auszubreiten und zu verlaufen“). Würde hier ein Satzteil, aus welchen Gründen auch immer, beim Übersetzen umgestellt, etwa indem man die Aussage, daß die Adda „wieder den Namen See annimmt“, ans Ende setzte („… und die Adda wieder beginnt, die jedoch bald darauf, wo die erneut auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben, sich in neuen Buchten und Busen auszubreiten und zu verlaufen, wieder den Namen See annimmt“), so hätte man die plastische Nachzeichnung der gewundenen Seeufer durch den nachklappenden Halbsatz um ihre kadenzartige Wirkung gebracht. Daher ist Treue zur Syntax des Originals, verstanden als möglichst genaue Beachtung wenn nicht der Wortfolge im strengen Sinn (die wohl tatsächlich oft eine nutzlose Manieriertheit ergäbe), so doch der Satzteil- oder Syntag­menabfolge, für mich ein übersetzerisches Gebot erster Ordnung.

Ein weiterer Grund kommt hinzu: Manzonis Roman wirkt im Original, dank seiner zwar hochelaborierten, aber mit zahlreichen Verknappungen, Auslassungen und Anakoluthen arbeitenden Syntax (die gerade darin noch deutlich ihre klassisch lateinischen – ciceronischen – Wurzeln erkennen läßt), alles andere als umständlich und behäbig; er ist im Gegenteil, in den erzählenden Passagen mehr noch als in den beschreibenden, ausgesprochen zügig und bei allem Nuancenreichtum voller Tempo. Durch eine schulmäßige Übersetzung der diversen Partizipialkonstruktionen, also deren Auflösung in lauter umständliche Relativsätze, oder durch die gängige Praxis, aus komplex verschränkten Hypotaxen lauter simple parataktische Reihungen nach dem Muster „und… und… und“ zu machen, würde sehr rasch entweder ein undurchdringliches syntaktisches Dickicht oder Langeweile entstehen, im schlimmsten Fall beides abwechselnd. Auch hier also war es für mich aus prinzipiellen Erwägungen geboten, der Syntax des Originals so genau zu folgen, wie es die deutsche Sprache nur irgend erlaubt, mit dem kalkulierten Risiko, daß das Ergebnis bisweilen ein wenig „manieriert“ klingen mag, aber mit dem Vorteil, daß die Sprache dadurch jenen Drive bekommt, den sie im Original hat und angesichts der enormen Textmasse auch unbedingt braucht. Vorbilder für kunstvoll verschachtelte Satzgebilde gibt es schließlich auch in der deutschen Literatur jener Zeit zur Genüge, man denke nur an Kleist. Selbstverständlich geht es bei alledem – wie immer beim Übersetzen – nicht um starre Verfahrensregeln, sondern in jedem einzelnen Fall um ein ebenso subtiles wie subjektives Abwägen. <<

Auf dem Hand-out habe ich Ihnen den Anfang von Manzonis Roman (den gebildete Italiener auch heute noch erstaunlich oft auswendig können) samt einigen charakteristischen deutschen Übersetzungen seit der ersten von 1827 ausgedruckt. Es handelt sich um eine einzige lange, hypotaktisch verschachtelte Satzperiode, die strukturell aus zwei mit „und“ verbundenen finiten Sätzen besteht:

Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi, a secon­da dello sporgere e del rientrare di quelli, vien, quasi a un tratto, a ristringersi, e a prender corso e figura di fiume, tra un pro­montorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte; e il pon­te, che ivi congiunge le due rive, par che renda ancor più sensi­bile all’occhio questa trasformazione, e segni il punto in cui il lago cessa, e l’Adda rincomincia, per ripigliar poi nome di lago dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua disten­dersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni.

Wortwörtlich übersetzt hieße das etwa:

Jener Zweig [= Arm] des Comersees, der sich nach Süden wendet, zwischen zwei nicht unterbrochenen Ketten von Bergen, ganz aus Busen und Buchten, je nach dem Vorspringen und dem Zurücktreten dieser [wahlweise der Busen und Buchten oder der Bergketten], kommt fast mit einem Schlag dazu, sich zu verengen und Lauf und Gestalt eines Flusses anzunehmen, zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Küstenstreifen auf der anderen Seite; und die Brücke, die dort die beiden Ufer verbindet, scheint diese Transformation noch sinnlicher für das Auge zu machen und bezeichnet den Punkt, an dem der See aufhört und die Adda wieder beginnt, um dann wieder [den] Namen See anzunehmen, wo die Ufer, sich von neuem entfernend, das Wasser sich ausbreiten und verlangsamen lassen in neuen Buchten und neuen Busen.

Der erste deutsche Übersetzer, Daniel Leßmann, zerlegt diese verschachtelte Satzperiode in vier selbständige Sätze (zu seiner Entschuldigung sei gesagt: der Ärmste muss unter wahnsinnigem Zeitdruck gestanden haben, denn seine Übersetzung erschien noch im selben Jahr wie das Original):

Der See von Como erstreckt sich mit dem einen seiner Zweige gegen Süden zwischen zwei Ketten von ununterbrochenen Bergen, und bildet an ihrem Fuße eine Menge von Buchten und Busen. Nachdem diese vielfach hervorgetreten und sich wiederum zurückgezogen, verenget er sich plötzlich, und nimmt zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Gestade zur Linken den Lauf und die Gestalt eines Flusses an. Die Brücke, welche beide Ufer daselbst verbindet, scheint dem Auge diese Umgestaltung des Gewässers noch merkbarer zu machen, und die Stelle zu bezeichnen, wo der See endet und die Adda beginnt. Weiterhin aber entfernen sich die beiden Ufer aufs neue von einander, der Wasserspiegel wird wieder geräumiger, und verläuft sich in neue Buchten und Busen; der Fluß ist wieder zum See geworden.

Sie merken: eine stark einbürgernde Übersetzung, oft eine bloße Inhaltsangabe, etwa wenn es am Anfang beschreibend wie in einem Reiseführer heißt: „Der See von Como erstreckt sich mit dem einen seiner Zweige gegen Süden“ – während Manzonis Incipit „Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet“ eine gewisse Kenntnis der Geographie voraussetzt. (Kleine Anmerkung: Im allerersten Satz dieser ersten, schnell gemachten Übersetzung der Promessi Sposi steckt ein für schnell gemachte Übersetzungen typischer Fehler, wie er jedem von uns unterlaufen kann, wenn wir in großer Eile übersetzen müssen: Leßmann hat die Wortfolge due catene non interrotte di monti mit „zwei Ketten von ununterbrochenen Bergen“ übersetzt, als gäbe es „unterbrochene Berge“; es muss natürlich „zwei ununterbrochene Ketten von Bergen“ heißen).

Die zweite Übersetzung (Eduard von Bülow, 1828) erschien nur wenige Monate später (es gab ja damals noch kein Copyright, so dass bei erfolgversprechenden Neuerscheinungen mehrere Verlage miteinander konkurrieren konnten):

Der Arm des Comersees, der sich nach Mittag hin durch zwei ununterbrochene Bergketten mit lauter Buchten und Busen hinwindet, je nachdem die Berge vorspringen oder zurückweichen, zieht sich fast auf einmal zusammen und nimmt Lauf und Gestalt eines Flusses an, wo ihm rechts ein Vorgebirge und gegenüber ein weites Uferland gelegen ist. Die Brücke, die daselbst beide Ufer verbindet, scheint die Umwandlung dem Auge noch ersichtlicher zu machen und bezeichnet den Punkt, wo der See aufhört und die Adda wieder be­ginnt; und es nimmt darauf diese den Namen See von neuem an, wo die abermals hervortretenden Ufer, die Wasser sich ausbreiten und in neuen Buchten und Busen sich verhalten lassen.

Diese Übersetzung ist schon etwas genauer und mehr um syntaktische Treue bemüht, aber auch Bülow zerlegt die zweite Hälfte der Periode in zwei finite Sätze, die er lediglich mit einem Semikolon abteilt, und das Ende mit dem „sich verhalten lassen“ klingt ein bisschen verunglückt.

Ich übergehe die vier bis fünf weiteren Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert und springe direkt zu der 1913 in München erschienenen Fassung von Albert Wesselski (der ein sehr fleißiger Klassiker-Neuübersetzer gewesen sein muss, denn gerade erst vier Jahre vorher war in Leipzig seine knapp 1000 Seiten umfassende Übersetzung von Boccaccios Decamerone erschienen, die noch heute bei Insel verlegt wird):

Der Arm des Comersees, der sich zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten je nach ihrem Vorspringen und Zurücktreten in lauter Buchten und Busen gen Mittag hinwindet, verengt sich zwischen einem Vorgebirge auf der rechten und einem ausgedehnten Uferland auf der anderen Seite gleich­sam mit einem Ruck und nimmt Lauf und Aussehen eines Flusses an; und die Brücke, die dort die beiden Ufer verbindet, scheint diese Veränderung dem Auge noch deutlicher zu machen und bezeichnet den Punkt, wo mit dem Aufhören des Sees die Adda wieder anfängt, freilich nur, um sofort wieder den Namen eines Sees anzunehmen, wo die Ufer, sich von neuem voneinander entfernend, gestatten, daß sich das Wasser ausbreitet und in neuen Busen und Buchten verläuft.

Diese Übersetzung ist die bisher genaueste, Wesselski lässt die lange Satzperiode intakt, behält auch die Reihenfolge der Satzteile bei und bemüht sich, das Ganze trotzdem flüssig lesbar zu machen; einzig der Rhythmus wird gegen Ende ein bisschen holprig. Übrigens ist seine Übersetzung als erste nicht mit dem Titel „Die Verlobten“ erschienen (der wohl auf Goethe zurückgehen dürfte), sondern bereits mit dem Titel „Die Brautleute“ – der dann allerdings 1969 für einen Neudruck bei Ullstein wieder in „Die Verlobten“ zurückverwandelt wurde.

Erwähnenswert ist auch die Übersetzung von Johanna Schuchter (München: Karl Alber 1923), die für eine zweisprachige Ausgabe mit italienischem Original auf der linken Seite gemacht worden war und daher in der Regel um besonders große Treue zum Wortlaut bemüht ist:

Der Arm des Comosees, der sich gegen Süden erstreckt und zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten, ihrem Vorspringen oder Zu­rück­weichen folgend, eine Reihe von Buchten und Busen bildet, verengt sich fast plötzlich und nimmt zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Uferland zur Linken Lauf und Gestalt eines Flusses an. Die Brücke, welche diese beiden Ufer verbindet, scheint dem Auge diese Verwandlung noch merklicher zu machen und die Stelle zu bezeichnen, wo der See endet und die Adda beginnt. Doch diese wird dann, wo die von neuem auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben und neue Buchten und Busen seinen Lauf verlangsamen, wiederum zum See.

(3 Sätze!)

Ich übergehe vier weitere deutsche Übersetzungen (darunter die um fast ein Drittel gekürzte und zugleich willkürlich erweiterte von Alexander Lernet-Holenia, die 1958 bei Manesse in Zürich erschienen und immer noch lieferbar, aber alles andere als empfehlenswert ist) und gebe Ihnen die Fassung des letzten eigenständigen deutschen Neuübersetzers (Ernst Wiegand Junker, München 1960), die 40 Jahre lang bei dtv verlegt worden war und jetzt als Insel-TB zu haben ist:

Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet und dessen Gestade zwischen zwei fortlaufenden Gebirgsketten so buchtenreich ihrem Vordrängen und Zurückschwingen folgt, verengt sich fast urplötzlich und nimmt, zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einer weiten Uferhalde gegenüber, Gestalt und Verlauf eines Stromes an. Die Brücke, welche ebenda beide Ufer verbindet, dürfte diese Verwandlung wohl noch augenfälliger machen und den Punkt bezeichnen, wo der See aufhört und die Adda wieder beginnt. Dann aber, wenn die Uferränder sich abermals voneinander entfernen, um die Wellen sich ausbreiten und in neuen Buchten aufs neue verebben zu lassen, wird das Gewässer wiederum als See bezeichnet.

(Ebenfalls 3 Sätze!)

Hier können Sie besonders gut sehen, wie die angeblichen Erfordernisse der deutschen Syntax den Satzbau des Originals verändern, indem sie die Reihenfolge der Satzglieder vertauschen, also das Ganze umbauen, wodurch nicht bloß ein neuer Rhythmus entsteht, sondern die Wirkung des Originals, die hier eine Sogwirkung ist, verlorengeht. Bei Manzoni evoziert der ganze erste Satz, wie ich vorhin schon sagte, gleichsam den Anblick des Comer Sees aus der Vogelschau, besonders das Ende zeichnet mit den Worten dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua distendersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni ein sprachliches Abbild der gewundenen Uferlinie. Der Satz verläuft, ja man könnte sagen: verläppert sich gewissermaßen am Ende, so wie sich die Uferlinie in der dunstigen Ferne verliert. Das wird besonders deutlich durch die litaneihafte Wiederholung des in nuovi. So etwas muss eine Übersetzung, die nicht nur den Inhalt, sondern auch den Stil des Originals wiedergeben will, nachzubilden versuchen. Lässt man statt dessen die ganze Periode mit der Aussage enden, dass das Gewässer „wieder zum See“ wird, wie es Junker und Schuchter und Leßmann und viele andere getan haben, dann geht dieser Effekt verloren.

Daher habe ich mich in meiner Übersetzung bemüht, wenn nicht die Wortstellung des Originals, so doch die Reihenfolge der Satzglieder möglichst genau wiederzugeben:

Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet, um zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten lauter Buchten und Busen zu bilden, je nachdem die Berge vorspringen oder zurückweichen, verengt sich beinahe mit einem Schlag, um Lauf und Gestalt eines Flusses anzunehmen, gesäumt von einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Küstenstrich auf der anderen Seite; und die Brücke, die hier die beiden Ufer verbindet, scheint dem Auge diese Verwandlung noch sinnfälliger zu machen und die Stelle zu bezeichnen, wo der See aufhört und die Adda wieder beginnt, die jedoch bald darauf wieder den Namen See annimmt, wo die erneut auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben, sich in neuen Buchten und Busen auszubreiten und zu verlaufen.

Um trotz des im Deutschen ungewöhnlichen Satzbaus eine flüssige Lesbarkeit zu erreichenden, musste ich einige als Scharnier fungierende Binde- oder Brückenglieder einsetzen: in den ersten Zeilen das um … zu bilden, um die Nachstellung der adverbialen Bestimmung „zwischen zwei Bergketten“ zu rechtfertigen, dann in der Mitte zum gleichen Zweck das gesäumt von vor „einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Küstenstrich“ und schließlich die jedoch bald, um ein drittes „um zu“ zu vermeiden. Kleine Einfügungen dieser Art sind zweifellos Eingriffe, scheinen mir aber gerechtfertigt, wenn sie ohne den Sinn zu verändern dem übergeordneten Ziel der Syntaxtreue dienen.

Hätte ich Manzoni nach der Methode Nitzberg übersetzen wollen, wäre vielleicht so etwas dabei herausgekommen:

Comer See, südöstlicher Arm. Zwischen langen Bergketten lauter Buchten und Busen. Dann schlagartige Verengung, die den See quasi zu einem Fluss macht, rechts Vorgebirge, links weiter Küstenstrich. Eine Brücke verbindet die beiden Ufer. Sie scheint die Verwandlung noch zu betonen und die Stelle zu markieren, wo der See aufhört und die Adda wieder beginnt. Doch bald wird diese wieder zu einem See, denn die Ufer treten erneut auseinander und bilden neue Buchten und Busen.

Damit Sie sehen, wieviel leichter es im Englischen ist, Manzonis hypotaktischen Satzbau nachzubauen, habe ich Ihnen auch noch die erste und die bisher letzte englische Übersetzung auf dem Hand-out ausgedruckt. Detaillierte Vergleiche können Sie selber anstellen, wenn Sie wollen, das Material reicht für einen ganzen Workshop.

Beispiele

Beispiel 1: Alessandro Manzoni, I Promessi Sposi, Anfang

Alessandro Manzoni

Quel ramo del lago di Como, che volge a mezzogiorno, tra due catene non interrotte di monti, tutto a seni e a golfi, a secon­da dello sporgere e del rientrare di quelli, vien, quasi a un tratto, a ristringersi, e a prender corso e figura di fiume, tra un pro­montorio a destra, e un’ampia costiera dall’altra parte; e il pon­te, che ivi congiunge le due rive, par che renda ancor più sensi­bile all’occhio questa trasformazione, e segni il punto in cui il lago cessa, e l’Adda rincomincia, per ripigliar poi nome di lago dove le rive, allontanandosi di nuovo, lascian l’acqua distendersi e rallentarsi in nuovi golfi e in nuovi seni.

Analog-Übersetzung

Jener Zweig [= Arm] des Comersees, der sich nach Süden wendet, zwischen zwei nicht unterbrochenen Ketten von Bergen, ganz aus Busen und Buchten, je nach dem Vorspringen und dem Zurücktreten dieser [der Busen und Buchten / der Bergketten], kommt fast mit einem Schlag dazu, sich zu verengen und Lauf und Gestalt eines Flusses anzunehmen, zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Küstenstreifen auf der anderen Seite; und die Brücke, die dort die beiden Ufer verbindet, scheint diese Transformation noch sinnlicher für das Auge zu machen und bezeichnet den Punkt, an dem der See aufhört und die Adda wieder beginnt, um dann wieder [den] Namen See anzunehmen, wo die Ufer, sich von neuem entfernend, das Wasser sich ausbreiten und verlangsamen lassen in neuen Buchten und neuen Busen.

Daniel Leßmann (1827)

Der See von Como erstreckt sich mit dem einen seiner Zweige gegen Süden zwischen zwei Ketten von ununterbrochenen Bergen, und bildet an ihrem Fuße eine Menge von Buchten und Busen. Nachdem diese vielfach hervorgetreten und sich wiederum zurückgezogen, verenget er sich plötzlich, und nimmt zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Gestade zur Linken den Lauf und die Gestalt eines Flusses an. Die Brücke, welche beide Ufer daselbst verbindet, scheint dem Auge diese Umgestaltung des Gewässers noch merkbarer zu machen, und die Stelle zu bezeichnen, wo der See endet und die Adda beginnt. Weiterhin aber entfernen sich die beiden Ufer aufs neue von einander, der Wasserspiegel wird wieder geräumiger, und verläuft sich in neue Buchten und Busen; der Fluß ist wieder zum See geworden.

Eduard von Bülow (1828)

Der Arm des Comersees, der sich nach Mittag hin durch zwei ununterbrochene Bergketten mit lauter Buchten und Busen hinwindet, je nachdem die Berge vorspringen oder zurückweichen, zieht sich fast auf einmal zusammen und nimmt Lauf und Gestalt eines Flusses an, wo ihm rechts ein Vorgebirge und gegenüber ein weites Uferland gelegen ist. Die Brücke, die daselbst beide Ufer verbindet, scheint die Umwandlung dem Auge noch ersichtlicher zu machen und bezeichnet den Punkt, wo der See aufhört und die Adda wieder be­ginnt; und es nimmt darauf diese den Namen See von neuem an, wo die abermals hervortretenden Ufer, die Wasser sich ausbreiten und in neuen Buchten und Busen sich verhalten lassen.

Albert Wesselski (1913)

Der Arm des Comersees, der sich zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten je nach ihrem Vorspringen und Zurücktreten in lauter Buchten und Busen gen Mittag hinwindet, verengt sich zwischen einem Vorgebirge auf der rechten und einem ausgedehnten Uferland auf der anderen Seite gleich­sam mit einem Ruck und nimmt Lauf und Aussehen eines Flusses an; und die Brücke, die dort die beiden Ufer verbindet, scheint diese Veränderung dem Auge noch deutlicher zu machen und bezeichnet den Punkt, wo mit dem Aufhören des Sees die Adda wieder anfängt, freilich nur, um sofort wieder den Namen eines Sees anzunehmen, wo die Ufer, sich von neuem voneinander entfernend, gestatten, daß sich das Wasser ausbreitet und in neuen Busen und Buchten verläuft.

Johanna Schuchter (1923)

Der Arm des Comosees, der sich gegen Süden erstreckt und zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten, ihrem Vorspringen oder Zu­rückweichen folgend, eine Reihe von Buchten und Busen bildet, verengt sich fast plötzlich und nimmt zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Uferland zur Linken Lauf und Gestalt eines Flusses an. Die Brücke, welche diese beiden Ufer verbindet, scheint dem Auge diese Verwandlung noch merklicher zu machen und die Stelle zu bezeichnen, wo der See endet und die Adda beginnt. Doch diese wird dann, wo die von neuem auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben und neue Buchten und Busen seinen Lauf verlangsamen, wiederum zum See.

Ernst Wiegand Junker (1960)

Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet und dessen Gestade zwischen zwei fortlaufenden Gebirgsketten so buch­tenreich ihrem Vordrängen und Zurückschwingen folgt, verengt sich fast urplötz­lich und nimmt, zwischen einem Vorgebirge zur Rechten und einer weiten Ufer­halde gegenüber, Gestalt und Verlauf eines Stromes an. Die Brücke, welche ebenda beide Ufer verbindet, dürfte diese Verwandlung wohl noch augenfälliger machen und den Punkt bezeichnen, wo der See aufhört und die Adda wieder be­ginnt. Dann aber, wenn die Uferränder sich abermals voneinander entfernen, um die Wellen sich ausbreiten und in neuen Buchten aufs neue verebben zu lassen, wird das Gewässer wiederum als See bezeichnet.

Burkhart Kroeber (2000)

Jener Arm des Comer Sees, der sich nach Süden wendet, um zwischen zwei ununterbrochenen Bergketten lauter Buchten und Busen zu bilden, je nachdem die Berge vorspringen oder zurückweichen, verengt sich beinahe mit einem Schlag, um Lauf und Gestalt eines Flusses anzunehmen, gesäumt von einem Vorgebirge zur Rechten und einem weiten Küstenstrich auf der anderen Seite; und die Brücke, die hier die beiden Ufer verbindet, scheint dem Auge diese Verwandlung noch sinnfälliger zu machen und die Stelle zu bezeichnen, wo der See aufhört und die Adda wieder beginnt, die jedoch bald darauf wieder den Namen See annimmt, wo die erneut auseinandertretenden Ufer dem Wasser Raum geben, sich in neuen Buchten und Busen auszubreiten und zu verlaufen.

Anonym (1845)

That branch of the lake of Como which flows towards the south between two uninterrupted chains of mountains, full of creeks and bays, according to their advance and retreat, compresses itself almost at once, and takes the course and form of a river, between a promontory on the one hand, and a wide cost on the other; and the bridge which here connects the two shores, appears to render this transformation still more sensible to the eye, and marks the point where the lake ceases and the Adda recommences to take again the name of the lake, where the shores stretching out anew allow the water to extend and develope itself in new gulfs and bays.

Archibald Colquhoun (1951, rev. Matthew Reynolds, 1997)

That branch of the lake of Como which extends southwards between two unbroken chains of mountains, and is all bays and gulfs as the mountains advance and recede, narrows down at one point into the form of a river, between a promontory on one side and a wide shore on the other; and the bridge which here links the two banks seems to emphasize this transformation, and to mark the point at which the lake ends and the Adda begins, only to become a lake once more where the banks draw farther apart again, letting the water broaden out and expand into new gulfs and bays.

Beispiele

Beispiel 2: Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita, Anfang

Michail Bulgakow

Однажды весною, в час небывало жаркого заката, в Москве, на Патриарших прудах, появились два гражданина. Первый из них, одетый в летнюю серенькую пару, был маленького роста, упитан, лыс, свою приличную шляпу пирожком нес в руке, а на хорошо выбритом лице его помещались сверхъестественных размеров очки в черной роговой оправе. Второй – плечистый, рыжеватый, вихрастый молодой человек в заломленной на затылок клетчатой кепке – был в ковбойке, жеваных белых брюках и в черных тапочках.

Thomas Reschke (Volk & Welt, Berlin 1994)

An einem ungewöhnlich heißen Frühlingstag erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer. Der eine, etwa vierzig Jahre alt, trug einen mausgrauen Sommeranzug, war von kleinem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt und hatte eine Glatze; seinen gediegenen Hut, der wie ein Brötchen aussah, hielt er in der Hand, und das glattrasierte Gesicht war mit einer überdimensionalen schwarzen Hornbrille geschmückt. Der andere, ein breitschultriger junger Mann mit wirbligem rötlichem Haar, hatte die gewürfelte Sportmütze in den Nacken geschoben und trug ein kariertes Hemd, zerknautschte weiße Hosen und schwarze Turnschuhe.

Alexander Nitzberg (Galiani, Berlin 2012)

Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich. Zwei Herren zeigten sich. Der erste im grauen Sommeranzug. Ein brünetter Vierziger, klein, rundlich, beglatzt. Seinen recht ansehnlichen Hut hielt er zusammengedrückt in der Falte. Das glattrasierte Gesicht zierte eine überdimensionale dunkle Hornbrille. Der zweite ein junger Mann. Breite Schultern, struppiges rotes Haar unter einer weit nach hinten gezogenen Schirmmütze mit Schachmuster. Kariertes Hemd, zerknitterte weiße Hose, schwarze Latschen.

Michael Glenny (London 1967)

At the sunset hour of one warm spring day two men were to be seen at Patriarch’s Ponds. The first of them—aged about forty, dressed in a greyish summer suit—was short, dark-haired, well-fed and bald. He carried his decorous pork-pie hat by the brim and his neatly shaven face was embellished by black hornrimmed spectacles of preternatural dimensions. The other, a broad-shouldered young man with curly reddish hair and a check cap pushed back to the nape of his neck, was wearing a tartan shirt, chewed white trousers and black sneakers.

Richard Pevear und Larissa Volokhonsky (1997)

At the hour of the hot spring sunset two citizens appeared at the Patriarch’s Ponds. One of them, approximately forty years old, dressed in a grey summer suit, was short, dark-haired, plump, bald, and carried his respectable fedora hat in his hand. His neatly shaven face was adorned with black horn-rimmed glasses of a supernatural size. The other, a broad-shouldered young man with tousled reddish hair, his checkered cap cocked back on his head, was wearing a cowboy shirt, wrinkled white trousers and black sneakers.

Claude Ligny (1968)

C’était à Moscou au déclin d’une journée printanière particulièrement chaude. Deux citoyens firent leur apparition sur la promenade de l’étang du Patriarche. Le premier, vétu d’un léger costume d’été gris clair, était de petite taille, replet, chauve, et le visage soigneusement rasé s’ornait d’une paire de lunettes de dimensions prodigieuses, à monture d’écaille noire. Quant à son chapeau, de qualité fort convenable, il le tenait froissé dans sa main comme un de ces beignets qu’on achète au coin des rues. Son compagnon, un jeune homme de forte carrure dont les cheveux roux s’échappaient en broussaille d’une casquette à carreaux négligemment rejetée sur la nuque, portait une chemise de cow-boy, un pantalon blanc fripé et des espadrilles noires.