Anlässlich der Verleihung des 10. Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung

von Paul-Henri Campbell

Lieber Franz Josef Czernin,
meine Damen und Herren,

die Stadt, das Festival, eine Jury – jene also, die einen Sonderpreis verleihen, diese Menschen haben mehr zu geben; verfügen über ein Übermaß an Ehrung, legen nieder ein tieferes Füllhorn an Tribut als andere! Und das – meine Damen und Herren – ist sehr gut.

Paul-Henri Campbell

Fotograf: Erich Malter

Literatur ist ja keine Hausaufgabe, keine Pflichtübung. Wir ehren Literatur für ihre Weite und ihre Wirkung, ihren Eindruck auf uns – für ihren olympischen Blick, für ihren Offenbarungscharakter, für ihren unwiderstehlichen Magnetismus. Aber wie entsteht eine solche Weite, woher also vor allem diese Preiswürdigkeit?

Wir ehren schließlich Autorinnen und Autoren, setzen ihnen Denkmäler und loben Preise aus, weil sie die Literatur produzieren, die wir lesen wollen, und weil wir dadurch im Spiegel dieser Literatur auch uns selbst ehren. Der Adel des Poeten Franz Josef Czernins führt auch zur Nobilitierung seiner Leserschaft.

Nicht unbedingt zu ihrer Besserung oder zu ihrer Erziehung, wohlgemerkt. Vielmehr prägt seine avantgardistische Sprachkunst unser Gemüt, schärft sie unsere Sensibilität, trägt sie bei zur Formierung von Haltung, Geist und Witz; und vielleicht am wichtigsten, stiftet die Czerninische Poesie die Chance, eine Welt der stummen Dinge zu übersetzen in eine sprechende Welt, die namenlose Welt zu überführen in eine bezeichnete Welt, die uns allen ermöglicht die Welt signifikant miteinander zu erleben. Franz Josef Czernin nennt dieses Mühen ums signifikante Miteinander, das Mühen ums Übersetzen – „anverwandeln“. Dazu gleich mehr.

Deshalb ist dieser heutige Preis – Sorry – Sonderpreis für Franz Josef Czernin so ein großer Anlass zur Freude, denn wem gebührt ein Sonderpreis mehr als diesem Sonderling hier! Unter den sonderbaren Poeten der Sonderbarste, das ist Franz Josef Czernin.

Meine lieben Damen und Herren, da Sie ja heute Abend Kompliz:innen dieser Ehrung und sonderbaren Preisung sind, könnten Sie sich zurecht fragen: Wie wird man bloß zu einem Sonderling? Außerordentlich, ja exzeptionell! Wie geht das?

Naja, zum einen, Franz Josef ist in Wien geboren. Und das allein ist für einen Menschen gewiss schon sehr sonderbar und wunderlich. Mit einem jüdischen und einem katholischen Großvater, eine Sippschaft zwischen Böhmen und Triest zusammengewürfelt, eine Nähe zur Industrie und dem Industrieadel – findet sich eine Familie nach dem 2. Weltkrieg in einer veränderten Welt zurecht. Es gibt damals noch die Netzwerke und Drehscheiben der alten Herrschaft, z.B. ein böhmischer Friseur nahe der Michaeler Kirche, der anstatt Rosenwasser zu zerstäuben, einfach in die Hände spuckt ums Haar zu glätten. Es gibt den Vater der früh stirbt. Es gibt die Mutter, die in Hietzing oder Ober-St. Veit um die Zukunft von Franz Josef und seinen Brüdern besorgt ist, aber geduldig bleibt. Es gibt ein Studium in den USA, in Indiana. Es gibt einen Bruder, der eine der ersten Diskotheken in der verhangenen Donaumetropole eröffnet. Es gibt den jungen Franz Josef, der seinem Bruder in dieser Diskothek aushilft. Es gibt Dante Alighieri und den Faust. Es gibt eine jahrzehntelang begonnene Dissertation. Es gibt einen vielseitigen Brief von Ernst Jandl, mit einer ausführlichen Rückmeldung zu ersten Gedichten. Es gibt die Galerie nächst St. Stephan in der Domgasse, wo sich Literaten treffen, bevor ein Literaturhaus oder die Alte Schmiede eröffnen. Es gibt ein Kloster auf Zeit bei den Zisterziensern im Stift Zwettl. Es gibt einen Mönch, der die Briefträgerin liebt—und ihren Hund. Es gibt die Sommer bei Verwandten im Salzkammergut. Es gibt dort die Begegnung mit Martin Mosebach, der eine entfernte Verwandte umwirbt. Es gibt die Standaushilfe bei Heimrad Bäckers Edition »neue texte« auf der Frankfurter Buchmesse. Es gibt eine liebeskranke, fluchtartige Bewegung von Wien weg nach Frankfurt am Main und eine mehrmonatige Wohngemeinschaft am Beethovenplatz mit genanntem Martin Mosebach sowie unvermeidbare Differenzen bei der gemeinsamen Platon Lektüre. Es gibt eine Rückkehr nach Wien. Es gibt ein Philosophiestudium. Es gibt eine Berghütte. Es gibt die Wiener Gruppe und ihre experimentelle Lyrik. Es gibt einen Sinn fürs Wesentliche. Es gibt den Freund Ferdinand Schmatz. Es gibt ein Literatenleben zwischen der Wiener Schleifmühlgasse und einem von fichtenbestandenen Hängen umgebenen Ort namens Freistritzwald. Es gibt den Attersee. Es gibt ein Forsthaus voller Bücher und Ateliers. Es gibt das Sonett. Es gibt die Liebe zu einer Malerin. Es gibt die Terzine. Es gibt das Schwammerlsammeln. Es gibt jahrzehntelanges Zusammenleben mit weiteren Künstlern in einem Tal der Steiermark. Es gibt die Sestine, und es gibt z.B. den Heimito von Doderer-Sonderpreis für literarische Essayistik.

… Wissen Sie, meine Damen und Herren, man kann nicht genau planen ein Sonderling zu werden, man kann lediglich alles daransetzen, es möglichst ungeschickt zu machen und mit etwas Glück auf diese Weise zu reüssieren.

Man kann also ein sonderbares Werk hervorbringen. Das hilft gelegentlich. Doch so wenig wir von einem sonderbaren Werk auf einen sonderbaren Autor schließen können, so wenig sich also von Mutterboden und Dünger auf die Blüte einer Pflanze schließen lässt, so sehr bedingt das eine das andere – und doch nicht. Was ist also ein sonderbares Werk? Und welche sonderbare Rolle spielt die Übertragung oder Übersetzung darin?

Der Literaturkritiker Thomas Poiss meinte anlässlich der Verleihung des Ernst Jandl Preises an Franz Josef Czernin im Jahre 2015 einmal:

Übersetzen, als Übertragung gefasst, ist eine besondere Form des Dichtens.

Thomas Poiss begreift, dass das Sonnet eine regelrechte Metapher fürs Übersetzen bei Czernin darstellt: Nicht nur als Form, sondern als dialogisches Prinzip. So beobachtet Poiss beispielsweise:

Die in Schwung gekommene Sonetten-Maschine dient nun dazu, die Sonette Goethes, Motive Dantes, Gedichte von Rudolf Borchardt, Peter Gan und anderen in seine eigene Dichtung zu übertragen und zugleich die Frage im Band natur-gedichte wieder aufzunehmen, wie Sprache und Nicht-Sprache […] sich zueinander verhalten.

Übertragen ist in der Tat eine sonderbare Form der Dichtung, besonders in Gestalt des Sonetts, dessen konstitutive Form nicht lediglich durch Metrum, Strophenbau und Reimschema gegeben wird, sondern hier als ein Verhältnis zweier Ausdrucksweisen, eine Proportion meint. Das Sonett ist insofern Abdruck eines Ringens um das Übertragen von einer Wirklichkeit in eine andere; es ist eine Kreuzung zweier Spezies von Autorschaft zu einem neuen Werk. Das gilt auch für die Terzine – etwa bei Dante.

Franz Josef Czernin

Fotograf: Erich Malter

In dem Essay „Worüber schreibe ich?“ formuliert Czernin einmal:

Manchmal stelle ich mir die Welt auch so vor: Lange schon, bevor ich begonnen habe, ich zu sagen und dabei mich selbst zu meinen, waren Dinge schon da, einander stoßend, einander reibend, aufeinander einwirkend, bis schließlich – sie verschränken sich immer vielfältiger ineinander – etwas entsteht, das ich sagen und sich selbst dabei meinen kann.

Franz Josef Czernin zentralisiert in seinem Werk den Begriff des Übersetzens oder Übertragens, weil für ihn die Dichtung im wesentlich das Auszeitigen, das Ausleben einer Beziehung meint. Die poetische Beziehung ist allerdings weder asymmetrisch noch symmetrisch, weder gleichberechtigt noch konkurrierend, sondern wandelt im Modus der Annäherung einerseits und die Verblüffung über die Andersartigkeit andererseits dahin. Die poetische Beziehung, die die Übertragung ist, ist bei Franz Josef Czernin, um es in einem Wort zu sagen, eine „Anverwandlung“.

Andere Kommentator:innen beschrieben dieses literarische Verfahren unlängst schon als einen exzessiven wie radikalen Umgang mit fremdem Sprachmaterial, einen Umgang, der sich von jedem Wort einer Vorlage leiten lässt, nicht um sich äquivalent zu verhalten, sondern um die Vorlage als Ansatz, Anlass, Anreiz, Antrieb, Anbeginn in einen neuen Text zu wandeln, Anverwandlung ist also das weitergetriebenen Spiel, das Vorgegebenes zu einer neuen Gabe macht.

Dieser spielerische Prozess kann sowohl als Übertragungen etwa der Sonette Shakespeares oder der Canti Dantes firmieren, oder, wie etwa in dem Band „zungenenglisch, visionen, varianten“ (2014), in Gestalt eines Deuteengels (angelus interpres) als ein Verhältnis von Erkenntnis und Wirklichkeit daherkommen, oder, wie in natur-gedichte (1996), als von stummen Wachsen und Gedeihen in ein singendes und sprechendes Florilegium münden.

Machen wir eine kurze Probe aufs Exempel anhand des 62. Sonetts von William Shakespeare. Beziehungsweise nehmen wir nur das erste Quartett, um eine Ahnung der Anverwandlung zu gewinnen. Im Original heißt es:

>> Sin of self-love possesseth all mine eye,
And all my soul, and all my every part;
And for this sin there is no remedy,
It is so grounded inward in my heart. <<

Aus z.B. der Feder Stefan Georges lautet diese Passage:

>> Der Eigenliebe Sünde hat jed Teil,
Mein Aug wie meine Seele in Gewalt –
Und wider diese Sünde ist kein Heil:
Sie hat im inneren Herzen festen Halt. <<

Wir haben es hier mit einer relativ nah am Original gehaltenen Nachdichtung zu tun. Bei Franz Josef Czernin hingegen passiert etwas gänzlich anderes. Dort wird das Quartett folgendermaßen ausgestaltet:

>> mein blick, so süß wie bös, ist von sich selbst besessen,
fesselt mich ganz, mit haut und haar in eignem sinn;
kein kraut gegen dies giften wächst, wie macht vermessen
mein fleck mich, blind, da ich, was blendet, selber bin. <<

Es gäbe über diese vier Zeilen so viel zu sagen. Ich möchte nur zwei Aspekte willkürlich hervorheben, die in meinen Augen besonders gelungene Anverwandlungen darstellen:

Zunächst finden wir die Wendung „sin of self-love“ also die Wurzelsünde der Superbia wird durch Czernin sowohl säkularisiert als auch dekonstruiert: »mein blick, so süß wie bös, ist von sich selbst besessen«; in der vierten Zeile anverwandelt Czernin Shakespeare „grounded in my heart“, die auf eine ontologisch-theologische Vorstellung der Einpflanzung im Grund des Daseins basiert, indem Czernin die elisabethanische Vorstellung stärker individualisiert und psychologisiert sowie metaphorisch der Blick-Metapher aus der ersten Zeile „all mine eye“ mit „blind“ bzw. „blendet“ erkenntnistheoretisch gewendet konfrontiert. Okay. Genug.

Was ich Ihnen an dem Sonderling Franz Josef Czernin zu zeigen hoffte, war dies: Sie sehen, gerade bei der Übersetzung kann die Untreue von höchstem Vorteil sein, denn – so notiert Czernin in einem Essay, den er seinen Shakespeare-Übertragungen beifügt:

So könnten das Original und die Übersetzung […], eine Brücke zwischen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Literatur errichten, indem das, was jeweils als heute zeitgemäße Literatur empfunden wird, durch die Augen eines vergangenen Zeitalters gesehen würde und, wie vage und ahnungsweise auch immer, durch die Augen eines zukünftigen. Das eigene literarische Zeitalter, und damit dessen Poetik oder Ästhetik, würde als Moment eines Umfassenderen erfahrbar und damit etwas von seinen Bedingungen, Bedingtheiten und Grenzen erkannt.

Es schwebt hier mit, dass das Übersetzen nicht nur eine Aktualisierung und Zugänglichkeit schafft, sondern auch eine Beziehung zwischen zwei Positionen etabliert, also eine Theorie von Tradierung und Medialität offenlegt. So markiert der Begriff der Anverwandlung einerseits die Autonomie der Übersetzung gegenüber dem Original. Andererseits anerkennt im Begriff Anverwandlung die Übersetzung die unverfügbare Gegebenheit des Originals.
Sie sehen, wir haben es mit einer sonderbaren Poetik zu tun. Wir haben es mit einer Praxis des Übersetzens zu tun, die auf einer Praxis des Dichtens als künstlerisches Spiel überhaupt fußt.

Und das ist alles sehr sonderbar – und deshalb, lieber Franz Josef, gratuliere ich Dir herzlich zu dieser gebührenden Ehre, diesem Sonderpreis auf dem Poet:innenfestival Erlangen 2023!

Vielen Dank.