Untertitel

von Burkhart Kroeber

Es gibt einige große Romane der Weltliteratur, die bisher entweder gar nicht oder erst nach Ablauf der siebzigjährigen Urheberschutzfrist das Glück hatten, nicht nur inhaltlich korrekt, sondern auch stilistisch angemessen ins Deutsche übersetzt zu werden. Das bekannteste Beispiel sind die Romane von Hemingway, die bis vor wenigen Jahren auf deutsch nur in der vom Autor persönlich „autorisierten“ Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst erscheinen durften, was schon oft kritisiert worden ist. [Fußnote 1]Zuletzt ausführlich in Die Zeit Nr. 04/1994 (https://tinyurl.com/yaxsd4gc) mit Antwort des damaligen Rowohlt-Chefs Michael Naumann (https://www.zeit.de/1994/05/herbes-los). Ein bisher nicht so bekanntes, dafür aber besonders krasses Beispiel ist Giuseppe Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo, der im Herbst 1958 bei Feltrinelli in Mailand erschien und bisher zweimal ins Deutsche übersetzt wurde, einmal gleich nach Erscheinen von Charlotte Birnbaum unter dem Titel Der Leopard (Piper 1959) und ein zweites Mal 45 Jahre später von Giò Waeckerlin Induni unter dem Titel Der Gattopardo (herausgegeben, ergänzt und mit einem Nachwort von Gioacchino Lanza Tomasi, dem Adoptivsohn des Autors, Piper 2004). Beide Übersetzungen sind jedoch – die zweite sogar noch weit weniger als die erste – der literarischen Qualität des Originals nicht gewachsen, darüber herrscht in den Kreisen derer, die sich fachkundig mit ihnen beschäftigt haben, weitgehend Konsens. Bereits in einem Italienisch-Übersetzungsseminar an der LMU München, das ich im Wintersemester 2012-13 mit einem Lehrauftrag leitete, hatte ein erster Stichproben-Vergleich der beiden Ausgaben mit dem Original so viele und so gravierende Mängel besonders der Zweitübersetzung zutage gefördert, dass die Beteiligten zu dem Schluss kamen: Dieser Roman müsste dringend neu übersetzt werden. Zum selben Ergebnis kam dann auch ein Arbeitskreis der Münchner Italienisch-Übersetzer­­*innen, der sich mit den in meinem Seminar behandelten Auszügen beschäftigte (wobei er noch weitere Mängel entdeckte), und sicher hat es auch anderswo Lesezirkel und einzelne kritische Leser*innen gegeben, die zu ähnlichen Schlüssen gelangt sind. [Fußnote 2]Z.B. der Literaturklub Sindelfinden, der sich Anfang 2017 mit dem Roman beschäftigt hat, siehe https://literaturklub-sindelfingen.de/2017/05/15/giuseppe-tomasi-di-lampedusa-der-gattopardo-roman-1954/. Eine Neuübersetzung dieses Romans kann jedoch einstweilen nur mit Erlaubnis des Piper Verlags erscheinen, der die deutschen Rechte daran besitzt, und die erlöschen erst Ende 2027, siebzig Jahre nach dem Tod des Autors, der im Juli 1957 gestorben ist. Trotzdem habe ich mich im vorigen Herbst nach langem Zögern entschlossen, ausgehend von meiner Erfahrung als Seminarleiter vor sechs Jahren, eine komplette Neuübersetzung des Gattopardo zu wagen – noch ohne zu wissen, ob sie zeitnah bei Piper oder erst 2028 in einem anderen Verlag erscheinen kann. Warum ich das für nötig halte, will ich im Folgenden darlegen.

Der Hauptgrund ist meine Überzeugung, dass die bisherigen deutschen Übersetzungen den hohen literarischen Wert dieses Romans nicht gebührend erkennen lassen, geschweige denn selber erreichen. Wäre ich nicht von diesem hohen Wert überzeugt, würde ich mich mit den Mängeln der deutschen Fassungen abfinden wie mit vielen anderen nicht so gelungenen Übersetzungen, die man wohl oder übel hinnimmt, zumal wenn man um die Schwierigkeiten des Übersetzens und die schwierige Lage der dieses Metier Betreibenden weiß. Doch die literarische Qualität dieses singulären Romans steht für mich außer Zweifel: Tomasi di Lampedusas Il Gattopardo ist alles andere als bloß das „Buch zum Film“, die literarische Vorlage der medienbedingt noch viel berühmteren Verfilmung von Luchino Visconti, als die er hierzulande gewöhnlich betrachtet wird (auch weil die Umschlagsgestaltung des Piper Verlags ihn bisher so präsentiert hat).

Schon seine originelle Erzählweise, die sich scheinbar an traditionellen Mustern des historischen Romans im 19. Jahrhundert orientiert (weshalb er anfangs in Italien als „rückwärtsgewandt“ abgelehnt wurde), tatsächlich aber mit allen modernen Mitteln der erlebten Rede im fließenden Übergang zum inneren Monolog operiert und die Erzählperspektive mehrfach bricht, stellt ihn auf eine Stufe mit den Klassikern der Moderne seit Proust und Joyce und Virginia Woolf (zu denen in Italien auch Svevo und Pirandello gehören). Hinzu kommt seine anspielungsreiche Wortwahl und seine geschliffene, von subtiler Ironie durchdrungene Syntax, die oft mit stereotypen Sprachmustern spielt, vom Salongerede des alten Adels über den Bürokratenjargon bis zum nationalistisch-progressistischen Politsprech der neuen Aufsteigerklasse. All diese Elemente sollten beim Übersetzen möglichst treu „herübergebracht“ werden, ohne dass es bemüht oder maniriert klingt – dies jedenfalls ist der Anspruch einer dem Original adäquaten Wiedergabe.

Wäre es bei der Erstübersetzung von Charlotte Birnbaum geblieben, hätte ich mich mit dem Anstreichen einiger besonders holpriger Stellen begnügen können, etwa bei dem berühmten Ausspruch Tancredis, der wie ein griffiger Slogan formuliert ist, bei ihr aber lautet: „Wenn wir wollen, daß alles bleibt wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich verändert“ (anstatt „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern“ – Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi), oder wenn sie den Fürsten, der sich im Gespräch mit Chevalley als membro della vecchia classe dirigente [Fußnote 3]Mitglied der alten herrschenden Klasse. bezeichnet, sagen lässt: „Ich als Glied des alten leitenden Standes“ – eine Wortwahl, in der noch die panische Angst der Fünfzigerjahre vor „marxistischem“ Vokabular mit anklingt. Im großen Ganzen ist die Erstübersetzung jedoch korrekt und sichtlich bemüht, die stilistischen Eigenheiten des Originals in Wortwahl und Syntax möglichst treu wiederzugeben (wobei die subtile Ironie allerdings meist auf der Strecke bleibt).

Anders steht es dagegen mit der 2004 erschienenen Zweitübersetzung, die meines Erachtens gründlich verfehlt und oft geradezu entstellend ist. Ich könnte seitenlang darlegen, was ich alles an ihr auszusetzen habe, im Ansatz und im Detail, beschränke mich hier aber pars pro toto auf das Augenfälligste. Es beginnt mit der krassen Fehlentscheidung des Titels Der Gattopardo, der originell sein will, aber nicht einmal den Mut aufbringt, dann wenigstens als Neuschöpfung „Der Gattopard“ (ohne -o) zu lauten, und der im übrigen nur außen auf dem Buch steht, innen ist aus gattopardo durchweg „Pardel“ oder „Pardelkatze“ geworden, aus dem Adjektiv gattopardesco sogar „pardelkatersch“ (sic), und im Superlativ redet der Fürst tatsächlich einmal „mit dem pardelkaterschsten Lächeln“! Es geht weiter mit den Bezeichnungen der Bewohner Palermos als „Palermer“ und der neuen Herren als „Piemonter“ samt den entsprechenden Adjektiven wie „palermisch“ (die man außer im Duden so gut wie nirgends in Büchern oder Printmedien findet – aber vielleicht sagt man ja demnächst auch „Florenzer“ und „venedigsch“…), es wimmelt von eins zu eins übernommenen französischen Fremdwörtern wie cacatoés (für Kakadus) oder jais (für Jett) sowie von extravaganten Fachausdrücken wie Ridikül (für Handtasche), Missale (für Messbuch), Perspektive (für Fernrohr) usw., neapolitanische Dialekteinsprengsel wie E e ’ppeccerelle che fanno? (etwa „Und was machen die süßen kleinen Mädels?“), Maccarrune e belle guaglione (etwa „Makkaroni und hübsche Gören“) werden unübersetzt übernommen, und sogar italienische Wörter wie Tancredis Anrede des Fürsten mit zione („großer Onkel“) bleiben unübersetzt, sodass sie für die meisten Deutschen unverständlich sind, und es endet noch lange nicht bei den vielen, leider sehr vielen Stellen, wo die Übersetzerin im Bemühen, sich durch griffige Wortwahl von ihrer Vorgängerin zu unterscheiden, weit übers Ziel hinausschießt (auf Bodenfliesen abgebildete nudità mitologiche sind „mythologische Nackedeis“, eine Statue der Göttin Flora stellt „verhärmt ihre Reize zur Schau“ (statt „resigniert“, rassegnata), der König steht in seinem Arbeitszimmer hinter einer „papiernen Abschrankung“ (statt „Absperrung aus Papierkram“, sbarramento di scartoffie), Concettas kleine Falte zwischen den Brauen ist ein „atavistisches Merkmal der Salina“ (statt „ererbtes Kennzeichen“, marchio atavico, oder kurz „Erbteil“), lauter Beispiele auf den ersten Seiten. Von dem bei der Volksabstimmung ermordeten Vertrauen in die Korrektheit der Auszählung, jenem „Neugeborenen“, wie es der Fürst in seinen Gedanken nennt, das am meisten hätte umsorgt werden müssen (che più si sarebbe dovuta curare), heißt es, es hätte „gehätschelt werden müssen“ – und so geht es weiter bis zum Ende. Die wunderbaren letzten Worte des Romans lauten in neumodischem Stummeldeutsch: „Dann fand alles Frieden in einem Häufchen fahlem Staub.“ Jawohl, fahlem, der Dativ ist dem Genitiv sein Tod… – und das am Ende eines derart subtil formulierten Romans!

ein älterer Mann sitzt am Rand einer Steinbank mit Zigarette in der Hand

Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Aber nicht nur die Wortwahl, auch der Satzbau (den eine Rezensentin von literaturkritik.de „beeindruckend“ findet [Fußnote 4]http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7735&ausgabe=200501) und allgemein die Stilsicherheit im Deutschen lassen zu wünschen übrig: Da geschieht etwas „nichtsdestotrotz“ (in einem Roman, der die vornehme Adelssprache des 19. Jahrhunderts imitiert!), Don Calogero „kommt die Treppe hinauf“ (statt „herauf“), und von dem Piemontesen Chevalley di Monterzuolo, der zu Besuch nach Donnafugata kommt, heißt es in verschlungener Syntax: „… und da die blutigen Anekdoten, die er in Girgenti hatte erzählen hören, das äußerst feindliche Aussehen des Dorfes, in dem er angekommen war, und die im Hof lagernden ›Schergen‹ (wie er glaubte) ihm Schre­cken einjagten, ging er, von widerstreitenden Ängsten gequält, zum Essen hinunter, einerseits von den Ängsten des in eine Umgebung Verschlagenen, die über seinen Gepflogenheiten steht, andererseits von denen des Unschuldigen, der in einen räuberischen Hinterhalt geraten ist.“ Eine leichter lesbare und dem Original angemessenere Übersetzung wäre hier: „… derweil jagten ihm die blutrünstigen Geschichten, die er in Girgenti gehört hatte, das über die Maßen trutzige Äußere des Städtchens, in das er gekommen war, und die im Hof lagernden ›Schergen‹ (wie er sie in seinen Begriffen nannte), weiterhin Schrecken ein, und so erschien er zum Abend­essen gemartert von den gegensätzlichen Ängsten des plötzlich in ein ungewohnt hochadeliges Milieu Geratenen und des unschuldig in die Hände von Räubern Gefallenen“ (… mentre gli aneddoti sanguinosi uditi raccontare a Girgenti, l’aspetto oltremodo protervo del paese nel quale era giunto, e gli “sgherri” (come pensava lui) accampati nel cortile gli incutevano spavento; in modo che scese a pranzo martoriato dai contrastanti timori di chi è capitato in un ambiente al di sopra delle proprie abitudini e da quelli dell’innocente caduto in un agguato brigantesco).

Wie gesagt, wenn es nicht um einen so ausgefeilten und wohlbedacht formulierten Roman ginge, mit dessen knapp 300 Seiten der Autor die letzten drei Jahre seines Lebens verbracht hat (nachdem er sich 25 Jahre lang innerlich darauf vorbereitet hatte), könnte man solche Unbeholfenheiten und Fehlgriffe tolerieren, sie kommen ja öfter in Übersetzungen vor. Aber hier kann man das nicht. Der Gattopardo muss neu übersetzt werden, damit endlich auch im Deutschen erkennbar wird, welchen Rang er nicht nur wegen seiner Thematik, sondern auch als literarisches Kunstwerk hat. Und beginnen muss diese Arbeit mit einem Befreiungsschlag, nämlich mit der Nichtbeachtung jener bizarren These der neunziger Jahre, nach der es sich bei dem titelgebenden gattopardo, den der Autor als Wappentier der Familie Salina gewählt hat, nicht um einen Leoparden wie im Wappen der Familie Lampedusa handle, sondern um eine kleinere Raubkatze, einen afrikanischen Serval oder Ozelot, auch Pardelkatze genannt, und daher verberge sich in dieser Namenswahl eine ironische Anspielung auf den Machtverfall des Fürsten. [Fußnote 5]So trug die Rezension von Georg Sütterlin in der Neuen Zürcher Zeitung vom 7. August 2004 den Titel „Der Leopard dankt ab“. Im Buch ist davon nirgendwo etwas zu spüren, im Gegenteil, der gattopardo wirkt dort eher löwenähnlich, und Don Fabrizio fühlt sich ja manchmal expressis verbis als Löwe, etwa beim Einzug in den Dom von Donnafugata oder auf dem Ball beim Tanz mit Angelica. Das Wappen der Familie Lampedusa zeigt einen hochaufgerichteten Leoparden mit Löwenmähne und Krone, und den hat der Autor einfach (und einfallsreich) mit einem erfundenen „Gattopardo“ vertauscht. Der Name ist außerhalb dieses Romans nirgendwo in der italienischen Literatur zu finden [Fußnote 6]Die vielbändige Enciclopedia Italiana di scienze, lettere e arti des Istituto G. Treccani von 1932 kennt ihn gar nicht, die späteren Enzyklopädien verweisen als Quelle – wenn sie überhaupt eine nennen – nur auf Lampedusas Roman., es handelt sich ganz offensichtlich um eine Kreation des Autors, basierend auf dem sizilianischen Dialektwort gattu­pardu (oder auch attupardu ohne g) für ital. leopardo [Fußnote 7]Dieser Ansicht ist übrigens auch Gioacchino Lanza Tomasi, der Adoptivsohn des Autors und Herausgeber der erweiterten Neuausgabe von Il Gattopardo, Feltrinelli 2002., die der Autor ähnlich stellvertretend verwendet, wie er die Insel Lampedusa durch die äolische Insel Salina ersetzt hat (die etwas größer als Lampedusa ist – mit gleicher Logik könnte man also hierin womöglich eine versteckte Anspielung auf Größenwahn sehen…). Ein Tier namens „gattopardo“ gab und gibt es jedenfalls weder auf Sizilien noch sonst irgendwo auf der Welt, wie der Historiker Wilhelm Bringmann sehr richtig schreibt [Fußnote 8]Auf der Spur des „Gattopardo“. Historische Fakten und Hintergründe zu Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“, WiKu-Verlag, Duisburg & Köln 2008, S. 15. – in Sizilien gibt es keinen Serval, und dort, wo es ihn gibt, heißt er nicht „gattopardo“. Wollte man diese Kreation im Deutschen nachbilden, müsste man vielleicht so etwas wie „Katzopard“ erfinden, jedenfalls etwas, das sich zu Leopard ebenso analog verhält wie italienisch gatto- zu leopardo. Bei einer Erstübersetzung wäre solch eine Krea­tion, wenn überhaupt, vielleicht gerade noch möglich gewesen, aber nachdem der Roman nun seit bald sechs Jahrzehnten – auch durch die Verfilmung 1963 – weltweit unter dem Titel „Der Leopard“ bekannt ist, würde sie keinerlei Erkenntnisgewinn bringen, sondern nur als krasser Fehlgriff erscheinen.

Hilfreich ist mir beim Neuübersetzen auch immer wieder die 1960 erschienene englische Fassung von Archibald Colquhoun, den ich schon als Übersetzer von Alessandro Manzonis großem Roman I promessi sposi [Fußnote 9]Engl. The Betrothed, dt. Die Brautleute. kennen- und schätzen gelernt habe und der in einer Translator’s Note zu seiner The Leopard betitelten Ausgabe schreibt: „The Italian is so full of subtle word-play and irony both delicate and grandiose that at times I felt myself coping with some of the most allusive prose written since Manzoni.“ Mit englischen Übersetzungen als Inspirationsquelle und/oder Bestätigungsfundus für eigene Intuitionen hatte ich schon früher gute Erfahrungen gemacht, besonders beim Übersetzen von Italo Calvino. Gerade bei anspruchsvoller Prosa staune ich immer wieder, wie genau und nahezu verlustfrei – jedenfalls wenn Könner am Werk sind – sich italienische Texte ins Englische übersetzen lassen, sogar noch besser als in das viel näher verwandte Französische. Der Grund ist vermutlich die strukturelle Doppelnatur des Englischen als sowohl germanische wie romanische Sprache und vor allem der Umstand, dass beide Sprachen, das Englische wie das Italienische, nicht nur über einen besonders reichen Wortschatz verfügen, sondern auch in ihren syntaktischen Mög­lichkeiten flexibler als die meisten anderen westeuropäischen Sprachen sind und daher einander gerade im Satzbau und Periodengefüge sehr gut imitieren können, ohne dass es unnatürlich oder affektiert klingt.

Das zeigt sich auch in der englischen Fassung von Lampedusas Roman, und dafür möchte ich hier zum Abschluss noch ein Beispiel zitieren, in dem es nicht nur um die richtige Wortwahl, sondern um die Wortfolge geht, also um die Art, wie die Sprachbilder aufgebaut und miteinander verknüpft werden. Es handelt sich um das Ende des 4. Kapitels, einen jener textlichen Eckpfeiler, an denen sich der Roman zu besonders prägnanten Formulierungen steigert, um mit wenigen Strichen ein tiefenscharfes Bild zu zeichnen.

Geschildert wird die Abreise des Piemontesen Chevalley am frühen Morgen, nach seinem langen Abendgespräch mit dem Fürsten über Politik und Sizilien.

Im Original lautet die Stelle:

Si ringraziarono scambievolmente, si salutarono. Chevalley s’inerpicò sulla vettura di posta, issata su quattro ruote color di vomito. Il cavallo, tutto fame e piaghe, iniziò il lungo viaggio. Era appena giorno; quel tanto di luce che riusciva a trapassare il coltrone di nuvole era di nuovo impedito dal sudiciume immemoriale del finestrino. Chevalley era solo; fra urti e scossoni si bagnò di saliva la punta dell’indice, ripulí un vetro per l’ampiezza di un occhio. Guardò; dinanzi a lui sotto la luce di cenere, il paesaggio sobbalzava, irredimibile.

Eine wortwörtliche Übersetzung wäre etwa:

Sie bedankten sich wechselseitig, verabschiedeten sich. Chevalley rankte sich hinauf in die Postkutsche, [die war] gehisst auf vier Räder [in der] Farbe von Erbrochenem. Das Pferd, ganz Hunger und Wunden, begann die lange Reise. Es war kaum Tag; jenes bißchen Licht, dem es gelang, die dicke Wolkendecke zu durchdringen, war von neuem behindert durch den unvordenklichen Schmutz des Fensterchens. Chevalley war allein; zwischen Stößen und heftigen Erschütterungen benetzte er sich mit Speichel die Spitze des Zeigefingers, reinigte eine Scheibe für die Weite eines Auges. Er schaute; vor ihm, unter dem Licht von Asche, sprang die Landschaft auf und nieder, unerlösbar.

Archibald Colquhoun (1960):

They thanked each other and said good-bye. Chevalley hoisted himself up on the post-carriage, propped on four wheels the color of vomit. The horse, all hunger and sores, began its long journey. Day had just dawned; the little light that managed to pass through quilted clouds was held up once more by the immemorial filth on the windows. Chevalley was alone; amid bumps and shakes he moistened the tip of his index finger with saliva and cleaned a pane for the width of an eye. He look­ed out; in front of him, under the ashen light, the landscape lurched to an fro, irredeemable.

Worauf kommt es bei einer Übersetzungs ins Deutsche hier besonders an? Ich denke auf folgendes:
1.) Der zweite Satz endet mit einer krassen, geradezu verstörenden Aussage, nämlich dass die Räder der Postkutsche „die Farbe von Erbrochenem“ haben. Daher sollte er auch genau mit dieser Aussage enden, ohne dass noch etwas nachklappt, bloß weil die deutsche Syntax das angeblich erfordert.
2.) Im dritten Satz wird der Schmutz auf dem Fenster als „immemoriale“ bezeichnet; dabei handelt es sich, wie das sehr nützliche Glossario de „Il Gattopardo“ der Dante-Gesellschaft Ottawa vermerkt [Fußnote 10]http://www.danteottawa.ca/caffe-letterario-mobirise/gattopardo-glossario-mbr.html, um einen juristischen Terminus für eine Sachlage, deren Ursprung so weit zurückliegt, dass er sich der Erinnerung (memoria) entzieht, sprich: dass man sich nicht mehr an ihn erinnern kann. Auf den Schmutz an der Scheibe angewandt, ist dieses Adjektiv also deutlich ironisch gemeint. Die Wörterbücher übersetzen es meist mit „unvordenklich“, aber hier wäre eine kreative Lösung sicherlich besser.
3.) Am Schluss – und damit am Ende dieses Kapitels – steht das sehr auffällige Adjektiv irredimibile (= engl. irredeemable), wörtlich „unerlösbar“, das zwar im übertragenen Sinn auch „unheilbar“ oder „hoffnungslos“ heißen kann, aber hier unbedingt wörtlich übersetzt werden sollte, da es sich unterschwellig, aber für italienische Ohren gut hörbar, auf die politische Bewegung des „Irredentismus“ bezieht (die hier am besten in einem Kommentar erklärt werden sollte).

In Charlotte Birnbaums Erstübersetzung von 1959 lautet die Stelle:

Man bedankte sich beieinander, man nahm Abschied. Chevalley kletterte auf die Postkutsche; sie war auf vier Räder aufgesetzt, die grünlichgelb aussahen wie Erbrochenes. Das Pferd, nichts als Hunger und Wunden, begann die lange Reise. Es wurde eben Tag; das schwache Licht, das die gesteppte Decke der Wolken zu durchdringen vermochte, war in seinem weiteren Weg wieder behindert von dem unvorstellbaren Schmutz der Kutschfenster. Chevalley befand sich allein; unter Schütteln und heftigen Stößen feuchtete er die Spitze des Zeigefingers mit Speichel an und putzte an der Scheibe eine augengroße Stelle. Er sah hinaus: vor ihm, unter dem aschfarbenen Licht, schaukelte die Landschaft auf und nieder – dieses Land ohne Erlösung.

Giò Waeckerlin Indunis Zweitübersetzung von 2004 hat dafür:

Sie bedankten sich höflich gegenseitig, verabschiedeten sich. Chevalley kletterte in die Postkutsche auf den vier hohen Rädern, die die Farbe von Erbrochenem hatten. Das Pferd, ganz Hunger und Wunden, trat seine lange Reise an. Es war noch kaum Tag; das bißchen Licht, dem es gelang, die Wolkendecke zu durchbrechen, wurde vom urvordenklichen (sic) Schmutz auf dem Wagenfenster abermals behindert. Chevalley war allein; inmitten von Stößen und Schlägen netzte er mit Speichel die Spitze des Zeigefingers, säubert die Scheibe ein Auge breit. Schaute; vor ihm hüpfte die Landschaft im aschenen Licht auf und ab, unerlösbar.

Und so werde ich diese Stelle wahrscheinlich übersetzen:

Sie dankten einander im Wechsel und verabschiedeten sich. Chevalley kletterte in die Postkutsche mit ihren vier hohen Rädern in der Farbe von Erbrochenem. Das ausgemergelte und zerschundene Pferd trat seine lange Reise an. Es tagte gerade, das wenige Licht, dem es gelang, die dichte Wolkendecke zu durchdringen, wurde erneut von dem uraltverkrusteten Schmutz auf der Fensterscheibe behindert. Chevalley war allein. Zwischen Gerüttel und heftigen Stößen benetzte er sich einen Finger mit Speichel und rieb sich ein augengroßes Loch auf der Scheibe frei. Er schaute hindurch: Vor ihm, unter dem aschgrauen Licht, zuckte die Landschaft auf und nieder, unerlösbar.

Zum letzten Wort – irredimibile – schreibe ich dann im Anmerkungsteil am Ende des Buches: Anspielung auf die nationalistische Bewegung des „Irredentismus“, die Italien als terra irredenta, „unerlöstes Land“ sah, dessen „Erlösung“ (redenzione) erst durch den Anschluss aller Gebiete mit italienischsprachiger Bevölkerung, wie Südtirol, Istrien, Dalmatien usw., erfolgen werde. Ein prominenter Vertreter dieser Bewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg im italienischen Faschismus aufging, war der Schriftsteller Gabriele D’Annunzio. Sizilien ist jedoch, so suggeriert das hier auffällig ans Kapitelende gesetzte Wort, in jedem Fall „unerlösbar“.

*

Inzwischen hat der Piper Verlag sich dankenswerterweise dazu entschlossen, meine Neuübersetzung im nächsten Jahr – genau sechzig Jahre nach der Erstübersetzung von Charlotte Birnbaum – unter dem Titel „Der Leopard“ zu veröffentlichen.